4. Predigt vom 12. Juni 1823
Wer wird gewahr all seiner Verfehlungen? Mach mich rein von verborgenen Fehlern“ (Ps 18,13).
So seltsam es erscheinen mag, viele der sogenannten Christen gehen durch das Leben, ohne sich um eine rechte Selbsterkenntnis zu bemühen. Sie begnügen sich mit allgemeinen und trüben Vorstellungen von ihrem wahren Zustand. Darüber hinaus haben sie nur jenen gelegentlichen Einblick in ihr Inneres, den die Ereignisse des Lebens ihnen aufdrängen. Aber es fehlt ihnen die genaue, systematische Erkenntnis, und sie streben auch nicht danach.
Wenn ich das „seltsam“ nenne, so möchte ich damit nicht sagen, es sei leicht, uns selbst zu erkennen. Es ist schwer, uns selbst auch nur teilweise zu erkennen, und insofern hat die Unkenntnis unseres Selbst nichts Seltsames. Das Befremdende ist nur, daß die Menschen vorgeben, die großen christlichen Wahrheiten anzunehmen und auszuführen, und doch in einer solchen Unkenntnis über sich selbst sind. Ist doch die Selbsterkenntnis eine notwendige Voraussetzung zu deren Verständnis. Es ist daher keine Übertreibung zu behaupten, daß alle jene, welche die Pflicht der regelmäßigen Selbstprüfung vernachlässigen, Worte ohne Sinn gebrauchen. Die Lehren von der Vergebung der Sünden und der Neugeburt aus der Sünde können gar nicht verstanden werden ohne die gehörige Einsicht in die Natur der Sünde, d. h. in unser eigenes Herz. Wir mögen zwar dem sprachlichen Ausdruck zustimmen, der diese Lehren erklärt; kommt aber eine solche noch so ehrliche bloße Bejahung einem wirklichen Dafürhalten und einem Glauben an sie gleich, dann ist es genau so möglich, an einen Satz zu glauben, dessen Ausdrücke einer fremden Sprache angehören; das aber ist augenscheinlich absurd. Doch unter Menschen ist nichts alltäglicher als die Ansicht, sie verstünden, da ihnen Worte geläufig sind, auch die ihnen zugrundeliegenden Ideen. Gebildete verachten diesen Fehler an Ungebildeten, die schwierige Ausdrücke gebrauchen, als ob sie sie verstünden. Aber in feinerer Form fallen sie selbst und andere in den gleichen Fehler, wenn sie Begriffe aus der Glaubens- oder Sittenlehre zu verstehen meinen, weil es übliche Worte sind, die sie ihr Leben lang benützt haben.
Nochmals: haben wir keinen rechten Begriff weder von unserem Herzen noch von der Sünde, dann fehlt uns auch der rechte Begriff für einen Lenker des sittlichen Lebens, für einen Heiland und Heiligmacher; d. h. bekennen wir unseren Glauben daran, dann gebrauchen wir Worte, ohne einen genauen Sinn damit zu verbinden. Daher wurzelt alle wahre religiöse Erkenntnis in der Selbsterkenntnis. Es ist vergebens – schlimmer als vergebens -, es ist eine Täuschung und ein Unheil zu glauben, man verstehe die christliche Lehre ohne weiteres rein durch die Belehrung aus Büchern, durch Anhören von Predigten oder durch irgendwelche äußeren Mittel, so vorzüglich sie an sich sein mögen. Denn nur in dem Maße, wie wir unsere Herzen erforschen und unsere eigene Natur verstehen, verstehen wir auch, was mit einem unendlichen Lenker und Richter gemeint ist; in dem Maße, wie wir die Natur des Ungehorsams und unsere tatsächliche Sündhaftigkeit erkennen, fühlen wir auch, welch ein Segen die Vergebung der Sünden, die Erlösung, die Verzeihung und die Heiligung sind, welche sonst bloße Worte bleiben. Gott spricht in erster Linie zu uns in unserem Herzen. Selbsterkenntnis ist der Schlüssel zu den Geboten und den Lehren der Heiligen Schrift. Im besten Fall vermögen irgendwelche äußeren Vorstellungen von Religion uns wachzurütteln und zu bewegen, unseren Blick nach innen zu lenken und unsere Herzen zu erforschen. Erst wenn wir erfahren haben, was es heißt, in unserem Herzen zu lesen, dann werden wir aus den Lehren der Kirche und der Bibel Nutzen ziehen.
