1. Predigt vom August 1826
„Heiligkeit, ohne welche niemand Gott schauen wird“ (Hebr 12, 14).
In diesem Text geruhte der Heilige Geist, mit wenig Worten eine Grundwahrheit der Religion zum Ausdruck zu bringen. Gerade dieser Umstand macht ihn besonders eindrucksvoll; ist doch die Wahrheit an und für sich in dieser und jener Form überall in der Heiligen Schrift ausgesprochen. Immer wieder wird uns gesagt, daß unser Herr bei der Menschwerdung nur ein großes Ziel im Auge hatte: die sündigen Geschöpfe zu heiligen. Somit kann auch nur der Heilige am Jüngsten Tag um Seinetwillen Aufnahme finden. Die ganze Geschichte der Erlösung, der Bund der Erbarmung in all seinen Teilen und Anordnungen bestätigt, daß Heiligkeit zu unserer Rettung notwendig ist; wie es ja auch unser natürliches Gewissen bezeugt. Unser Vorspruch aber bezeichnet das, was sonst in der Geschichte angedeutet und durch ausdrückliche Vorschrift auferlegt ist, als Glaubenswahrheit, als bedeutsame und unumgängliche Forderung, das Ergebnis eines ehrfurchtgebietenden, unabänderlichen und naturgemäßen Gesetzes, und als den unerforschlichen Ratschluß des Göttlichen Willens.
Es könnte nun jemand fragen: „Warum ist die Heiligkeit eine notwendige Voraussetzung, um in den Himmel zugelassen zu werden? Warum fordert die Bibel mit solchem Nachdruck von uns, daß wir Gott lieben, Ihn fürchten und Ihm gehorchen; daß wir gerecht, ehrlich, sanft, rein von Herzen, versöhnlich, himmlischen Sinnes, entsagungsvoll, demütig und ergeben seien? Der Mensch ist eingestandenermaßen schwach und verderbt; warum dann obliegt ihm die Pflicht, so religiös, so überirdisch zu sein? Warum (in der kräftigen Sprache der Heiligen Schrift) die Forderung, ein „neues Geschöpf“ [2 Kor 5, 17] zu werden? Da er von Natur aus ist, was er ist, wäre es nicht von seiten Gottes ein Akt größerer Barmherzigkeit, ihn zu retten ganz ohne diese Heiligkeit, die er doch nur schwer erwerben kann, aber offensichtlich besitzen muß?“
Es steht uns überhaupt nicht zu, diese Frage zu stellen. Dem Sünder muß es genug sein zu wissen, daß ihm durch die Gnade Gottes ein Weg der Rettung eröffnet ist, auch wenn er darüber nicht belehrt wurde, warum Gott in Seiner Weisheit diesen und keinen anderen Weg wählte. Das ewige Leben ist „Gabe Gottes“ [Röm 6, 23]. Kein Zweifel, Er hat die Macht, die Bedingungen festzulegen, unter denen Er es schenken will; und hat Er bestimmt, daß Heiligkeit der Weg zum Leben ist, dann muß uns das genügen. Es ist nicht unsere Sache, nach dem Grund dieser Bestimmung zu forschen.
Jedoch darf die Frage aufgeworfen werden, in aller Ehrfurcht und in der Absicht, den Blick auf unsere Lage und auf unsere Aussichten zu weiten. In diesem Falle ist der Versuch, eine Antwort zu finden von Nutzen, wenn er mit Besonnenheit gemacht wird. Ich gehe also dazu über, einen der Gründe zu nennen, warum nach dem Wortlaut der Schrift die Heiligkeit hienieden zu unserer ewigen Seligkeit erforderlich ist.
