3. Predigt vom 2. September 1832
Wenn ihr das wisset, so seid ihr selig, wenn ihr danach tuet“ (Jo 13,17).
Auf kein Volk und kein Zeitalter der Vergangenheit läßt sich dieses Schriftwort besser anwenden als auf dieses unser Land in heutiger Zeit. Denn so weit wir zu urteilen vermögen, hatte bislang kein Volk eine bessere Kenntnis von der Art, Gott zu dienen, von unserer Pflicht, unseren Vorrechten und unserem Lohn, als wir. Uns vor allem gilt also das Wort des Heilandes: „Wenn ihr das wisset, so seid ihr selig, wenn ihr danach tuet.“ Sicher denken nun viele von uns: das wissen wir sehr wohl. Scheinbar ist es eine Binsenwahrheit, daß es nichts bedeutet, zu wissen, was recht ist, wenn wir es nicht tun; eine Wahrheit zu altbekannt, als daß man Neues darüber sagen könnte. Über derlei Stellen der Schrift lesen wir leicht hinweg, da wir sie widerspruchslos annehmen; und so gelingt es uns, sie praktisch zu vergessen. Wissen ist nichts im Vergleich zum Tun. Aber schon aus der Erkenntnis, daß das Wissen allein nichts bedeutet, machen wir etwas, wir legen ihm Wert bei und so täuschen wir uns selbst.
Genau so handeln wir in ähnlichen Fällen. Manch einer bekennt sich als armen Sünder, aber anstatt die Demut durch Übung zu lernen, rühmt er sich im gleichen Atemzug seines Bekenntnisses. Er schreibt Gott die Ehre für seine Erlösung zu und rühmt sich dann irgendwie, ein Erlöster zu sein. So wird er stolz auf seine vermeintliche Demut.
Christus hat sicherlich keines Seiner Worte ins Leere gesprochen. Die Ewige Weisheit Gottes hat Ihre Stimme nicht erhoben, damit wir Ihre Worte auf einmal und ohne Ehrfurcht auffangen sollten, im Glauben, wir könnten sie auf den ersten Blick begreifen und über sie hinweggehen. Doch Sein Wort bleibt ewig bestehen; es hat eine Gedankentiefe, die für alle Zeiten und für alle Orte paßt und jedesmal nur schwer und mühsam sich begreifen läßt. Wer mühelos in es einzudringen glaubt, darf sicher sein, daß er überhaupt nicht in es eingedrungen ist.
So sei der Versuch gemacht, den Schrifttext zum Heile unserer Seele mit Hilfe Seiner Gnade lebendig zu uns sprechen zu lassen. Unser Herr sagt: „Wenn ihr das wisset, so seid ihr selig, wenn ihr danach tuet.“ Erwägen wir, wie wir gewöhnlich die Heilige Schrift lesen.
Wir lesen z. B. eine Evangelienstelle, ein Gleichnis vielleicht, einen Wunderbericht, oder wir lesen ein Kapitel aus den Propheten oder einen Psalm. Wen ergreift nicht die Schönheit dessen, was er liest? Ich will nicht reden von denen, welche die Bibel nur gelegentlich lesen und deshalb im allgemeinen die heiligen Worte langweilig und reizlos finden, sondern von denen, die sich in die Bibel vertiefen. Wem von diesen entgeht ihre Schönheit? Nehmen wir z. B. den Text, der unser Schriftwort einleitet. Christus hatte den Aposteln eben die Füße gewaschen. Das geschah zu einer Zeit großer innerer Leiden; gerade bevor Er von Seinen Feinden ergriffen und getötet wurde. Der Verräter, Sein vertrauter Freund, war im Saal. Alle Seine Jünger, selbst die ergebensten, liebten Ihn viel weniger, als sie meinten. Nach kurzer Zeit sollten sie alle Ihn verlassen und fliehen. Er sah dies voraus; und dennoch wusch Er ihnen gelassen die Füße und erklärte ihnen, daß Er ihnen damit ein Beispiel geben wolle. So wie Er sollten auch sie einander eine Fülle von niederen Diensten erweisen, und derjenige sei in der Tat der Höchste, der sich selbst zum Niedrigsten mache. Das hatte Er zuvor gesagt, und Seine Jünger müssen sich daran erinnert haben. Vielleicht haben sie sich im Innersten ihres Herzens darüber gewundert, warum Er diese Unterweisung wiederholte; sie mochten sich sagen: „Das haben wir schon gehört.