Die Selbsterkenntnis läßt natürlich Grade zu. Es gibt wohl keinen, dem jede Selbsterkenntnis mangelte; und sogar der fortgeschrittenste Christ erkennt sich selbst nur „stückweise“. Die meisten Menschen begnügen sich jedoch mit einer geringfügigen Kenntnis ihres Herzens und daher auch mit einem oberflächlichen Glauben. Auf diesen Punkt möchte ich gern näher eingehen. Die Menschen geben sich zufrieden, auch wenn sie zahllose geheime Fehler haben. Sie machen sich keine Gedanken darüber, weder daß es Sünden, noch daß es Hindernisse für die Glaubenskraft sind; sie leben in den Tag hinein, als ob sie nichts zu lernen hätten.
Wir wollen eines aufmerksam betrachten. Es besteht der starke Verdacht, daß wir alle bedenkliche, verborgene Fehler haben. Ich glaube, alle anerkennen bereitwilligst diese Tatsache wenigstens in allgemeinen Ausdrücken; wiewohl es wenigen zusagt, ruhig und praktisch darüber nachzusinnen, wie ich es jetzt tun möchte.
1. Die einfachste Methode, uns vom Vorhandensein verborgener Fehler zu überzeugen, ist die Erwägung, wie leicht wir die verborgenen Fehler der anderen sehen. Schon von vornherein besteht für uns aller Grund zu der Annahme, daß wir uns nicht wesentlich von den Menschen unserer Umgebung unterscheiden. Und sehen wir bei ihnen Sünden, die sie nicht sehen, so besteht der Verdacht zurecht, daß sie bei uns ihre eigenen Entdeckungen machen, die zu erfahren uns überraschen würde. Ein Beispiel: Wie leicht bildet sich der Zornmütige ein, er habe sich ganz in der Gewalt. Schon die Beschuldigung gegen ihn, daß er zornmütig ist, wird seinen Zorn steigern. ja, auf der Höhe seiner Erregung wird er erklären, daß er klar und unparteilich zu denken und zu urteilen vermöge. Es kann sehr wohl sein, daß er ein andermal in die Lage kommt, den gleichen Fehler an uns zu beobachten: oder aber: neigen wir von Natur aus nicht zu leidenschaftlicher Heftigkeit, so können wir doch wenigstens anderen uns ebenfalls unbekannten Sünden unterworfen sein, die ihm ebensogut bekannt sind, wie uns sein Zorn. Da gibt es z. B. Leute, die vorwiegend aus Eigennutz handeln, wo sie aus Hochherzigkeit oder Tugend zu handeln vermeinen. Sie sind freigebig oder geben sich viel Mühe und ernten dafür eigenes und der Menschen Lob, als ob sie aus hoher Auffassung handelten. Genaue Beobachter hingegen können feststellen, daß Gewinnsucht, Gefallsucht, falsche Scham oder das bloße Behagen an Geschäftigkeit und Regsamkeit das Hauptmotiv ihrer guten Taten ist. Das mag bei uns so gut der Fall sein wie bei anderen. Und ist es das nicht, so ist es doch eine ähnliche Schwäche, die Fessel irgendwelcher anderer Sünde oder Sünden, die andere bemerken, wir aber nicht.