Heilig sein bedeutet nach den Worten unserer Kirche nichts anderes, als die „wahre Beschneidung, im Geiste“ zu haben [Röm 2, 29]; nämlich: von der Sünde getrennt zu sein, die Werke der Welt, des Teufels und des Fleisches zu hassen; die Gebote Gottes freudig zu halten; zu handeln, wie Er es haben möchte; immer zu leben mit dem Blick auf die künftige Welt, als hätten wir die Bande des diesseitigen Lebens schon zerrissen und als wären wir der Welt bereits gestorben. Warum können wir nicht gerettet werden, ohne eine solche seelische Verfassung und Einstellung zu besitzen? Ich antworte so: Selbst angenommen, ein unheiliger Mensch dürfte in den Himmel eingehen, so wäre er darin nicht glücklich; es wäre folglich keine Barmherzigkeit, ihm Einlaß zu gewähren.
Wir neigen dazu, uns selbst zu täuschen, indem wir uns den Himmel als einen Ort denken ähnlich unserer Erde; ich meine einen Ort, wo jeder nach eigenem Belieben schalten und walten kann. Wir sehen, wie in dieser Welt tätige Menschen ihre eigenen Freuden haben, zurückgezogene Menschen die ihrigen; sodann Männer der Literatur, der Wissenschaft, der politischen Begabung haben ihre jeweiligen Ziele und Freuden. Daher sind wir versucht zu handeln, als werde es in der anderen Welt ebenso sein. Das einzige, worin wir diese Welt von jener unterscheiden, besteht darin, daß die Menschen hienieden (wie wir wohl wissen) nicht immer sicher sind, ihr Ziel zu erreichen, während sie drüben, wie wir annehmen, dessen immer gewiß sein werden. Daraus ziehen wir den Schluß, daß drüben trotz aller Verschiedenheit in Gewohnheiten, Geschmack und Lebensweise jedermann glücklich sein wird, sofern er nur Einlaß in den Himmel findet. Nicht als ob wir die Notwendigkeit einer gewissen Vorbereitung auf die andere Welt gänzlich leugnen wollten, aber wir unterschätzen ihren wahren Umfang und ihre Bedeutung. Wir glauben, wir können uns mit Gott versöhnen, wenn wir wollen; gerade als ob für den Menschen im allgemeinen nur eine etwas über dem Durchschnitt liegende, zeitweilige religiöse Pflichterfüllung erforderlich wäre; – z. B. ein größeres Maß von Strenge in kirchlichen Übungen während unserer letzten Krankheit, genau wie Geschäftsleute ihre Papiere und Briefschaften in Ordnung bringen, wenn sie eine Reise antreten oder Bilanz machen. Aber wenn man auch im allgemeinen nach einer derartigen Auffassung handelt, sie ist widerlegt, sobald man sie in Worte faßt. Denn nach der klaren Lehre der Heiligen Schrift ist der Himmel nicht der Ort, wo man gleichzeitig verschiedene und auseinandergehende Ziele verfolgen kann wie in dieser Welt. Hier unten kann jeder tun, was ihm selbst gefällt, aber im Himmel muß er tun, was Gott gefällt. Anmaßung wäre jeder Versuch, selber die Art der Tätigkeit im ewigen Leben zu bestimmen, das die Guten in Gottes Gegenwart führen sollen. Anmaßung wäre es auch zu leugnen, daß jener Zustand, den kein Auge gesehen, von dem kein Ohr gehört, den kein Mensch im Herzen empfunden hat, nicht eine unbegrenzte Mannigfaltigkeit von Aufgaben und Obliegenheiten umfassen könnte. Jedoch soviel wissen wir bestimmt, daß die Art jenes kommenden Lebens in der Gegenwart Gottes verbracht wird in einem Sinne, der auf unser gegenwärtiges Leben nicht zutrifft. Am besten läßt es sich als die endlose und ununterbrochene Anbetung des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes bezeichnen. „Sie dienen Ihm Tag und Nacht in Seinem Tempel, und Der auf dem Throne sitzt, wird mitten unter ihnen wohnen. Das Lamm, das auf dem Throne sitzt, wird sie weiden und zu den Quellen des lebendigen Wassers führen.“ Und wiederum: „Die Stadt bedarf weder der Sonne, noch des Mondes, daß sie leuchten in ihr, denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie, und ihre Leuchte ist das Lamm. Und die Völker, die gerettet sind, werden in ihrem Lichte wandeln, und die Könige der Erde werden ihre Herrlichkeit und Ehre in sie bringen“ (Offb 7, 15. 17; 21, 23. 24). Diese Schriftstellen aus Johannes genügen, um uns viele andere ins Gedächtnis zurückzurufen.
