Newman gehört zu den großen Lehrern der Kirche

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Vortrag von Joseph Kardinal Ratzinger (Papst Benedikt XVI.)

Am 15. Mai 1879 hat Papst Leo XIII. den berühmten englischen Theologen John Henry Newman zum Kardinal erhoben und so dessen außergewöhnliche Verdienste für die Kirche in England und weit darüber hinaus gewürdigt. Zum Gedenken an dieses Ereignis veröffentlichen wir eine Ansprache, in der Kardinal Joseph Ratzinger – jetzt Papst Benedikt XVI. – seinen persönlichen Zugang zu Newman dargelegt und die Bedeutung dieses großen Lehrers der Kirche für unsere Zeit unterstrichen hat. Er hielt die Ansprache bei einem Symposium anlässlich des 100. Todestages von Newman im Jahr 1990. Dieses Symposium wurde vom Internationalen Zentrum der Newman-Freunde in Rom organisiert, das von Mitgliedern der geistlichen Familie „Das Werk“ geleitet wird.

Als ich im Januar 1946 in dem nach den Kriegswirren endlich wiedereröffneten Freisinger Priesterseminar mein Studium der Theologie beginnen konnte, fügte es sich, daß unserer Gruppe ein älterer Student als Präfekt zugeteilt wurde, der noch vor Kriegsbeginn an einer Dissertation über Newmans Theologie des Gewissens zu arbeiten begonnen hatte. In all den Jahren seines Einsatzes im Krieg hatte er dieses Thema nicht aus den Augen verloren, das er nun mit neuer Begeisterung und Energie aufgriff. Schon bald verband uns persönliche Freundschaft, die ganz um die großen Probleme der Philosophie und der Theologie kreiste. Dass Newman dabei immer gegenwärtig war, versteht sich von selbst. Alfred Läpple – er war der genannte Präfekt – hat dann 1952 seine Dissertation unter dem Titel „Der einzelne in der Kirche“ veröffentlicht; leider ist der dort angekündigte zweite Band bisher ungedruckt geblieben.

Newmans Lehre vom Gewissen wurde für uns damals zu einer wichtigen Grundlegung des theologischen Personalismus, der uns alle in seinen Bann zog. Unser Menschenbild wie unser Bild von der Kirche wurde von diesem Ausgangspunkt her geprägt. Wir hatten den Anspruch einer totalitären Partei erlebt, die sich selbst als die Erfüllung der Geschichte verstand und das Gewissen des einzelnen negierte; einer ihrer Führer hatte gesagt: „Ich habe kein Gewissen! Mein Gewissen ist Adolf Hitler“[1]. Die ungeheure Verwüstung des Menschen, die daraus folgte, stand uns vor Augen. So war es für uns befreiend und wesentlich zu wissen, dass das Wir der Kirche nicht auf dem Auslöschen des Gewissens beruhte, sondern genau umgekehrt sich nur vom Gewissen her entwickeln kann. Gerade weil Newman die Existenz des Menschen vom Gewissen her, das heißt im Gegenüber von Gott und Seele deutete, war aber auch klar, dass dieser Personalismus kein Individualismus ist und dass die Bindung an das Gewissen keine Freigabe in die Beliebigkeit hinein bedeutet – das Gegenteil ist der Fall. Von Newman her lernten wir den Primat des Papstes verstehen: Gewissensfreiheit – so sagte uns Newman – ist nicht identisch mit dem Recht, „sich vom Gewissen zu dispensieren, einen Gesetzgeber und Richter zu ignorieren und von unsichtbaren Verpflichtungen unabhängig zu sein“. So ist Gewissen in seinem wahren Sinn Fundament der päpstlichen Autorität. Denn ihre Macht kommt aus der Offenbarung, die das nur unvollkommen erleuchtete natürliche Gewissen ergänzt, und „das Eintreten für das moralische Recht des Gewissens ist der Sinn seiner Existenz „[2].