“ Sie mochten überrascht sein, daß diese bedeutsame Handlung der Fußwaschung nichts anderes bezwecken sollte als das Aussprechen eines schon bekannten Gebotes: des Gebotes, demütig zu sein. Zugleich aber konnten sie die Schönheit dieser Handlung nicht ableugnen, vielmehr mußten sie dieselbe tief empfinden. Ja, da sie Ihn doch über alles liebten und Ihn als Herrn und Lehrmeister verehrten, mußten sie Ihm gegenüber Bewunderung und Scheu empfinden. Aber ihr Geist versenkte sich noch nicht genugsam in die praktische Ausrichtung der Unterweisung, deren sie gewürdigt wurden. Sie erkannten die Wahrheit und bewunderten sie, aber sie hatten keine Ahnung von dem, was ihnen noch fehlte. So kann man sich ihren Seelenzustand denken. Daher auch der Nachdruck, der auf dem Schriftwort liegt. In erster Linie war es gegen Judas Iskariot gerichtet, der die Wahrheit kannte und mit Bedacht gegen sie sündigte; in zweiter Linie galt es allen anderen Aposteln und besonders dem Petrus, der aller Treuversicherung zum Trotz in seiner Prüfungsstunde versagte, schließlich aber uns allen, die wir hier versammelt sind, das Wort des Lebens fortwährend hören, es erkennen, bewundern, aber keineswegs befolgen. Ist es nicht so? Ist nicht die Schrift in allem angenehm, außer in ihrer Strenge? Versuchen wir nicht immer, uns zu bereden, religiöses Gefühl, offenbekannte Liebe zur Religion sowie unsere Fähigkeit, über Religion zu reden, gelte schon für gewissenhaften Gehorsam oder auch für jene Selbstverleugnung, die der eigentliche Kern echter Religion ist? Schade, daß die Religion, die als Schau so köstlich ist, als Wirklichkeit so widerlich sein sollte! Aber so ist es, ob wir darauf achten oder nicht.
1. Der größte Teil der Menschen, selbst jener, die sich als religiös bekennen, befindet sich in dieser Geistesverfassung. Schauen wir z. B. auf die Gruppe derer, die in besseren Verhältnissen leben als die Mehrzahl der Bevölkerung. Sie sind gut erzogen und gebildet, sie erleiden wenig Unglück im Leben oder haben die Möglichkeit, durch das Vielerlei ihrer Beschäftigungen, durch den Frohsinn, der aus der Gesundheit quillt, oder doch wenigstens durch das rasche Hingleiten der Zeit darüber hinwegzukommen. Sie leben achtbar und glücklich auf Grund derselben allgemeinen Neigungen und Gewohnheiten, die sie auch ohne das Geschenk des Evangeliums besessen hätten. Sie haben ein Auge darauf, was die Welt von ihnen denkt, und sind wohltätig, wo man es von ihnen erwartet. Sie zeigen ein feines Benehmen, sind gütig von Natur oder aus einem Gefühl der Schicklichkeit. So ist ihre Religion auf das eigene Ich und auf die Welt gegründet, rein ein Ergebnis der Zivilisation; die gleiche, sage ich, die sie im wesentlichen gewesen wäre (wenn man den Stand der Gesellschaft bedenkt, wie sie ihn vorfinden), auch wenn das Christentum nicht die Religion des Landes wäre. Nun aber ist sie es. Daher frage ich weiter: wie verhalten sie sich infolgedessen zum Christentum? Sie nehmen es an, fügen es ihrem bisherigen Wesen bei und pfropfen es der selbstsüchtigen und weltlichen Lebensart ihres ungeläuterten Herzens auf. Man hat sie gelehrt, es zu verehren und als eine Gabe Gottes anzusehen. So bewundern sie es und nehmen es als Lebensregel an, soweit es mit den sie leitenden fleischlichen Grundsätzen einig