Angenommen jedoch, kein Mensch entdeckte an uns eine Sünde, die wir nicht auch selbst wüßten – obschon dies eine kühne Voraussetzung ist -, warum denn sollte das zufällige Wissen anderer um uns das Ausmaß unserer Unvollkommenheiten begrenzen? Spräche die ganze Welt gut von uns, begrüßten die Guten uns als ihre Brüder, es lebt gleichwohl ein Richter, der Herzen und Nieren durchforscht. Er kennt unseren wahren Zustand. Haben wir Ihn aber ernstlich angefleht, uns die Erkenntnis unseres eigenen Herzens zu lehren? Wenn nicht, dann spricht schon diese Unterlassung gegen uns. Wäre auch unser Lob in der ganzen Kirche verbreitet, wir können sicher sein, Er sieht Sünden ohne Zahl an uns, Sünden tief und häßlich, von denen wir keine Vorstellung haben. Sieht schon ein Mensch soviel Übles an der Menschennatur, was muß erst Gott sehen! Wenn uns unser Herz verurteilt, ist Gott noch größer als unser Herz und Er weiß alles“ [1 Jo 3, 20]. Nicht die sündigen Handlungen allein, die uns unbekannt sind, bucht Er gegen uns, sondern auch die Gedanken des Herzens. Die Regungen des Stolzes, der Eitelkeit, der Habgier, der Unreinheit, der Unzufriedenheit, des Grolles: all dies wogt im Wechsel in uns durcheinander den ganzen Tag in den Augenblicken der Erregung und ist Ihm bekannt. Wir kennen diese Fehler nicht, aber wie sehr muß uns daran gelegen sein, sie zu erkennen!
2. Das ist der Gedanke, der sich uns schon beim ersten Blick auf die Frage nahelegt. Aber denkt einmal nach über die tatsächlichen Enthüllungen unserer geheimen Schwächen, die durch Zufälligkeiten hervorgerufen werden. Petrus folgte Christus mit Mut; aber er hatte keinen Argwohn gegen sein eigenes Herz, bis es ihn in der Stunde der Versuchung verriet und dazu verführte, seinen Herrn zu verleugnen. David verbrachte Jahre frohen Gehorsams, solange er ein privates Leben führte. Welch ruhiger, hellsichtiger Glaube offenbart sich in der Antwort, die er vor seinem Kampf mit Goliath an Saul richtete. „Der Herr, der mich entrissen den Klauen des Löwen und den Tatzen des Bären, Er wird mich auch erretten aus der Hand dieses Philisters da“ (1 Sm 17, 37). Ja, nicht nur in der Zurückgezogenheit, auch in strenger Prüfung und während Saul ihn bedrängte, beharrte er in seiner Treue zu Gott. So lebte er Jahr für Jahr, ließ stark werden Sein Herz und übte sich in der Furcht des Herrn; aber Macht und Reichtum schwächten seinen Glauben und gewannen eine Zeitlang die Oberhand über ihn. Es gab eine Zeit, da ein Prophet ihm entgegenschleudern konnte: .,Du bist der Mann“ (2 Sm 12, 7), den du da verurteilst. In Worten war er zu seinen Grundsätzen gestanden, aber im Herzen waren sie ihm verloren gegangen. Ezechias ist ein zweites Beispiel eines religiösen Menschen, der Bedrängnis tapfer ertrug, aber für kurze Zeit unter der Versuchung des Glückes schwach wurde und dies, nachdem er ganz außerordentlicher Gnaden gewürdigt worden war.
Geschieht dies aber an den bevorzugten Heiligen Gottes, was mag dann wohl in Seinen Augen unser eigener wahrer, geistlicher Zustand sein? Ein ernster Gedanke! Die Warnung, die sich daraus ergibt, ist diese: Niemals denken, wir hätten die richtige Selbsterkenntnis, bis wir den mannigfaltigsten Versuchungen gegenübergestanden und auf der ganzen Linie erprobt sind. Unversehrtheit unseres Charakters in einer Richtung garantiert nicht Unversehrtheit in einer anderen. Wir können nicht sagen, wie wir handeln würden in Versuchungen, die anders sind als die, welche wir bisher erlitten haben. Dieser Gedanke sollte uns in der Demut erhalten. Wir sind Sünder, wissen aber nicht wie große. Er allein weiß es, der für unsere Sünden in den Tod ging.
