Vor 125 Jahren wurde John Henry Newman zum Kardinal erhoben, Die Tagespost 17, (26.06.2004)
„Von Anfang an habe ich gegen ein großes Zeitübel gekämpft: seit dreißig, vierzig, fünfzig Jahren bemühe ich mich nach meinen besten Kräften, den Geist des Liberalismus im Religiösen abzuwehren.“ Dieses Wort stammt aus der bekannten Rede, die John Henry Newman hielt, als ihm am 12. Mai 1879 die Bulle mit der Ernennung zum Kardinal überreicht wurde. Im religiösen Liberalismus sah Newman den größten Feind des Christentums. Die Ernennung zum Kardinal war ihm deshalb ein willkommener Anlass, seine Überzeugung zu bekräftigen, dass die Kirche dringender denn je Streiter nötig habe, die den Kampf gegen den religiösen Liberalismus aufnehmen, „da er ein Irrtum ist, der leider die ganze Welt in seine Fallstricke zieht“. Der gläubige Einsatz für die geoffenbarte Wahrheit wider den Zeitgeist zieht sich wie ein roter Faden durch Newmans Leben und Wirken. Gerade darin ist uns der englische Theologe, den Papst Leo XIII. vor 125 Jahren in den Rang der Purpurträger erhoben hat, ein großes Vorbild.
Die Heilige Schrift als Quelle ethischer Grundsätze
Schon als Jugendlicher besaß Newman, der am 21. Februar 1801 in London geboren wurde und in einer anglikanischen Familie aufwuchs, einen Sinn für Religion, der sich vor allem in der Liebe zur Heiligen Schrift zeigte. In der Bibel fand er ethische Grundsätze, die ihm einsichtig waren. Was ihm damals aber fehlte, waren echte Glaubensüberzeugungen. So hatte er auch bald mit Versuchungen zum Unglauben zu kämpfen und fühlte sich zu einem Humanismus ohne Gott hingezogen. Ein Gentleman wollte er sein, aber kein Gottgläubiger. „Ich erinnere mich des Gedankens, ich möchte wohl tugendhaft sein, aber nicht religiös. Es lag etwas in der Vorstellung des letzteren, das ich nicht mochte. Auch hatte ich nicht erkannt, was es für einen Sinn hätte, Gott zu lieben.“
Inmitten dieser inneren Stürme kam es zur ersten Wende in seinem Leben, die er oft seine „erste Bekehrung“ nannte. Er musste damals die Sommerferien im Internat verbringen und las auf Anregung eines Lehrers das Buch „Die Macht der Wahrheit“ von Thomas Scott. Die Lektüre dieses Buches traf ihn mitten ins Herz und führte ihn zu einem lebendigen Glauben an die Gegenwart Gottes. „Ich ließ mich in dem Gedanken Ruhe finden, dass es zwei und nur zwei Wesen gebe, die absolut und von einleuchtender Selbstverständlichkeit sind: ich selbst und mein Schöpfer“. Dem Buch von Scott entnahm er zwei Worte, die wie ein Motto sein ganzes Leben durchziehen sollten: „Heiligkeit vor Frieden“ und „Wachstum ist der einzige Beweis des Lebens“.
Von dieser ersten Bekehrung an strebte Newman danach, der Wahrheit ohne Kompromiss zu folgen. „Als ich fünfzehn Jahre alt war (im Herbst 1816) ging in meinem Denken eine große Änderung vor sich. Ich kam unter den Einfluss eines bestimmten Glaubensbekenntnisses, und mein Geist nahm dogmatische Eindrücke in sich auf, die durch Gottes Güte nie mehr ausgelöscht und getrübt wurden.“
In der Folge wurden die großen christlichen Glaubenswahrheiten – die Menschwerdung Gottes, das Werk der Erlösung, die Gabe des Heiligen Geistes in der Kirche und im Glaubenden – in ihm mehr und mehr eine lebendige Wirklichkeit.
Nach Abschluss seiner Studien wurde Newman Professor in Oxford und bald darauf auch anglikanischer Geistlicher. In diesen Jahren kam er unter den Einfluss der hochkirchlichen Richtung des Anglikanismus, die sich vor allem an der alten Kirche orientierte. Er lernte die Kirchenväter kennen, die inmitten einer heidnischen Welt unerschrocken und mutig für den Glauben eingetreten waren. Zugleich sah er mit großer Sorge, dass liberale Strömungen in Oxford und in ganz England zunehmend an Einfluss gewannen – mit der Folge, dass man den Glauben immer mehr aus dem öffentlichen Leben verdrängte, ihn seines Wahrheitsanspruchs beraubte und zu einer Sache der subjektiven Meinung, des persönlichen Geschmacks machte.
Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, rief Newman zusammen mit einigen Freunden 1833 die Oxford-Bewegung ins Leben. Die führenden Männer dieser Bewegung waren davon überzeugt, dass England vom Glauben abgefallen war und einer „zweiten Reformation“ bedurfte – einer tiefgehenden dogmatischen, liturgischen und geistlichen Erneuerung im Geist der alten Kirche. Das Grundprinzip der Oxford-Bewegung fasste Newman so zusammen: „Mein Kampf galt dem Liberalismus. Unter Liberalismus verstehe ich das antidogmatische Prinzip mit allen seinen Konsequenzen. Von meinem fünfzehnten Lebensjahr an war das Dogma das Fundamentalprinzip meiner Religion; eine andere Religion kenne ich nicht; den Begriff einer anderen Religion kann ich mir nicht denken; Religion als bloßes Gefühl ist für mich Traum und Blendwerk. Man könnte ebensogut von Kindesliebe ohne Eltern sprechen, als von Frömmigkeit ohne die Tatsache eines höchsten Wesens.“
Durch die Veröffentlichung von „Tracts“ – Flugschriften, die wie Blitze aus heiterem Himmel einschlugen – wollten die Führer der Oxford-Bewegung die Gewissen der Geistlichen wie auch der einfachen Gläubigen aufrütteln. Newman wusste, dass sein Kampf gegen den Zeitgeist nur dann Aussicht auf Erfolg hatte, wenn er ein festes Fundament unter den Füßen hatte. Dieses Fundament fand er in den Schriften der Kirchenväter, die er als die wahren Zeugen und Lehrer des christlichen Glaubens liebte und verehrte.
Um dem Anglikanismus eine festere theologische Grundlage zu geben, entwickelte Newman die Theorie der Via media. Damit wollte er zeigen, dass die anglikanische Gemeinschaft – in Abgrenzung zum Protestantismus, der Wahrheiten des Glaubens aufgegeben hatte, und dem Katholizismus, der neue Wahrheiten hinzugefügt hatte – als Via media das Erbe der alten Kirche in Treue wahrte. Beim Studium der alten Kirchengeschichte machte er aber eine Entdeckung, die ihn erschütterte. Zwischen den Arianern und Rom hatte es schon im vierten Jahrhundert eine Via media gegeben: die Semi-Arianer. Die Wahrheit lag jedoch nicht bei ihnen, sondern auf der Seite Roms. Die Theorie der Via media brach wie ein Kartenhaus zusammen.
Dogmen sind keine Verunstaltungen des Glaubens
In der Folge zog sich Newman nach Littlemore, einem kleinen Dorf bei Oxford, zurück, um in Gebet und Studium nach der wahren Kirche zu suchen. Vor allem eine Frage beschäftigte ihn: Wenn die römisch-katholische Kirche in der apostolischen Sukzession ist, wie kann man dann die Lehren rechtfertigen, die scheinbar nicht zum Glaubensgut der alten Kirche gehören? Die Antwort auf diese Frage fand er während seiner Arbeit an der Studie über die Entwicklung der Glaubenslehre: Die neueren Dogmen der katholischen Kirche sind keine Verunstaltungen des Glaubens, sondern authentische Entwicklungen der von Gott geschenkten Offenbarung.
Diese Studie über die Lehrentwicklung, ein theologisches Meisterwerk, enthält einen Abschnitt, in dem Newman das Grundprinzip im Kampf gegen den religiösen Liberalismus auf den Punkt bringt: „Dass es also eine Wahrheit gibt; dass es nur eine Wahrheit gibt; dass religiöser Irrtum an sich unmoralischer Natur ist; dass, wer ihn vertritt – es sei denn unfreiwillig –, sich dadurch schuldig macht; dass das Forschen nach der Wahrheit keine bloße Befriedigung der Neugier ist; dass ihre Erlangung nichts von der Erregung einer Entdeckung hat; dass der menschliche Geist der Wahrheit unterworfen ist, nicht über sie herrscht; dass er verpflichtet ist, statt großspurig über sie zu reden, ihr in Ehrfurcht zu begegnen; dass Wahrheit und Falschheit uns zur Prüfung unserer Herzen vorgesetzt werden; dass unsere Wahl ein schaudererregendes Auswerfen der Lose ist, auf denen Errettung oder Verwerfung geschrieben steht; dass es vor allen Dingen notwendig ist, den katholischen Glauben zu halten, das ist das dogmatische Prinzip, ein Prinzip voller Kraft“.