Ich brauche wohl nicht eigens zu sagen, dass mir diese Gewissenslehre im Fortgang der Entwicklung von Kirche und Welt nun immer noch wichtiger geworden ist. Immer mehr sehe ich, wie sie sich ganz erst erschließt im Zusammenhang der Biographie des Kardinals, die wiederum nur zu verstehen ist im Kontext des geistigen Dramas seines Jahrhunderts und gerade so zu uns spricht. Newman war als Mann des Gewissens zum Konvertiten geworden; es war sein Gewissen, das ihn aus den alten Bindungen und Geborgenheiten herausführte in die für ihn schwierige und ungewohnte Welt des Katholizismus hinein. Aber gerade dieser Gewissensweg ist alles andere als ein Weg der sich selbst behauptenden Subjektivität: Er ist ein Weg des Gehorsams zur objektiven Wahrheit. Der zweite Schritt in Newmans lebenslangem Bekehrungsweg war ja die Überwindung der subjektiv-evangelikalen Position zugunsten einer auf die Objektivität des Dogmas gründenden Auffassung von Christentum.[3] Ich finde in diesem Zusammenhang immer noch und gerade heute höchst bedeutend eine Formulierung aus einer seinen frühen Predigten. Wahres Christentum… erweist sich im Gehorsam und nicht durch einen Bewusstseinszustand. „So ist die ganze Pflicht und Arbeit eines Christen auf diesen beiden Teilen aufgebaut, auf Glaube and Gehorsam; ‘er sieht auf Jesus‘ (Hebr. 2,9) … und handelt nach seinem Willen … Wir sind, scheint mir, heute in der Gefahr, auf keines von beiden Gewicht zu legen, wie wir sollten. Wir sehen alle wahre and sorgfältige Betrachtung des Glaubensinhalts als unfruchtbare Orthodoxie, technische Spitzfindigkeit… an, infolgedessen lassen wir… den Beweis unserer Frömmigkeit in dem Besitz eines so genannten geistlichen Gemütszustandes bestehen…“[4]. In diesem Zusammenhang sind mir einige auf den ersten Blick eher erstaunlich klingende Sätze aus „The Arians of the Fourth Century “ wichtig geworden: „Der Friede gründet sich in der Schrift darauf, sich dem Anspruch der Wahrheit als erste Autorität in allen Fragen des politischen and privaten Verhaltens zu unterwerfen; zu begreifen…, dass… der Eifer für die Wahrheit in der Reihenfolge der christlichen Tugenden vor der Güte steht“[5]. Für mich ist es immer wieder faszinierend zu sehen und zu bedenken, wie gerade so und nur so, durch die Bindung an die Wahrheit, an Gott das Gewissen Rang, Würde and Kraft bekommt. Ich möchte in diesem Zusammenhang nur noch einen Satz aus der Apologie anführen, der umgekehrt den Realismus dieses Konzepts von Person und Kirche zeigt: „Lebendige Bewegungen gehen nicht von Komitees aus“ [6].

Ganz kurz möchte ich noch einmal zum autobiographischen Faden zurückkehren. Als ich 1947 in München mein Studium fortsetzte, fand ich in dem dortigen Fundamentaltheologen Gottlieb Söhngen, der mein eigentlicher theologischer Lehrer wurde, einen belesenen und begeisterten Anhänger Newmans. Er erschloss uns die Grammar of Assent und mit ihr die besondere Weise und Gewissheitsform religiösen Erkennens. Tiefer noch wirkte auf mich der Beitrag, den Heinrich Fries im Zusammenhang des Jubiläums von Chalkedon veröffentlichte: Hier fand ich den Zugang zu Newmans Lehre von der Entwicklung, die ich neben seiner Gewissenslehre als seinen entscheidenden Beitrag zur Erneuerung der Theologie ansehe [7]. Mit ihr hat er uns den Schlüssel in die Hand gegeben, geschichtliches Denken in die Theologie einzubauen oder vielmehr: er hat uns gelehrt, Theologie geschichtlich zu denken und gerade so die Identität des Glaubens in allen Verwandlungen zu erkennen. Ich muss es mir hier versagen, diesen Gedanken weiter zu vertiefen. Mir scheint, dass Newmans Ansatz auch in der modernen Theologie noch nicht voll ausgewertet ist. Er birgt noch fruchtbare Möglichkeiten in sich, die der Entfaltung harren. An dieser Stelle möchte ich nur wieder auf den biographischen Hintergrund dieser Konzeption verweisen. Man weiß, wie Newmans Einsicht in den Entwicklungsgedanken seinen Weg zum Katholizismus geprägt hat. Aber dabei geht es nicht nur um eine Entfaltung von Ideen. Im Konzept der Entwicklung ist Newmans eigenes Leben im Spiel. Das scheint mir sichtbar zu werden in seinem bekannten Wort: „…leben heißt sich wandeln und vollkommen sein, heißt, sich oft gewandelt haben“[8]. Newman ist in seinem ganzen Leben ein Sich-Bekehrender gewesen, ein Sich-Wandelnder und so immer er selbst geblieben and immer mehr er selbst geworden.