geht. Soweit es damit nicht übereinstimmt, sind sie blind für seine Trefflichkeit und seine Ansprüche. Sie übersehen seine Vorschriften oder erklären sie aus der Welt. Sie gehorchen keineswegs, weil es Gebote aufstellt. Sie handeln recht, da wo sie auch ohne sein Gebot recht gehandelt hätten. Jedoch sie loben es und glauben, es zu verstehen. Manchmal, wenn ich die Schilderung weiterführen darf, lassen sie es aufgehen in einer gewissen verfeinerten Vornehmheit des Empfindens und der Gesittung, und folglich ist ihre Religionslosigkeit im höchsten Grad gefällig, wählerisch und überschwenglich. Sie lieben religiöse Dichtung und glänzende Predigten. Sie wollen, daß man ihre Gefühle wecke und besänftige, sie wollen sich Abwechslung und Trost sichern in jener ewigen Wahrheit, die unveränderlich ist. Sie werden seiner Einfachheit müde, aber suchen vielleicht ihr Interesse wachzuhalten durch religiöse Erzählungen – erdichtet oder ausgeschmückt -, sie haschen nach Neuigkeiten aus fremden Ländern, oder nach Berichten über die Aussichten oder den Erfolg des Evangeliums. So verkehren sie das in sich Gute und Harmlose. Das ist im besten Fall ihre Geistesverfassung; denn häufiger noch geben sie sich damit zufrieden, der Religion eine flüchtige Aufmerksamkeit zu schenken, am Sonntag den Gottesdienst zu besuchen und dann freilich nur einmal, und schließlich auch ein kühles Wort der Billigung dafür zu finden. Natürlich kann jede Beschreibung dieser Menschen nur allgemeiner Art sein, denn die Schattierungen des Charakters sind in den einzelnen so mannigfaltig und gemischt, daß ein genaues Bild davon zu geben unmöglich ist. Oft auch finden sich dabei recht achtbare Personen und wahrhaft gute Christen, die zum Teil von diesem unguten und weltlichen Geist angesteckt sind.
2. Noch eine andere Schilderung hievon. Sie haben vielleicht auf Mittel gesonnen, das Wohlergehen ihrer Mitmenschen zu fördern. Sie haben sich ihr eigenes System von Moral und Religion geformt; darauf finden sie den Weg zur Heiligen Schrift. Der Hochklang ihrer Gebote und die Schönheit ihrer Lehre überrascht sie. Es ist wahr, sie finden manches darin, das sie nicht verstehen noch billigen, und vieles davon hätten sie selber nicht gesagt. Doch sie übergehen solche Stellen und glauben, es sei nicht auf die heutige Zeit anwendbar -übrigens ein leichter Weg, an dem, was uns nicht behagt, vorbeizukommen. Im ganzen aber anerkennen sie die Bibel und halten sie für sehr nutzvoll für die unteren Klassen. Daher empfehlen sie die Schrift und unterstützen alle Einrichtungen, die ihre Lehre vermitteln. Aber in ihrem eigenen Fall kommt es ihnen gar nicht in den Sinn, ihre Lehren im Ernst auf sich selbst anzuwenden: sie glauben sie schon zu kennen. Sie kennen sie, und das ist genug. Aber sie auszuführen, ich meine, zum Gehorsam ihnen gegenüber anzusetzen, in ungeheucheltem Ernst und in einem ehrlichen Glauben, der sich nach ihnen richtet, sie annimmt, so wie sie sind und nicht wie ihre vorgefaßte Meinung sie gern haben möchte: dafür fehlt ihnen der rechte Geist. Eine solche Handlungsweise fassen sie nicht ins Auge. Sie scheinen sich damit zu begnügen, eine moralische und anständige Führung zu empfehlen und vorzutäuschen, wie immer sie auch begründet sein mag. Die Verbreitung des Wissens, welches selbstgefällige Maßhaltung, selbstgefällige Friedfertigkeit, selbstgefälliges Wohlwollen, eine Moral kluger Berechnung im Gefolge hat, befriedigt sie. Sie kümmern sich um keine der Schriftwahrheiten aus dem Grunde, weil sie in der Schrift stehen. Die Tatsache, daß sie dort niedergeschrieben sind, gibt ihnen in ihren Augen kaum einen höheren Wert. Sie gehorchen nicht, weil sie gehorchen sollen, auf den Glauben hin, noch begreifen sie die Notwendigkeit gerade dieses göttlichen Führungsprinzips. Warum (scheinen sie zu sagen) sollte der eine Weg zur Besserung der Menschen nicht ebenso gut sein wie der andere? „Sind nicht die Flüsse von Damaskus, Abana und Pharphar, besser denn alle Wasser Israels?