Der Unendliche allein kann das Maß des menschlichen Herzens sein. Er allein kann diesem geheimnisvollen Gewoge der Gefühle und Gedanken in unserem Innern ihre Beziehung geben. „Kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern alles liegt bloß und offen vor dem Auge dessen, dem wir Rechenschaft geben müssen“ (Hebr, 4,13).
Das ist gemeint, wenn wir vom Frieden eines guten Gewissens sprechen. Es ist das stete Empfinden, daß unser Herz vor Gott offen liegt, und ist der Wunsch, daß es ihm offenstehe. Es ist das Vertrauen zu ich, aus dem Gefühl, daß nichts in uns ist, dessen wir uns schämen oder weshalb wir erschrecken müßten – Du könntest einwenden, kein Mensch auf Erden sei in solchem Stande, denn wir haben alle gesündigt und sündigen täglich. Das stimmt; wir können gewiß nicht das alldurchdringende Auge Gottes ertragen, wir können nicht gleichsam in unmittelbare Berührung mit seiner Gegenwart kommen, ohne daß etwas dazwischen wäre, ein Mittel des wechselseitigen Zueinanders. Aber einmal läßt jenes Vertrauen in verschiedenen Menschen verschiedene Grade zu, wenn es auch vollendet in keinem vorkommt; und dann hat Gott, wie wir wissen, in seiner großen Barmherzigkeit uns geoffenbart, daß ein Mittler zwischen ihm und der sündigen Seele ist … und in dem Maße, wie jemand „in Christus“ und „durch ihn“, kann er es wagen, sein Herz Gott auszubreiten und zu wünschen, es möchte ihm offen liegen …
Vielleicht war es ein ähnliches Gefühl, aus dem Hagar die Worte sprach: „Du, o Gott, siehst mich“ (Gen 16,13). Aus diesem Empfinden mag David die Worte gesprochen haben: „Prüfe mich, Herr, versuche mich, durchglühe mir Nieren und Herz“ (Ps 25,3)…Besonders haben diese Gedanken in den Schriften des hl. Paulus Ausdruck gefunden; ihm war es offenbar ein inniges Bedürfnis, sein Inneres Gott zu erschließen, es vor seinem allschauenden Auge auszubreiten und auf seine Einkehr bei sich zu harren, mit anderen Worten, in der beglückenden Erfahrung des guten Gewissens zu leben: „Ich bin mit vollkommen gutem Gewissen vor Gott gewandelt bis auf den heutigen Tag“ (Apg 23,1) „Das ist unser Ruhm, das Zeugnis unseres Gewissens, daß wir in Einfalt des Herzens und Aufrichtigkeit vor Gott, nicht mit irdischer Weisheit, sondern in der Gnade Gottes hienieden gewandelt sind, ganz besonders bei euch“ (2 Kor 1,12) …
Anscheinend ist der Gedanke des Apostels ein ähnlicher, wenn er vom „Zeugnis des Geistes“ redet; er meint wohl damit die Genugtuung und innere Ruhe, welche die Seele in dem Maße erfährt, wie sie imstande ist, sich ganz Gott hinzugeben, und kein Verlangen, kein Ziel hat, als ihm zu gefallen … Das ist jener überreiche Friede, den eben nur Gott zu schenken vermag. In dem Maße, wie wir uns von der Liebe zur Welt gelöst haben und dem Geschöpflichen abgestorben sind, in dem Maße, wie wir wiedergeboren sind aus dem Geiste für die Liebe unseres Schöpfers und Herrn, schließt diese Liebe, indem sie unser Herz erfüllt, ein besonderes Selbstbewußtsein ein: „Der Geist gibt unserem Geiste Zeugnis“, sagt der Apostel, „daß wir Kinder Gottes sind“ (Röm 8,16) ..
So besteht unser Glück in der inneren Anschauung Gottes; denn sie allein ist imstande, uns immer und überallhin zu begleiten, weil nur Gott uns immer und überall gegenwärtig sein kann.
aus: John Henry Newman, Christliches Reifen, Texte zur religiösen Lebensgestaltung, gesammelt, eingeleitet und übertragen von O. Karrer, Einsiedeln, Köln 1954, pp 36-38.