3. Soviel müssen wir eingestehen: dort, wo wir nicht durch Versuchung erprobt sind, fehlt uns auch die Selbsterkenntnis. Aber gehen wir noch weiter: wie ist es, wenn wir uns selbst dort nicht kennen, wo wir wirklich erprobt und treu erfunden worden sind? Es ist ein bemerkenswerter Umstand, der oft beobachtet worden ist, daß ein Blick auf die hervorragendsten Heiligen der Schrift uns zeigt, wie ihre dort aufgezeichneten Fehler gerade in jenen Stücken ihres Pflichtenkreises vorkamen, in denen ein jeder am tiefsten erprobt war und im allgemeinen den vollendetsten Gehorsam gezeigt hatte. Der gläubige Abraham hat aus Mangel an Glauben seine Frau verleugnet. Moses, der mildeste der Menschen, ward um eines ungezügelten Wortes willen vom Lande der Verheißung ausgeschlossen. Die Weisheit Salomons wurde verführt, sich vor Götzenbildern zu beugen. Auch Barnabas, der „Sohn des Trostes“ [Apg 4, 36], hatte einen scharfen Streit mit dem heiligen Paulas. Wenn also Männer, die zweifelsohne eine bessere Selbsterkenntnis hatten als wir, so viel an verborgener Schwachheit in sich trugen, sogar in jenen Teilen ihres Charakters, wo sie ganz frei von Tadel gewesen waren, was sollen dann wir von uns denken? Und sind schon unsere Tugenden mit Unvollkommenheiten befleckt, wie groß müssen dann erst die unbekannten, vielfältigen Umstände des Bösen sein, welche die Schuld unserer Sünden erschweren? Das ist das dritte, was von vornherein gegen uns spricht.
4. Denkt auch an das Folgende. Beginnt einer sich zu prüfen und (mit David) in unserem Vorsprach um Selbsterkenntnis zu bitten, dann wird er in sich eine Unmenge von Fehlern entdecken, die er vorher gar nicht oder fast gar nicht sah. Dieser Tatbestand erhellt aus der Lebensbeschreibung guter Menschen und aus unserer eigenen Erfahrung mit anderen. So kommt es, daß die besten Menschen auch immer die demütigsten sind; denn da sie eine höhere Vorstellung von der sittlichen Vollkommenheit als die andern und eine tiefere Selbsterkenntnis haben, sehen sie etwas von der Breite und Tiefe ihrer eigenen sündigen Natur und sind entsetzt über sich selbst. Die meisten Menschen können das nicht verstehen. Und wenn sich manchmal die gewohnte Selbstverurteilung religiöser Menschen in Worten Luft macht, so glauben sie, es komme von Affektiertheit oder von zufälliger Melancholie und Unruhe. In Wahrheit aber ist das Bekenntnis eines guten Menschen gegen sich selbst ein Zeugnis gegen alle gedankenlosen Leute, die es hören, und ein Mahnruf, ihre eigenen Herzen zu prüfen. Es ist kein Zweifel, je mehr wir uns selbst erforschen, um so mehr entdecken wir in uns unsere Unvollkommenheit und Unwissenheit.
5. Aber selbst wenn ein Mensch bis zu seinem Todestag in Gebet und Wachsamkeit verharrt, er wird doch nie die Tiefen seines Herzens ergründen. Obwohl er sich immer besser erkennt, je gewissenhafter und ernster er wird, so bleibt doch die volle Offenbarung der darin verborgen liegenden Geheimnisse einer anderen Welt vorbehalten. Wer aber kann den Schrecken und das Grauen eines Menschen am letzten Tage ermessen, der auf Erden nur sich selbst lebte, seinem eigenen bösen Willen fröhnte, seinen eigenen Zufallsgedanken über Wahrheit und Irrtum sich überließ, dem Kreuz und der Schmach Christi aus dem Wege ging, wenn am Throne Gottes schließlich seine Augen geöffnet werden und die Unzahl seiner Sünden, die gewohnheitsmäßige Mißachtung Gottes, der Mißbrauch seiner Talente, die falsche Anwendung- und die Vergeudung seiner Zeit, die ursprüngliche, unerforschte Sündhaftigkeit seiner Natur ihm klar und lückenlos zum Bewußtsein gebracht werden? Ja, selbst für die treuen Diener Christi ist der Ausblick voll des Schreckens. Werden wir doch belehrt: „Kaum der Gerechte wird gerettet“ (1 Petr 4, 18). Dann wird der Gute den vollen Anblick seiner Sünden aushalten müssen, um den er sich auf Erden mühte und den er auch teilweise erlangte; wenn auch das Leben nicht lange genug war, um sie alle zu erkennen und zu meistern. Es ist kein Zweifel, wir alle müssen diesen ungeheuren und erschreckenden Anblick unseres wahren Selbst aushalten, jene letzte Feuerprobe [Kor 3, 13] über unserer Seele, bevor sie Gott wohlgefällt, einen geistigen Todeskampf und einen zweiten Tod für alle, die in diesem Augenblick nicht durch die Kraft Dessen gestützt werden, der den Tod erlitt, um sie heil durchzubringen und an den sie auf Erden geglaubt haben.