Der Himmel gleicht also nicht dieser Welt. Laßt mich sagen, womit er viel eher zu vergleichen ist: mit einer Kirche. Denn an dem Ort, der dem öffentlichen Gottesdienst geweiht ist, verstummt die Sprache dieser Welt. Da werden keine Vorschläge für zeitliche Dinge unterbreitet, seien sie groß oder klein. Da gibt es keine Auskunft zur Förderung unserer weltlichen Interessen, zur Erweiterung unseres Einflusses oder zur Sicherung unseres Vermögens. Diese Dinge mögen alle recht sein an ihrem Ort, solange wir unser Herz nicht an sie verlieren; aber (ich wiederhole es) in der Kirche hören wir sicher nichts davon Hier hören wir einzig und allein von Gott. Wir bringen Ihm Lob, Anbetung, Preis und Dank dar, wir bekennen uns zu Ihm, übergeben uns Ihm und bitten um Seinen Segen. Und deswegen besteht eine Ähnlichkeit zwischen Himmel und Kirche, weil nämlich in beiden uns der eine allbeherrschende Gegenstand vor Augen gestellt wird: die Verehrung Gottes.
Würde die Aussage, daß kein unreligiöser Mensch Gott im Himmel dienen und huldigen könne (oder wie der Vorspruch es ausdrückt, Ihn schauen könne), ersetzt durch die Aussage, daß kein unreligiöser Mensch Gott in der Kirche anbeten oder geistig schauen könne, würden wir dann den Sinn der Lehre nicht ohne weiteres verstehen? Nämlich: daß rein Mensch, der seinen Geist hätte wachsen lassen, wie es Natur und Zufall gaben, ohne bewußtes und anhaltendes Streben nach Wahrheit und Reinheit, keine wahre Freude fände, wenn er zur Kirche käme, sondern bald des Ortes überdrüssig würde. Denn in diesem Gotteshaus würde er nur von dem einen Gegenstand hören, um den er sich wenig oder gar nicht kümmerte, nichts dagegen von dem, was seine Hoffnungen und Befürchtungen, seine Neigungen und Kräfte aufrief. Käme also – das Unmögliche angenommen -ein Mensch ohne Religion in den Himmel, so würde er zweifellos eine große Enttäuschung erleben. Vorher glaubte er wohl, dort sein Glück zu finden, käme er aber dorthin, dann würde er nur eine Unterhaltung antreffen, die er auf Erden gemieden hatte, nur Bestrebungen, die er verabscheut und mißachtet hatte, nichts hingegen, das ihn mit irgend einem anderen Wesen im All verbände oder ihm ein Heimatgefühl gäbe, nichts, mit dem er sich befassen oder in dem er Ruhe finden könnte. Er käme sich als ein vereinsamtes, Wesen vor, abgeschnitten durch Höchste Macht von jenen Dingen, die immer noch sein Herz umschlungen halten. Ja, er würde sich in der Gegenwart jener Höchsten Macht befinden, zu deren Betrachtung er auf Erden sich nie aufschwingen konnte und die er jetzt nur als die Zerstörerin alles dessen ansähe, was ihm wertvoll und lieb war. Ach, er könnte das Angesicht des lebendigen Gottes nicht ertragen. Der Heilige Gott wäre ihm nie ein Gegenstand der Freudde. „Laß uns doch allein! Was haben wir mit Dir zu schaffen!“ [Lk 4, 34]; das ist der einzige Gedanke und das einzige Verlangen unreiner Seelen, selbst wenn sie Seine Majestät anerkennen müssen. Nur ein Heiliger kann auf den Heiligen schauen. Ohne Heiligkeit kann kein Mensch den Anblick Gottes ertragen.