“ (4 Kg 5, 12). Wie wenn alles Wissen und alle Schulung, die je aus Büchern kamen, die Macht hätten, auch nur einen Sünder von den Banden Satans zu lösen oder in ihrer Wirkung über eine unechte Erneuerung, einen Scheingehorsam, hinauszugehen! Zum wahren Gehorsam führt ein ganz anderes Prinzip, ein vom Wissen unabhängiges Prinzip, höher als dieses und früher: das Prinzip des göttlichen Glaubens. Dieses ist von oben gegeben, trägt Leben in sich und hat Macht, das Wissen tatsächlich in den Dienst des Seelenheiles zu stellen. In seiner Hand ist das Wissen gleichsam wie eine Fackel, die uns auf dem Weg leuchtet, aber nicht uns lehrt und stärkt, ihn zu wandeln.
3. Oder anders gesehen: ist es nicht eine der landläufigsten Entschuldigungen der Armen für ihren Mangel an Religion, sie hätten keine Bildung genossen. Wie wenn viel zu wissen eine notwendige Stufe zu rechtem Handeln wäre!
Wiederum sind sie geneigt zu glauben, das Wissen um religiöse Dinge sowie das Reden darüber genügten, um einen Menschen religiös zu machen. Warum, meine Brüder, seid ihr heute hierher gekommen? Ich denke: nicht weil es selbstverständlich ist, auch nicht nur weil Freunde oder Vorgesetzte euch kommen hießen. Ich nehme an, ihr seid in religiöser Absicht zur Kirche gekommen. Aber, glaubt ja nicht, mit dem Kommen sei alles getan und vorbei. Die bloße Anwesenheit hier genügt nicht. Viele zwar benehmen sich so, als vergäßen sie, daß sie nicht nur kommen, sondern ebenso wohl andächtig am Gottesdienst teilnehmen müssen. Es genügt nicht, die Predigt anzuhören, obschon viele meinen, damit schon einen großen Schritt getan zu haben. Ihr müßt beten. Das ist für einen, der es ernstlich versucht, an und für sich sehr schwer (und das ist der Grund, warum so viele die Predigt den Gebeten vorziehen, denn die erstere vermittelt nur Wissen, aber das letztere ist eine Tat des Gehorsams). Ihr müßt beten. Das aber ist, wie gesagt, sehr schwer, denn unsere Gedanken gehen so gern auf Wanderschaft. Doch auch das ist nicht alles; ihr müßt bei eurem Gebet wirklich beabsichtigen, in die Tat umzusetzen zu suchen, um was ihr betet. Wenn ihr betet: „Führe uns nicht in Versuchung“, müßt ihr im tiefsten Ernst euch vornehmen, in eurem täglichen Leben jene Versuchung zu vermeiden, durch die ihr bereits einmal Schaden gelitten habt. Wenn ihr betet: „Erlöse uns von dem Übel“, müßt ihr euch vornehmen, euch gegen das Böse in eurem Herzen zu wehren, dessen ihr euch bewußt seid und um dessen Vergebung ihr betet. Das ist schwer. Aber noch mehr bleibt zu tun. Ihr müßt wirklich während der Woche eure guten Vorsätze durchführen und in Ehrlichkeit und Wahrheit den Kampf aufnehmen gegen Welt, Fleisch und Teufel. Und jeder von den hier Anwesenden, der dieser Forderung nicht entspricht, d. h. wer sich damit zufrieden gibt, in die Kirche zu kommen, um Gottes Willen kennenzulernen, ihn aber in seinem täglichen Leben nicht auszuführen gewillt ist, sei er hoch oder niedrig, wisse er um Geheimnisse und alle Weisheit, oder sei er ungelehrt und rastlos mit dem Alltagsleben beschäftigt, der ist ein Tor in den Augen Dessen, der die Weisheit dieser Welt zur Torheit macht. Ja, er tändelt mit dem Heiligen, da er eine äußere Förmlichkeit an die Stelle der Religion des Herzens setzt. Er nimmt das Wort Christi im Vorspruch negativ, als ob es hieße: „Da er das weiß, ist er sehr unselig, da er nicht danach tuet!“