Mir kommt hier die Gestalt des heiligen Augustinus in den Sinn, mit dem Newman so vieles verbindet. Als Augustinus sich im Garten zu Cassiciacum bekehrte, hatte er Bekehrung noch ganz im Schema des verehrten Meisters Plotin und der neu-platonischen Philosophen verstanden. Er dachte, nun sei das vergangene Sündenleben endgültig abgestoßen; der Bekehrte sei fortan ein ganz Neuer and anderer, und sein weiterer Weg sei ein unaufhaltsamer Aufstieg zu immer reinerer Höhe der Gottesnähe, etwa so wie Gregor von Nyssa es in seinem Aufstieg des Moses ausgelegt hat: „Genauso wie Körper, wenn sie den ersten Anstoß nach unten erhalten haben, auch ohne weitere Einwirkung von selbst in immer größerer Geschwindigkeit zur Tiefe stürzen…, so gerät umgekehrt die Seele, die sich von der irdischen Leidenschaft gelöst hat, in eine schnellstürzende Aufwärtsbewegung.., erhebt sich ständig über sich… in stetig aufwärtsstrebendem Flug“[9]. Die reale Erfahrung Augustinus war eine andere: Er musste lernen, dass Christsein immerfort ein mühsamer Wanderweg ist mit all seinen Höhen und Tiefen. Das Bild des ascensus wird von dem des iter abgelöst, in dessen ermüdender Schwere uns die Augenblicke des Lichtes trösten und tragen, die wir dann und wann empfangen dürfen. Bekehrung ist iter – Weg eines ganzen Lebens [10]. So ist Glaube immer „development“ und gerade auf diese Weise Reifen der Seele zur Wahrheit, zu Gott, der uns innerlicher ist als wir uns selbst. Newman hat in der Idee der Entwicklung die eigene Erfahrung einer nie abgeschlossenen Bekehrung ausgelegt und uns darin nicht nur den Weg der christlichen Doktrin, sondern den des christlichen Lebens interpretiert. Das Kennzeichen des großen Lehrers in der Kirche scheint mir zu sein, dass er nicht nur durch sein Denken und Reden lehrt, sondern mit seinem Leben, weil Denken und Leben sich in ihm gegenseitig durchdringen und bestimmen. Wenn es so ist, dann gehört Newman zu den großen Lehrern der Kirche, weil er zugleich unser Herz berührt und unser Denken erleuchtet.


[1] Ein Wort von Hermann Göring, zitiert bei Th. Schieder, Hermann Rauschnings „Gespräche mit Hitler“ als Geschichtsquelle. Opladen 1972 S. 19 Anm. 25.
[2] J.H. Newman, Difficulties felt by Anglicans in Catholic Teaching II 247f; 250; 253.
[3] Vgl. die sorgsame Darstellung dieses Weges bei Ch. St. Dessain, John Henry Newman. Anwalt redlichen Glaubens. Freiburg 1980; vgl. auch G. Biemer, J.H. Newman. 1801-1890. Leben und Werk. Mainz 1989.
[4] J. H. Newman, Parochial and Plain Sermons II 153f; vgl. Dessain, a.a.O. 82.
[5] 243f; Dessain 70.
[6] J.H. Newman, Apologia pro Vita Sua S. 39.
[7] H. Fries, Die Dogmengeschichte des fünften Jahrhunderts im theologischen Werdegang von J. H. Newman, in: A. Grillmeier – H. Bacht (Hg.), Das Konzil von Chalkedon. Bd. III Chalkedon heute. Würzburg 1954 S. 421-454.
[8] J.H. Newman, An Essay on the Development of Christian Doctrine S. 73 und S. 40 vgl. Dessain S. 166
[9] Gregor von Nyssa, De vita Moysis PG 44, 401 A; deutsch; Der Aufstieg des Moses, übers. und eingeleitet von M. Blum, Freiburg 1963 S. 110f. Um Gregor nicht zu missdeuten, muss man freilich hinzunehmen, was er anschließend über die innere Identität von Stehen und Bewegung, von Stehen und Steigen sagt: „Damals geschah im Stehen ein Steigen. Dies bedeutet: je fester und unverrückbarer jemand im Guten verharrt, um so mehr vollbringt er im Lauf der Tugend. Wer … keinen festen Stand im Guten hat, von den Wogen geworfen und herumgetrieben (Eph 4,14)…, der wird wohl niemals die Höhe der Tugend erreichen. So ergeht es auch solchen, die im Sand bergan gehen wollen; …da… zwar Bewegung erreicht wird, aber kein Vorwärtskommen. Wenn aber… jemand… seine Füße auf festen Grund stellt, sich auf den Felsen stützt – der Fels aber ist Christus (1 Kor 10,4)…, wird er, im Masse er… unverrückbar geworden ist (1Kor 15,58), schneller in seinem Lauf vorankommen, gleich als ob er seine Standhaftigkeit wie Flügel gebrauchte… » (PG 44, 405 CD; Blum a.a.0. 115). Zur Interpretation dieser Texte Gregors ist erhellend die Einleitung, die H. U. von Balthasar seiner deutschen Übersetzung des Hohelied-Kommentars vorangestellt hat: Gregor von Nyssa, Der versiegelte Quell, Einsiedeln 18433
S. 7-26.
[10] Vgl. die ausgezeichnete Schilderung von Augustinus innerem Weg von der Heimkehr nach Afrika zur Bischofsweihe bei P. Brown, Augustinus von Hippo. Aus dem Englischen von J Bernard. Leipzig 1972 S. 126-136. bes. 132.