Meine Brüder! Ich wende mich an euren Verstand, ob diese meine Annahmen nicht im wesentlichen richtig sind. Wenn ja, dann wende ich mich an euer Gewissen mit der Frage, ob sie euch neu sind; denn wenn ihr nicht einmal über euren wahren Zustand nachgedacht habt und nicht einmal wißt, wie gering euer Wissen um euch selbst ist, wie könnt ihr euch dann in vollem Ernst für die nächste Welt läutern oder den engen Weg beschreiten?
Und doch, wie zahlreich sind die Möglichkeiten, daß auch verschiedene meiner Zuhörer eine nicht genügende Selbsterkenntnis, noch ein Gespür für ihre Unwissenheit haben und also ihr Seelenheil gefährden. Christi Diener wissen nicht, wer zu den wahren Auserwählten gehört und wer nicht. Aber bedenkt man die Schwierigkeiten auf dem Weg zur richtigen Selbsterkenntnis, dann erhebt sich für jeden von euch die äußerst ernste und unaufschiebbare Frage, ob er ein Leben der Selbsttäuschung lebt oder nicht und über den Zustand seiner Seele weit vorteilhafter denkt, als er irgend ein Recht hat. Denn haltet euch die Hindernisse vor Augen, die auf dem Weg zu einer echten Selbsterkenntnis oder zu dem Empfinden für eure Unwissenheit liegen, und dann urteilt!
1. Zu allererst, Selbsterkenntnis kommt nicht von selbst; sie bedeutet Anstrengung und Arbeit. Ebenso gut können wir annehmen, daß die Kenntnis der Sprachen von selbst kommt, wie dass Vertrautheit mit unserem eigenen Herzen natürlich ist. Die meisten Menschen empfinden schon die Mühe einer ständigen Besinnung als etwas Schmerzhaftes; ganz zu schweigen von der Schwierigkeit echter Besinnung. Uns selbst zu befragen nach dem Grund unseres Tuns und Lassens, uns Rechenschaft zu geben über die Grundsätze, die uns leiten, zu sehen, ob wir aus Gewissensgründen handeln oder aus einem niedrigeren Beweggrund, ist schmerzhaft. Unsere irdische Aufgabe nimmt uns in Anspruch, und was wir an Muße übrig haben, nützen wir gern zu Beschäftigungen, die nicht so streng und mühsam sind.
2. Dazu kommt unsere Eigenliebe. Wir hoffen immer das Beste; das erspart uns die Mühe der Selbstprüfung. Die Eigenliebe verbürgt uns unsere Sicherheit. Wir fühlen uns hinreichend gesichert, wenn wir wenigstens die Möglichkeit zugeben, daß wir gewisse verborgene Fehler haben. Wir stellen sie sogar in Rechnung, wenn wir mit unserem Gewissen Bilanz machen. Dagegen würden wir bei klarer Erkenntnis der Wahrheit finden, daß wir nichts als Schulden haben, und zwar größere als wir vermuten und in stets wachsender Zahl.