4. Aber es könnte jemand einwenden: Es ist überaus schwierig, Gott zu dienen, es widerstrebt meinem Sinn und ist eine solche Mühe und Anspannung meiner Kraft, das Joch Christi zu tragen, daß ich es aufgeben oder wenigstens auf später verschieben muß. Gibt es denn nichts anderes dafür? Ich erkenne die Heiligkeit und Wahrheit Seines Gesetzes, und die Berichte, die ich von guten Menschen lese, sind höchst erhebend. Ich wünschte von ganzem Herzen, ich wäre wie sie; für eine kurze Weile fühle ich mich getrieben, sie nachzuahmen. Oft schon habe ich einen Anlauf genommen; ich hatte Zeiten der Reue und habe mir Vorsätze gemacht. Aber aus irgend einem Grunde wurde ich nach kurzem rückfällig und war noch schlimmer als zuvor. Ich weiß das Gute, aber ich bringe es nicht zuweg. Ich unseliger Mensch!
Einem solchen sage ich: Dein Zustand ist viel hoffnungsvoller, als wenn du in Selbstzufriedenheit lebtest und dächtest, Wissen sei alles; denn gerade von dieser verhängnisvollen Blindheit habe ich bislang gesprochen; du bist in einem besseren Zustand, sofern du dich in deinem Bekenntnis nicht allzu behaglich oder selbstsicher fühlst. Denn das ist der Fehler vieler Menschen: sie betrachten ein Geständnis dieser Art, wie ich es eben beschrieben habe, als Ersatz für wahre Reue. Oder sie gestatten sich, wenn sie es gemacht haben, die Reue aufzuschieben, als könnte man ihnen zugestehen, daß sie etwas versprechen, was sozusagen erst nach vielen Tagen einzulösen wäre. Du bist, ich gebe es zu, in einem besseren Zustand, als wenn du mit dir selbst zufrieden wärest: aber du bist nicht in einem Zustand der Sicherheit. Müßtest du jetzt sterben, dann hättest du keine Hoffnung auf Rettung, keine Hoffnung, dann nämlich, wenn deine eigene Angaben richtig sind, denn ich halte mich an deine eigenen Worte. Tritt hin zu Gottes Richterstuhl und gestehe ein, daß du die Wahrheit kennst und sie nicht erfüllt hast. Du gestehst das offen, wie wird es dort aufgenommen werden? „Aus deinem eigenen Mund will ich dich richten“ [Lk 19, 221, sagt unser Richter selber, und wer wird Sein Urteil umstoßen? Deshalb muß ein solcher sein Bekenntnis mit großer und wahrer Furcht und Beschämung ablegen, soll es als ein verheißungsvolles Zeichen angesehen werden, sonst ist es nichts als Verstocktheit. Ich habe z. B. Leute leichthin sagen hören – jeder muß sie schon gehört haben -, sie geben zu, es wäre für sie oder ihre Genossen ein Unheil, wenn sie plötzlich dahingerafft würden. Besonders junge Menschen neigen zu derlei Redensart, und zwar ehe sie in das Alter kommen, wo sie abgestumpft werden und den natürlichen, gesunden Sinn ihres Gewissens noch nicht mit Entschuldigungen unterdrückt haben. Sie sagen, sie hofften, eines Tages sich zu bekehren. Dies ist ihr eigenes Zeugnis gegen sich selbst, ähnlich wie bei dem unseligen Propheten in Bethel, der mit seinem eigenen Munde Gottes Urteil aussprechen mußte, während er beim sündigen Mahle saß. Doch darf ein solcher ja nicht glauben, daß er vom Herrn etwas empfangen werde: denn sein Wort kommt nicht aus dem Glauben.