Glaubten wir, ohne Heiligkeit an der Freude des Himmels teilhaben zu können, so wäre dies ebenso töricht, wie wenn einer dächte, er könnte hienieden die Gottesverehrung der Christen teilen, ohne sie in entsprechendem Maß zu besitzen. Ein oberflächlicher, sinnlicher und ungläubiger Geist, ein Geist, bar der Gottesfurcht und Gottesliebe, mit engem Gesichtswinkel und irdischen Zielen, mit niedriger Pflichtauffassung und umnachtetem Gewissen, ein Geist der Selbstzufriedenheit und ohne Ergebung in Gottes Willen würde am Jüngsten Tag so wenig Freude finden an dem Wort: „Geh ein in die Freude deines Herrn“ [Mt 25, 21], als er sie jetzt hat bei den Worten: „Lasset uns beten“. Nein, weit weniger, denn in der Kirche können wir unsere Gedanken anderen Dingen zu- wenden und wir bringen es fertig zu vergessen, daß Gott auf uns schaut; das aber wird im Himmel unmöglich sein.
So ist ersichtlich, daß Heiligkeit oder innere Losschälung von der Welt zum Eintritt in den Himmel notwendig ist, denn der Himmel ist kein Himmel, ist kein Ort der Seligkeit, außer für den Heiligen. Es gibt körperliche Unpäßlichkeiten, die den Geschmack so beeinflussen, daß die süßeste Würze dem Gaumen widersteht; es gibt Unpässlichkeiten, die die Sehkraft schwächen und das klare Antlitz der Natur mit einer krankhaften Blässe überziehen. Ähnlich gibt es eine moralische Krankheit, die den inneren Blick und Geschmack verdirbt. Wer aber daran krankt, kann sich niemals freuen an dem, was die Heilige Schrift ausdrückt mit den Worten: „die Fülle der Freude in der Gegenwart Gottes und die Wonne zu Seiner Rechten ewiglich“ [PS 15, 11].
Ja, ich will es wagen, noch einen Schritt weiter zu gehen – es ist schrecklich, aber in Ordnung, es zu sagen -, wollten wir uns für den unheiligen, verworfenen Menschen eine Pein ausdenken, wir könnten uns wohl keine größere vorstellen als die, ihn in den Himmel zu rufen. Für den unreligiösen Menschen wäre der Himmel eine Hölle. Unsere Erfahrung zeigt, wie unglücklich wir uns im gegenwärtigen Leben fühlen, wenn wir uns allein unter Fremden wissen oder unter Menschen, die sich durch Geschmack und Lebensweise von uns unterscheiden. Welch ein Unglück wäre es z. B. in einem fremden Land leben zu müssen; unter Menschen, deren Angesicht wir noch nie gesehen und deren Sprache wir nicht zu lernen vermöchten! Dies ist aber nur ein schwaches Bild für die Verlassenheit eines Menschen von irdischer Prägung und Sinnesart, hineingestoßen in die Gesellschaft der Engel und Heiligen. Wie vereinsamt würde er durch die himmlischen Höfe wandern! Er fände keinen seinesgleichen. Überall würde er auf die Spuren der göttlichen Heiligkeit stoßen; das aber ließe ihn erschauern. Er würde sich beständig in Gottes Gegenwart fühlen. Er könnte fürder seine Gedanken nirgendwohin ablenken, wie das jetzt der Fall ist, wenn ihm das Gewissen schlägt. Er würde den Blick des Ewigen Auges stets auf sich geheftet wissen; dieses Auge der Heiligkeit, das dem Heiligen Freude und Leben bedeutet, würde ihm als Auge des Zornes und der Strafe erscheinen. Gott kann Sein Wesen nicht ändern. Heilig muß Er immer sein. Aber weil Er heilig ist, kann keine unheilige Seele im Himmel glücklich sein. Feuer setzt kein Eisen in Flammen, aber es entzündet Stroh. Es hörte auf, Feuer zu sein, geschähe dies nicht. So würde der Himmel zum Feuer für jene, die gern über den großen Abgrund hinweg der Höllenqual entrinnen möchten. Der Finger des Lazarus würde ihren Durst nur noch vermehren. Gerade „der Himmel über ihrem Haupte würde ihnen ehern sein“ [Dt 28, 23].