3. Dieses günstige Urteil über uns macht sich besonders dann geltend, wenn wir das Unglück haben, uns ununterbrochener Gesundheit, gehobener Stimmung und häuslicher Behaglichkeit zu erfreuen. Körperliche und seelische Gesundheit ist ein großer Segen, wenn wir ihn zu ertragen vermögen; wird sie aber nicht durch Wachsamkeit und Fasten [2 Kor 11, 27] in Zucht gehalten, dann verführt sie einen Menschen gewöhnlich zu der falschen Meinung, er sei viel besser, als er tatsächlich ist. Widerstand gegen unser rechtes Handeln, komme er von außen oder von innen – wird zum Prüfstein unserer Grundsätze. Geht aber alles ohne Reibung ab, und brauchen wir nur einen Wunsch zu hegen, um ihn auch schon erfüllt zu sehen; dann läßt sich schwer sagen, ob und wie weit wir aus Pflichtbewußtsein handeln. Ist ein Mensch in guter Stimmung, dann findet er an allem Freude; und vor allem an sich selber. Er kann kraftvoll und zügig handeln, verwechselt aber diese rein körperliche Kraft mit Glaubensstärke. Er ist fröhlich und zufrieden und verwechselt dies mit christlichem Frieden. Ist er glücklich im Familienleben, dann verwechselt er diese rein natürliche Zuneigung mit christlicher Güte und mit der Stetigkeit christlicher Liebe. Kurz, er lebt in einem Traumzustand, vor dem ihn nur eine tiefe Demut bewahren kann und aus dem ihn für gewöhnlich nur eine schwere Trübsal erretten wird. Es gibt noch andere Zufälligkeiten, die häufig die Ursache ähnlicher Selbsttäuschung sind. Wir kennen uns selbst nicht, solange wir uns dem Strom der Welt entziehen; noch auch nach Zeiten großer Gnaden oder Prüfungen, die uns sehr berührten und uns eine Zeitlang stark zum Gehorsam antrieben; noch kennen wir uns, während wir entschlossen ein gutes Werk erstreben, welches das Herz anspornt und uns eine Zeitlang gegen Versuchungen unempfindlich macht. In all diesen Fällen erliegen wir der Neigung, über uns selbst viel zu gut zu denken. Die Welt ist abgetan oder wir fühlen uns wenigstens gegen ihre Verlockungen gefeit; dann verwechseln wir diese zeitweilige Seelenruhe oder die übersteigerte Glut unseres Herzens mit christlichem Frieden, beziehungsweise mit christlichem Eifer.
4. Im folgenden wollen wir die Macht der Gewohnheit ins Auge fassen. Zuerst warnt uns das Gewissen vor der Sünde; mißachten wir es aber, dann hören seine Vorwürfe auf, und so kommt es, daß früher erkannte Sünden bald zur geheimen Sünde werden. Es scheint also – ein bestürzender Gedanke! -, daß wir, je mehr wir in Schuld sind, es um so weniger wissen, denn je öfter wir sündigen, um so weniger sind wir darüber betrübt. Ich glaube, viele von uns kommen bei einigem Nachdenken auf Beispiele persönlichen Erlebens: daß wir allmählich vergaßen, Dinge, an denen wir einst erschraken, überhaupt noch für Sünde zu halten. So groß ist die Macht der Gewohnheit. Sie ist z. B. schuld daran, daß die Menschen sich Unehrenhaftigkeiten der verschiedensten Art gestatten. Im Geschäftsleben bringen sie es fertig, Lügen für Wahrheiten auszugeben, oder Zweifelhaftes für sicher. Sie übervorteilen und betrügen. Noch mehr aber kommen sie in die Gefahr, ganz unmerklich nach niederen und selbstsüchtigen Methoden zu handeln, unterdessen aber in der Beobachtung der christlichen Vorschriften zu beharren. ja den Schein religiösen Lebens zur Schau zu tragen. Oder aber sie haben sich daran gewöhnt, ihren Lüsten zu fröhnen, über das Maß zu essen und zu trinken, in ihren häuslichen Veranstaltungen eine unnötige Pracht und Verschwendung zu entfalten, ohne daß es sie stört; viel weniger denken sie noch an die christliche Pflicht der Einfachheit und Enthaltsamkeit. Es ist aber kaum vorstellbar, daß sie diese gegenwärtige Lebensweise stets für berechtigt angesehen haben, denn die anderen sind heute noch über deren Unschicklichkeit betroffen. Was aber andere jetzt empfinden, das haben sie zweifelsohne früher auch empfunden Das eben ist die Macht der Gewohnheit. Nehmt wiederum als drittes Beispiel das pflichtmäßige und geregelte Privatgebet. Zuerst schafft es Gewissensunruhe, daß man es unterließ, bald aber läßt es einen gleichgültig. Aber es ist deswegen nicht weniger Sünde, weil wir nicht mehr das Empfinden dafür haben. Die Gewohnheit hat es zur geheimen Sünde gemacht.