Beklagt sich also jemand darüber, daß sein Herz hart und sein Wille schwach sei, dann prüfe er sich, ob diese Klage mehr ist als nur ein reiner Vorwand, um sein Gewissen zu beruhigen, das sich ängstigt, weil er seine Bekehrung hinausschiebt, oder mehr als ein müßiges Wort, das er halb im Scherz, halb in Zerknirschung gesprochen hat. Ist es ihm aber ernst mit seiner Klage, dann soll er bedenken, daß er keinen Grund zur Klage hat. Dem, der es ernst nimmt, ist alles einfach und leicht; nur wer geteilten Sinnes ist, findet Schwierigkeiten. Wenn ihr in Aufrichtigkeit und Wahrheit eure eigene Verderbtheit hasset, wenn ihr bis ins Herz hinein getroffen seid, darum, daß ihr nicht das tut, was ihr, wie ihr wißt, tun solltet, wenn ihr Gott lieben möchtet, wofern ihr nur könntet, dann spricht das Evangelium zu euch Worte des Friedens und der Hoffnung. Es ist etwas ganz anderes, gleichgültig zu sagen: „Ich wollte, ich wäre ein anderer Mensch“, oder die Gnade der Umwandlung anzunehmen, wenn Gott sie anbietet. Hier scheiden sich Ernst und Unaufrichtigkeit. Ihr sagt, ihr möchtet anders sein. Christus nimmt euch sozusagen beim Wort: er erbietet sich, euch anders zu machen. Er sagt: „Ich will dir das steinerne Herz nehmen und die Liebe zur Welt samt ihren Freuden, wenn du dich Meiner Zucht beugst“. Und hier zieht sich mancher zurück. Nein: er kann es nicht über sich bringen, die Liebe zur Welt aufzugeben und sich von seinen jetzigen Wünschen und Neigungen zu trennen; er vermag in seine Umwandlung nicht einzuwilligen. Schließlich ist er es im Grunde seines Herzens wohl zufrieden zu bleiben, wie er ist, nur möchte er sein Gewissen aus dem Weg geräumt haben. Erböte sich Christus, dieses für ihn zu tun, würde Er nur das Bittere süß und das Süße bitter machen, würde Er Dunkel in Licht und Licht in Dunkel wandeln, dann würde er die frohe Botschaft des Friedens begrüßen – aber einstweilen bedarf er Seiner nicht.
Aber wünscht ein Mensch im Ernst in die Tiefen seines eigenen Herzens zu dringen, das Übel zu verjagen, das Gute zu läutern und Herr über sich selbst zu werden, um die Wahrheit nicht nur zu erkennen, sondern auch zu erfüllen, was bleibt dann noch für eine Schwierigkeit? Die Genesung eines solchen Menschen ist zwar eine Sache der Zeit, aber keineswegs ungewiß. So einfach und alltäglich ist die Regel, der er folgen muß, daß er zuerst überrascht ist, wenn er sie hört. Gott tut Großes auf einfache Weise. Die Menschen aber rücken aus Stolz davon ab, gerade weil sie einfach ist. Das war das Benehmen Naamans, des Syrers. Christus sagt: „Wachet und betet“ [Mt 26, 41]. Darin liegt unsere Heilung. Wachen und Beten: das liegt gewißlich in unserer Macht und diese Mittel sichern uns die Kraft. Ihr fühlt eure Schwäche; ihr fürchtet, der Versuchung zu erliegen: dann gehet ihr aus dem Weg! Das heißt wachen. Meide die Gesellschaft, die dich voraussichtlich verleitet, fliehe den bloßen Schatten des Bösen; du kannst nicht vorsichtig genug sein! Besser ein wenig zu streng, als ein wenig zu locker; so bleibst du doch auf der sicheren Seite. Versage dir die Lektüre von Büchern, die dir gefährlich sind! Wende dich von bösen Gedanken ab, sobald sie auftauchen, mache dich an eine Arbeit, beginne eine Unterhaltung mit einem Freund oder bete das Gebet des Herrn in Ehrfurcht vor dich hin! Wenn dich Versuchung bedrängt, komme sie nun aus der Bedrohung durch die Welt, aus falscher Scham, aus Selbstsucht, aus dem herausfordernden