Je weiter Newman in seiner Studie über die Entwicklung der Glaubenslehre voranschritt, desto klarer erkannte er, dass die Kirche Roms die Kirche der Väter und damit die Kirche Jesu Christi ist. In der Apologia pro vita sua schrieb er darüber: „Ich wurde zu einer genauen Prüfung der Verkettung der Argumente veranlasst, die den Geist von den einfachen bis zu den letzten religiösen Wahrheiten fortleiten, was mich zweifellos schon lange vorher beschäftigt hatte; und ich kam zu dem Schluss, dass es in der wahren Philosophie kein Mittelding zwischen Atheismus und Katholizismus gebe, und dass ein vollkommen konsequenter Geist unter den Umständen, in denen er hienieden lebt, sich entweder zum einen oder zum anderen bekennen müsse“. Am 9. Oktober 1845 konvertierte Newman zur katholischen Kirche, die er als „die eine Herde des Erlösers“ erkannt hatte. Auf Grund seiner Liebe zur Wahrheit und seiner Bereitschaft, dem Ruf des Gewissens ohne Wenn und Aber zu folgen, ist er eine eminent ökumenische Gestalt.
Bald nach der Konversion wurde Newman zum katholischen Priester geweiht und gründete das Oratorium des heiligen Philipp Neri in England. In seinen vielfältigen Aufgaben als Seelsorger und Theologe bemühte er sich nach Kräften um die intellektuelle und geistliche Bildung der Katholiken, vor allem der Konvertiten. Er war davon überzeugt, dass die Gläubigen für die kulturellen und gesellschaftlichen Herausforderungen der Moderne gewappnet werden mussten. Sie sollten den Glauben wirklich kennen. Sie sollten fähig sein, ihn auch zu verteidigen.
Neben vielen anderen Werken veröffentlichte er 1870 seine umfangreiche Studie über die Zustimmungslehre. In diesem Buch, ebenfalls ein Klassiker, analysiert er den Akt, mit dem der menschliche Geist der Offenbarung zustimmt. Er zeigt, wie der Mensch – auch der einfache Christ – in Fragen des Glaubens zur Gewissheit kommt. Der Schlussteil dieses Buches enthält einen Abschnitt, in dem er „Beweise“ für die geoffenbarte Wahrheit in Konfrontation mit der natürlichen Religion, den Verheißungen des Volkes Israel und den Religionen im römischen Reich darlegt. Dieser Abschnitt ist fast so etwas wie eine moderne Apologetik des Christentums inmitten einer zunehmend pluralistischen und multireligiösen Kultur.
„Die natürliche Religion ist auf das Sündenbewusstsein gegründet; sie erkennt die Krankheit, aber sie kann nach dem Heilmittel nur ausschauen, sie kann es nicht finden. Dieses Heilmittel sowohl für die Schuld als auch für das sittliche Unvermögen findet in der zentralen Lehre der Offenbarung, dem Mittleramt Christi, seine Lösung. Daran liegt es, dass das Christentum die Erfüllung der dem Abraham gegebenen Verheißung und der messianischen Offenbarung ist; das erklärt, wie es von Anfang an imstande gewesen ist, die Welt in Besitz zu nehmen und in jeder Klasse der menschlichen Gesellschaft Fuß zu fassen, zu der seine Prediger vorgedrungen sind; das erklärt, warum die römische Macht und die Menge der Religionen, die sie umfasste, ihm nicht standhalten konnten; das ist das Geheimnis seiner fortdauernden Energie und seines nie erschlaffenden Märtyrertums; das erklärt, warum es auch heute noch in so geheimnisvoller Weise mächtig ist, trotz der neuen und schrecklichen Gegner, die seinen Pfad umlagern. Es führt jene Gabe mit sich, die eine tiefe Wunde der menschlichen Natur zu schließen und zu heilen vermag – eine Gabe, die mehr für seinen Erfolg arbeitet als eine ganze Enzyklopädie wissenschaftlicher Erkenntnis und eine ganze Kontroversbibliothek; und darum muss es fortbestehen, solange die menschliche Natur fortbesteht. Es ist eine lebendige Wahrheit, die niemals alt werden kann.