So habe ich nun teilweise erklärt, warum Heiligkeit unsererseits unbedingt notwendig ist, daß wir in den Himmel eingelassen werden. Es scheint sich mit Notwendigkeit aus der Natur der Sache zu ergeben. Etwas anderes läßt sich für uns gar nicht denken. Ich will nun auf zwei bedeutsame Wahrheiten hinweisen, die sich aus dem Gesagten ergeben.
1. Ist für den Eintritt in den Himmel eine bestimmte Geisteshaltung, eine bestimmte Herzens- und Gemütsverfassung notwendig, so werden unsere Handlungen zu unserer Rettung beitragen, weil sie hauptsächlich darauf hinzielen, diese Geisteshaltung zu erzeugen oder zu bekunden. Gute Werke, wie wir sie nennen, sind notwendig, nicht als ob sie in sich irgendwie verdienstlich wären, nicht als ob ihnen die Kraft innewohnte, Gottes Zorn über unsere Sünden abzuwenden oder uns den Himmel zu erkaufen, sondern weil sie das Mittel sind, mit Gottes Gnade jene hohe und heilige Kraft zu stärken und zu bekunden, die von Gott unserem Herzen eingepflanzt und zur Anschauung Gottes, wie der Vorspruch besagt, unerläßlich ist. Je zahlreicher die Akte unserer Liebe, Selbstverleugnung und Geduld sind, um so mehr wird unser Geist geschult in einer liebenden. selbstverleugnenden und geduldigen Haltung. Je häufiger unsere Gebete, je demütiger, gelassener und frömmer unsere täglichen Handlungen sind, um so mehr wird diese Verbindung mit Gott, dieses heilige Tun zum Mittel, unsere Herzen zu heiligen und sie für das künftige Leben in der Gegenwart Gottes vorzubereiten. Äußere Handlungen, aus Grundsatztreue verrichtet, schaffen innere Zuständlichkeiten. Ich wiederhole: die einzelnen Akte des Gehorsams gegenüber dem Willen Gottes, die guten Werke, wie sie heißen, sind uns von Nutzen, da sie uns allmählich von dieser sinnfälligen Welt lösen und unserem Herzen einen himmlischen Charakter einprägen.
Daraus erhellt also, welche Werke zu unserem Heil nicht dienlich sind: alle jene, die keine Wirkung auf die Änderung unseres Herzens ausüben, oder deren Wirkung schlecht ist. Was aber ist mit jenen, die da meinen, es sei leicht, Gott zu gefallen und sich Seiner Obhut zu empfehlen, die ein paar armselige Dienste tun, dies aber den Wandel im Glauben nennen und sich damit zufrieden geben? Es ist zu klar, daß solche Menschen durch ihre Handlungsweise, und mögen es Akte der Güte, der Rechtschaffenheit oder Gerechtigkeit sein, nichts für sich gewinnen, um nicht zu sagen, eher dabei Schaden leiden. Denn gerade diese Handlungen, mögen sie auch an sich gut sein, sind dazu angetan, einen schlimmen Geist eine verderbte Herzenshaltung in ihnen zu nähren, nämlich: Selbstliebe, Eigendünkel, Selbstsicherheit, anstatt sie weg von dieser Welt und hin zum Vater der Geister zu führen. In gleicher Weise sind die rein äußerlichen Akte, wie der Kirchenbesuch, das Gebet, so sehr sie für uns alle Pflicht und Gebot sind, nur jenen von Nutzen, die sie in einem himmelwärts gerichteten Geist vollbringen. Denn nur solche Menschen nützen diese guten Handlungen zur Vervollkommnung ihres Herzens aus; hingegen nützt die nach außen noch so genau geübte Frömmigkeit dem Menschen nichts, wenn sie das Herz nicht bessert.