Benehmen eines anderen oder aus den sündigen Vergnügungen der Welt, oder wenn du versucht bist, feig, habsüchtig, unversöhnlich, sinnlich zu sein, dann schließe die Augen und denke an das kostbare Blut Christi, das für dich vergossen wurde! Wage nicht zu sagen, du könntest nicht anders als sündigen! Ein wenig Achtsamkeit in diesen Punkten vermag mit Gottes Gnade viel, dich auf dem rechten Weg zu halten. Und wiederum: wache nicht nur, sondern bete auch! Du mußt wissen, daß du aus dir selbst nichts vermagst; dies hat dich die Erfahrung gelehrt. Erwarte von Gott das Wollen und Vollbringen. Flehe ihn ernsthaft an in Seines Sohnes Namens. Forsche nach Seinen heiligen Satzungen. Liegt all dies nicht in deiner Macht? Hast du nicht wenigstens Gewalt über die Glieder deines Leibes, so daß du ständig an den Gnadenmitteln teilnehmen kannst? Steht es nicht buchstäblich in deiner Macht, hierher zu kommen, der Kirche Fasten und Feste zu beobachten, dich Seinem heiligen Altar zu nahen und das Brot des Lebens zu empfangen? Sieh zu, daß du wenigstens dieses tust; strecke deine Hand nur aus, nimm Seinen gnadenvollen Leib und Sein gnadenvolles Blut in Empfang. Das ist kein mühsames Werk; du sagst ja, es sei dein Wunsch, die Segnungen zu gewinnen, die Er anbietet. Was willst du mehr als die freie Gabe, die dir gewährt ist „ohne Geld und ganz umsonst“ [Js 55, 1]. Bring also keine Entschuldigungen mehr vor: murre nicht über die Bosheit deines Herzens, daß du die Erkenntnis und den Vorsatz hast, aber im Tun versagst! Hier ist dein Heilmittel.
Gut wäre es, wenn man die Menschen zu wahrem Ernst bewegen könnte; doch wenige sind so gesinnt. Die Mehrzahl verfolgt ein doppeltes Ziel und versucht, Gott zu dienen und dem Mammon. Wenige raffen sich dazu auf, recht zu handeln, weil Gott es ihnen befiehlt. Sie haben ein anderes Ziel: sie wünschen sich selbst oder den Menschen zu gefallen. Wenn sie Gott gehorchen können, ohne den sie beherrschenden „bösen Meister“ zu beleidigen, dann und nur dann gehorchen sie. So steht die Religion bei ihnen an zweiter Stelle und sollte doch in ihrer Wertschätzung das Erste sein. Sie unterscheiden sich wohl voneinander in ihren Zielen: der eine will ein leichtes Leben, der andere Betriebsamkeit, ein dritter hat Freude an häuslicher Behaglichkeit: aber darin stimmen sie überein, daß sie die Wahrheit Gottes, die sie als Wahrheit erkennen, zum reinen Werkzeug irdischer Ziele verkehren. Sie verwerfen die Wahrheit nicht, aber sie erniedrigen sie.
Wenn Er, der Herr der Heerscharen, kommen wird, die Erde furchtbar zu schütteln, welche Zahl wird Er wohl von dem Rest des wahren Israel vorfinden? Wir leben in einem Zeitalter der Bildung. Der Firnis rein weltlicher Bildung macht uns anständig und liebenswürdig. Wir alle wissen und bekennen. Wir halten uns für weise und tun einander schön. Sind wir uns bewußt, daß wir sündigen, so finden wir Entschuldigungen für uns und verlieren so langsam das Bewußtsein zu sündigen. Wir halten unsere eigene Zeit für besser als alle anderen. „Du blinder Pharisäer!“ [Mt 23, 26]. Dies ist die verhängnisvolle Anklage, die unser Herr gegen die falsch erleuchteten Lehrer Seiner eigenen Zeit hat. Da wir also zum Leben einzugehen wünschen, laßt uns ohne Unterlaß hintreten zu Christus, um die zwei Grundpfeiler des wahren christlichen Glaubens zu erlangen: Demut des Geistes und Ernst!
Aus Pfarr- und Volkspredigten, I. Band, Schwabenverlag, Stuttgart 1948, S. 31-45