Was uns mit dem Christentum verbindet, ist das Unsichtbare, nicht das Veraltete. Bis zum heutigen Tag rufen seine Riten und Bräuche das aktive Eingreifen jener Allmacht herbei, mit der die Religion vor langer Zeit begann. An erster und höchster Stelle steht die heilige Messe, in der er, der einst am Kreuz für uns starb, durch seine wörtlich zu verstehende Gegenwart in ihr dasselbe eine Opfer vergegenwärtigt und verewigt, das nicht wiederholt werden kann. Gleich danach kommt sein wirkliches Eintreten mit Seele und Leib und Göttlichkeit in die Seele und den Leib jedes Frommen, der zu ihm kommt, um diese Gabe zu erlangen – ein Privileg, viel inniger, als wenn wir mit ihm während seines lang vergangenen Verweilens auf der Erde lebten. Und dann sein persönliches Wohnen in unseren Kirchen, das den irdischen Dienst zu einem Vorgeschmack des Himmels erhebt. Das ist die Aufgabe des Christentums, und ich wiederhole: Gerade dass es unsere Bedürfnisse erahnt, ist an sich ein Beweis dafür, dass es ihre wirkliche Erfüllung ist.“
Newman erfasste die großen Herausforderungen unserer Zeit – zwischen Glaube und Unglaube, zwischen der christlichen Botschaft und dem aufkommenden Relativismus, der das Christentum zu einer von vielen Möglichkeiten auf dem Supermarkt der Religionen degradiert. Er versuchte, auf diese Herausforderungen zu antworten und den Menschen Hilfen zum Glauben anzubieten. Diesem Ziel dienen etwa seine hoch aktuellen Ausführungen über Glaube und Vernunft, über die Bedeutung des Dogmas, über die Sendung und die Unfehlbarkeit der Kirche, über die Rolle des Gewissens. Nicht ohne Grund wird Newman deshalb immer wieder „Kirchenvater der Neuzeit“ genannt.
Kritische Haltung zum religiösen Liberalismus
Bei der schon erwähnten Rede anlässlich der Ernennung zum Kardinal erneuerte Newman seine Kritik am Liberalismus in der Religion. Er beschrieb diese Mentalität damals mit Worten, die von geradezu prophetischer Bedeutung für unsere Zeit sind. Der religiöse Liberalismus ist „die Lehre, dass es keine positive Wahrheit in der Religion gibt, dass vielmehr ein Glaubensbekenntnis so gut ist wie das andere, und diese Lehre gewinnt täglich an Substanz und Kraft. Der Liberalismus widerspricht der Überzeugung, dass irgendeine Religion wahr ist. Er lehrt, dass alle toleriert werden müssen, dass jedoch alle Meinungssache sind. Die geoffenbarte Religion ist nicht Wahrheit, sondern Gefühl und eine Sache des Geschmackes, keine objektive Tatsache, nicht übernatürlich, und jeder Einzelne hat das Recht, sie das sagen zu lassen, was ihm passt. Frömmigkeit ist nicht notwendig auf Glauben gegründet. Die Menschen können in die protestantische oder in die katholische Kirche gehen; sie können in beiden Gutes empfangen und doch keiner angehören. Sie können sich anfreunden in geistlichen Gedanken und Gesinnungen, ohne irgendwelche gemeinsame Ansichten über die Lehre zu haben oder auch nur die Notwendigkeit dafür zu sehen.
Da demnach die Religion eine so persönliche Ansicht und eine so private Angelegenheit ist, müssen wir sie notwendigerweise im menschlichen Verkehr ausschalten. Wenn jemand jeden Morgen eine neue Religion annimmt, was geht das dich an? Über die Religion eines Menschen nachzudenken, ist ebenso anmaßend, wie sich um die Quellen seines Einkommens und die Führung seiner Familie zu kümmern. Religion ist in keiner Weise ein gesellschaftliches Band.“
Heute ist die von Newman kritisierte Mentalität zum allgemeinen Zeitgeist geworden. Wer an der Wahrheit der Offenbarung festhält und in der Öffentlichkeit dafür eintritt, muss damit rechnen, des Hochmuts, des Fundamentalismus und der Intoleranz gegenüber den anderen Religionen verdächtigt zu werden. Die Wahrheitsfrage wird im ökumenischen Gespräch und im interreligiösen Dialog nicht selten aus pragmatischen Gründen umgangen oder hintangesetzt. Es gibt heute ein neues Bedürfnis nach Spiritualität, die aber vom Glauben losgelöst wird und oft unverbindlich bleibt. Christliche Ausdrucksformen – man denke an das Kreuz – werden aus dem öffentlichen Leben verdrängt und der Glaube darf wiederum nur eine Privatsache sein.
Kardinal Newman ruft uns auf, keine Kompromisse mit dem Zeitgeist zu schließen, sondern mutig und im Vertrauen auf den, der die Welt besiegt hat, für den wahren Glauben einzutreten. Denn auch heute ist die Wahrheit der Offenbarung ein unersetzlicher Schatz, der im Glauben angenommen, in Freude gelebt, mit Freimut verkündet und nach besten Kräften verteidigt werden muss.
Veröffentlicht siehe: http://www.die-tagespost.com/Archiv/titel_anzeige.asp?ID=9549
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