5. Zur Macht der Gewohnheit kommt hinzu die Macht der Gepflogenheit. Jedes Zeitalter hat seine verkehrten Wege. Diese aber üben eine solche Macht aus, daß selbst die Guten allein dadurch, daß sie in der Welt leben, unbemerkt durch sie in die Irre geführt werden. Zu gewissen Zeiten herrschte eine heftige gehässige Verfolgung der Irrlehrer im christlichen Glauben, ein andermal eine verwerfliche Überschätzung des Reichtums und seiner Fundgruben, dann wieder eine unheilige Verehrung der reinen Verstandeskräfte; ein andermal eine Lockerung der Sitten und wiederum eine Mißachtung des Brauchtums der Kirche und ihrer Zucht. Auch Menschen von tiefer Religiosität erfahren an sich, wenn sie nicht besonders wachsam sind, den machtvollen Einfluß der Zeitströmungen und leiden unbewußt darunter, wie einst Lot in dem gottlosen Sodoma gelitten hat. Aber es ändert nichts an der Natur der Sünde, daß sie dieses Unheil nicht kennen. Sünde bleibt Sünde, nur daß die herrschende Sitte sie zur geheimen Sünde macht.
Welches aber ist unser Leitstern inmitten der bösen und verführerischen Sitten der Welt? Zweifellos: die Bibel. „Die Welt vergehet, aber das Wort unseres Herrn bleibet ewiglich“ (Js 40, 8; 1 Petr 1, 24. 25; 1 Jo 2, 17). Wie ausgedehnt und festgewurzelt aber muß diese geheime Herrschaft der Sünde über uns sein, wenn wir erwägen, wie wenig wir die Heilige Schrift lesen! Es ist wahr, unser Gewissen wird verdorben, aber die Worte der Wahrheit bleiben, selbst wenn sie uns aus dem Geist entschwunden sind, in der Heiligen Schrift niedergelegt, leuchtend in ewiger Jugend und Reinheit. Wir jedoch beschäftigen uns nicht mit der Heiligen Schrift, um daran unsern Geist wachzurufen und frisch zu erhalten. Fragt euch selbst, meine Brüder, was wißt ihr von der Bibel? Habt ihr auch nur einen Teil daraus und diesen vollständig und mit Sorgfalt gelesen?, z. B. eines von den Evangelien? Wißt ihr von den Worten und Werken unseres Heilandes viel mehr als das, was man in der Kirche zu hören bekommt? Habt ihr Seine Vorschriften oder die des heiligen Paulus oder eines anderen Apostels zum Vergleich herangezogen mit eurem täglichen Verhalten? Habt ihr darum gebetet und habt ihr euch bemüht, danach zu handeln? Habt ihr es getan, dann ist es in Ordnung; aber fahret fort damit. Habt ihr es aber nicht getan, dann habt ihr offensichtlich keinen vollen Begriff von jener christlichen Vollkommenheit, nach der ihr streben müßt, denn ihr habt euch gar nicht darum bemüht. Es fehlt euch dann das ausreichende Wissen um eure tatsächliche Sündhaftigkeit. Ihr zählt zu jenen, „die nicht an das Licht kommen, damit ihre Werke nicht getadelt werden“ [Jo 3, 20].