2. Aber beachtet, was daraus folgt. Besteht Heiligkeit nicht in einer Summe von bestimmten Werken allein, sondern in einem durch Gottes Gnade aus solchen Handlungen hervorgehenden inneren Zustand, wie weit entfernt von dieser Heiligkeit ist doch die Großzahl der Menschen! Nicht einmal in den äußeren Werken sind sie gehorsam gegen Gott; und das wäre doch der erste Schritt, diesen Zustand zu erlangen. Sie müssen erst lernen, gute Werke zu üben als Mittel zur Änderung ihres Herzens, die doch das Ziel ist. Daraus folgt ohne weiteres, daß niemand sich aus eigener Kraft auf den Himmel vorbereiten kann – auch wenn es kein klares Schriftwort darüber gäbe – nämlich, daß niemand in kurzer Zeit sich selbst zu heiligen vermag; – wenigstens sehen wir dafür keine Möglichkeit. Das aber ist, rein als Folgerung des Verstandes betrachtet, ein ernster Gedanke. Wie es aber leider Menschen gibt, die sich durch ein paar spärliche Werke zu retten glauben, so gibt es solche, die durch einen unvermittelten und leicht erworbenen Glauben ihr Heil auf einmal erringen zu können wähnen [1]. Die meisten von jenen, die sich in ihrem Leben um Gott nicht kümmern, bringen ihr mahnendes Gewissen zum Schweigen mit dem Versprechen, eines schönen Tages schon noch zur Umkehr zu kommen. Wie oft lassen sie sich so dahintreiben, bis der Tod sie überrascht! Aber wir wollen annehmen, sie werden sich wirklich bekehren, wenn dieser künftige Tag kommt. Ja, wir wollen sogar annehmen, daß Gott der Allmächtige ihnen Verzeihung und den Eintritt in Seinen heiligen Himmel schenken wollte. Mag sein; aber ist nur dieses und nichts mehr gefordert? Sind sie in dem geeigneten Zustand, Ihm im Himmel zu dienen? Zielten meine Worte nicht nachdrücklich gerade auf diesen Punkt hin, daß sie nicht im geeigneten Zustand sind! Ist nicht deutlich geworden, daß sie im Himmel keine Freude fänden, selbst wenn sie zugelassen würden, ohne ihren Sinn geändert zu haben? Kann man aber binnen eines Tages sein Herz wandeln? Welche unserer Geschmacksrichtungen oder Neigungen können wir nach unserem Belieben in einem Augenblick ändern? Nicht einmal die oberflächlichste. Können wir dann mit einem Wort die ganze Verfassung und Art unseres Geistes ändern? Ist nicht die Heiligkeit das Ergebnis vieler, zäher, wiederholter Gehorsamsproben, die allmählich auf uns einwirken und unsere Herzen erst bereiten und dann sie wandeln? Wir wagen es natürlich nicht, im Falle einer erst spät im Leben erfolgten Umkehr, der Barmherzigkeit und Macht Gottes Grenzen zu setzen, selbst dort nicht, wo Er uns die Grundregel, nach der Er die Gewissen lenkt, geoffenbart hat. Wir sind jedoch sicherlich verpflichtet, stets jener allgemeinen Wahrheiten, die Sein heiliges Wort uns gelehrt hat, eingedenk zu sein und uns im Handeln danach zu richten. Sein heiliges Wort warnt uns verschiedentlich mit dem Hinweis, daß, ähnlich wie kein Unheiliger das Himmelsglück finden wird, so auch keiner die Heiligkeit in kurzem und nach Belieben erlernen kann. Das liegt auch im Vorspruch enthalten, der den Ausdruck einer „Beschaffenheit“ gebraucht, die, wie uns Wissen und Erfahrung sagen, für gewöhnlich erst nach gewisser Zeit erworben wird. Klar, wenn auch im Bilde, ist dies im Gleichnis vom hochzeitlichen Gewand ausgesprochen. Darin wird die innere Heiligung vorausgesetzt, was etwas anderes meint als das Annehmen der dargebotenen Barmherzigkeit und in unseren Gedanken nicht leichtfertig übergangen werden darf, als wäre die Heiligkeit eine notwendige Folge daraus. Ähnliches zeigt das Gleichnis von den zehn Jungfrauen. Wir müssen dem Bräutigam mit dem Öl der Heiligkeit entgegengehen. Diese aber zu beschaffen, nimmt Zeit in Anspruch. Feierlich und unzweideutig steht in den Briefen des heiligen Paulus, daß es möglich ist, vermessentlich auf die göttliche Barmherzigkeit zu vertrauen und so die Gnadenzeit zu verpassen und schon vor dem Lebensende mit dem Stempel eines verworfenen Geistes gesiegelt zu sein. [2]
Meine Brüder! Ich möchte meine Worte an euch richten, nicht wie an Menschen, die den Erbarmungen Gottes fremd gegenüberstehen, sondern die teilhaben an dem Gnadenbund in Christus. Aber gerade deswegen seid ihr besonders gefährdet, weil nur jene sich gegen Seinen Bund versündigen und ihn vereiteln können, die an ihm teilhaben dürfen. Ich wende mich aber andererseits auch nicht an euch, als ob ihr böswillige und hartnäckige Sünder wäret, in der nächsten Gefahr, die Hoffnung auf den Himmel zu verscherzen oder sie schon verscherzt zu haben. Doch ich fürchte, es gibt Leute, die sich bei genauer Gewissensprüfung eingestehen müßten, daß ihnen der Dienst Gottes nicht zum ersten und großen Anliegen geworden ist; daß ihr Gehorsam, um es so zu nennen, eine Selbstverständlichkeit, aber nicht eine Herzenssache, und daß ihr Handeln in weltlichen Dingen zwar ehrlich, aber in erster Linie durch weltliche Interessen bestimmt gewesen ist. Ich fürchte, es gibt solche, die bei allem Sinn für das Religiöse stets noch ein Unbehagen in sich tragen, demzufolge sie sich zu dem Entschluß verleiten lassen, Gott erst einmal später besser gehorchen zu wollen; es ist ein Unbehagen, das sie von der Sünde überzeugt, doch ihnen deren Häßlichkeit und Gefahr nicht hinreichend zum Bewußtsein bringt. Diese Menschen tändeln mit der ihnen gesetzten Gnadenzeit. Die Gabe der Heiligkeit zu erlangen, ist das Werk eines Lebens. Unsere Natur ist der Sünde derart überantwortet, daß hier auf Erden keiner vollkommen sein wird. So stellen diese Menschen, indem sie den Tag ihrer Bekehrung aufschieben, ein Werk, für das ein ganzes Leben nicht ausreicht, auf einige ungewisse Jahre zurück, in denen Kraft und Schwung dahin sind. Dieses Werk ist groß und unsäglich hart. Noch im besten Menschen wohnt ein guter Rest von Sünde, und „wenn der Gerechte kaum gerettet wird, wo wird der Gottlose und der Sünder erscheinen?“ (1 Petr 4, 18). Ihr Schicksal kann jeden Augenblick besiegelt werden; und obschon dieser Gedanke einen Menschen nicht entmutigen darf für heute, so muß er ihn doch erzittern lassen für morgen.