Diese Hinweise sollen uns dazu helfen, uns tief die Schwierigkeit einzuprägen, zu wahrer Selbsterkenntnis zu gelangen und der infolgedessen drohenden Gefahr zu begegnen, wir möchten unserer Seele Frieden zusprechen, wo kein Friede ist. Es ist klar: vieles hat sich gegen uns verschworen. Aber ist denn unser künftiger Preis den Kampf nicht wert? Lohnt es sich nicht, im gegenwärtigen Leben Unannehmlichkeit und Schmerz zu ertragen, um dem unauslöschlichen höllischen Feuer zu entkommen? Ist nicht der Gedanke unerträglich, ins Grab zu steigen mit einer Last von Sünden über unserem Haupte, die wir weder erkannt noch bereut haben? Dürfen wir uns mit einem so nichtssagenden Glauben an Christus begnügen, daß er nicht einmal ein genügendes Maß von Selbsterniedrigung, Dankbarkeit, Sehnsucht oder Streben nach Heiligkeit in sich schließt? Wie wollen wir ein Empfinden haben für die Unentbehrlichkeit Seiner Hilfe, unsere Abhängigkeit von Ihm, unsere Schuldigkeit gegen Ihn oder für das Wesen Seiner Gaben an uns, ohne die Selbsterkenntnis? Wie kann man nur in etwa von uns sagen, wir hätten den „Geist Christi“ [Röm 8, 9], zu dem der Apostel uns ermahnt, wenn wir Ihm nicht folgen können weder zur Höhe oben noch zur Tiefe unten; wenn wir nicht in etwa die Ursache und den Sinn Seiner Schmerzen erkennen, sondern Welt und Menschheit und die Zusammenhänge der Vorsehung in einem ganz anderen Licht ansehen, als Seine Worte und Taten es wollen? Wenn ihr die geoffenbarte Wahrheit nur mit Augen und Ohren empfanget, glaubt ihr an Worte, aber nicht an Tatsachen; ihr betrügt euch selbst. Ihr möget euch für rechtgläubig halten, aber in Wahrheit ist euer Wissen nichts. Gehorsam gegen Gottes Gesetze, der das Wissen um Sünde und Heiligkeit, ebenso das Verlangen und das Bestreben, Ihm zu gefallen, voraussetzt: das ist die einzige, praktische Auslegung der Schriftlehre. Ohne die Selbsterkenntnis ist man nicht in seiner eigenen Person verwurzelt. Eine Zeitlang hält man aus, aber der Glaube wird in Drangsal und Verfolgung nicht andauern. Das ist der Grund, warum viele in unseren Tagen (und zu allen Zeiten) zu Ungläubigen, Irrgläubigen, Abtrünnigen und pflichtvergessenen Kirchenverächtern werden. Sie werfen die äußere Hülle der Wahrheit von sich, denn sie war ihnen nie mehr als eine Hülle. Sie haben keine Ausdauer, denn sie haben noch nie Gottes Güte erfahren. Sie haben nie ein persönliches Erleben von Seiner Macht und Liebe gehabt, da sie nie ihre eigene Schwäche und Not erkannten. Für manche aus uns mag dies die Lage werden morgen, wenn wir heute unser Herz verhärten: Abfall. Es kann schon in dieser Welt ein Tag kommen, wo wir uns als offene Feinde Gottes und der Kirche entpuppen.
Aber sollte uns diese Schande für jetzt erspart sein, was soll dem Menschen zu guter Letzt der Glaube ohne das Begreifen helfen, wenn er behauptet, er habe Glauben, aber es fehlen ihm die Werke [Jak 2,14] In diesem Fall bleiben wir verkümmerte Reben im Weinberg Gottes, ohne Kraft des Wachstums: unfruchtbar. Am Ende aber werden wir in Schande stehen vor Christus und den heiligen Engeln „als herbstliche Bäume, doppelt gestorben, ausgerissen mit der Wurzel“ [Jud 12], selbst wenn wir in äußerer Gemeinschaft mit der Kirche sterben. Daran zu denken, ja daran zu erschrecken, das ist der erste Schritt zu einem Gehorsam, der gottgefällig ist. Der Sorglose hat keine Sicherheit. Man wird uns drüben zwingen, das Übel der Sünde zu begreifen, wenn wir es hier nicht lernen. Gott gebe uns allen die Gnade, hier auf Erden den Schmerz der Reue zu wählen, noch vor dem Anbruch Seines Zornes.
Aus Pfarr- und Volkspredigten, I. Band, Schwabenverlag, Stuttgart 1948, S. 46-63.