Aber, mögen einige vielleicht sagen: „Wir kennen in etwa die Macht der Religion, wir lieben sie bis zu einem gewissen Grad, wir haben viele gute Gedanken, wir gehen zur Kirche, um zu beten: Beweis genug, daß wir auf den Himmel vorbereitet sind. Wir sind unserer Rettung sicher [3] und das Gesagte trifft auf uns nicht zu.“ Jedoch, meine Brüder, gesellt euch nicht zu diesen! Ein Hauptbeweis, daß wir wahre Diener Gottes sind, ist der Wunsch, Ihm noch besser zu dienen. Und seid ganz sicher, ist einer zufrieden mit seinem eigenen Fortschritt in der christlichen Heiligkeit, so ist er bestenfalls im Dunkeln, wenn nicht in einer großen Gefahr. Sind wir wirklich erfüllt mit der Gnade der Heiligkeit, dann werden wir die Sünde als etwas Gemeines, Unvernünftiges und Befleckendes verabscheuen. Es ist wahr, viele Menschen geben sich mit halben und unbestimmten Ansichten über Religion und mit zweideutigen Beweggründen zufrieden. Gebt euch mit nichts geringerem als mit der Vollkommenheit zufrieden! Bemühet euch Tag für Tag, in der Erkenntnis und Gnade zu wachsen, damit ihr, so Gott will, zuletzt zu der Gegenwart Gottes des Allmächtigen gelangen möget!
Und endlich: Indes wir unser Herz nach dem Vorbild der Heiligkeit unseres Himmlischen Vaters umzuwandeln trachten, tröstet uns, wie schon erwähnt, die Erkenntnis, daß wir uns nicht selbst überlassen sind. Der Heilige Geist ist uns mit Seiner Gnade nahe und gibt uns die Kraft, über unsere eigene Sinnesart zu triumphieren und sie umzuwandeln. So sehr es etwas Beängstigendes und Ehrfurchtgebietendes ist, liegt doch Trost und Ermunterung in dem Bewußtsein, daß Gott in und durch uns wirkt [4]. Wir sind Werkzeuge und nur Werkzeuge unserer eigenen Rettung. Niemand sage, daß ich ihn entmutige und ihn vor eine Aufgabe stelle, die seine Kraft übersteigt. Wir alle haben von unserer Jugend an ein Unterpfand für die Gaben der Gnade. Wir wissen das wohl; aber wir nützen unser Vorrecht nicht aus. Wir machen uns karge Vorstellungen von dieser Schwierigkeit und begreifen daher nie, warum uns so große Gaben für deren Überwindung zu Gebote stehen. Später dann, wenn wir vielleicht eine tiefere Einsicht in das uns aufgetragene Werk gewinnen, halten wir Gott für einen strengen Meister, der große Anforderungen an ein sündiges Geschlecht stellt. Eng ist wahrhaftig der Weg, der zum Leben führt, aber unbegrenzt die Liebe und Macht Dessen, der bei der Kirche ist, an Christi Stelle, um uns auf diesem Weg zu geleiten.
[1] Newman hat eine Richtung im Auge, nach der das religiöse Erwachen plötzlich und fühlbar vor sich geht (Methodismus) und außerdem Heilsgewißheit gewährt (Kalvinismus). – A. d. U.
[2] Hebr 6, 4-6; 10, 26-29; siehe auch 2 Petr 2, 20. 22.
[3] Anspielung auf die Frage der Sektierer: are you saved?“, als der Frage nach dem Bekehrungserlebnis.
[4] Phil 2, 12. 13.
Aus Pfarr- und Volkspredigten, I. Band, Schwabenverlag, Stuttgart 1948, S. 1-16.