5. Predigt vom 22. Dezember 1833
„Nun ist es hohe Zeit, vom Schlafe aufzuwachen« (Röm 13, 11).
Wenn Paulus an dieser Stelle von „Schlaf spricht, so meint er einen Zustand der Unempfindlichkeit gegenüber den Dingen, wie sie tatsächlich in Gottes Augen sind. Schlafen wir, so sind wir dem Getriebe dieser Welt entzogen, als ob wir mit ihr nichts mehr zu tun hätten. Es geht ohne uns weiter; oder, selbst wenn unser Schlaf unterbrochen wird und wir eine schwache Vorstellung von Menschen und Vorgängen beibehalten, wenn uns ein Laut oder ein Satz zu Ohren kommt oder wir ein Gesicht sehen, dann sind wir trotzdem nicht fähig, die Außenwelt in ihrer wahren Wirklichkeit aufzunehmen. Die Dinge werden Teil unseres Traumes und verzerren sich so, daß sie kaum mehr eine Ähnlichkeit mit ihrer wahren Gestalt haben. In der gleichen Lage befinden sich die Menschen gegenüber der religiösen Wahrheit. Gott ist immer der Allmächtige und Allwissende. Er thront im Himmel und prüft die Nieren und die Herzen. Zu Seiner Rechten ist Jesus Christus, unser Herr und Erlöser. Ihm dienen Zehntausende von Engeln und Heiligen, verzückt in heiliger Gottesschau, oder aber ausgesandt zu den Werken der Liebe, auf ihren Pfaden die Welt unten mit Seinem Hofstaat oben verbindend; sie eilen hin und her gleichwie auf der Leiter, die Jakob erblickte. Diese herrliche, unsichtbare Welt ist uns hauptsächlich durch die Bibel enthüllt worden, zum Teil aber auch durch den Gang der Natur, durch das Gewoge der menschlichen Ansichten, zum Teil auch durch die Eingebungen des Herzens und Gewissens: und alle diese Erkenntnisquellen werden von der heiligen Kirche aufgenommen und zusammengefaßt. Sie ist ja die Heroldin dieser Botschaft an die ganze Erde und bringt sie mit Macht dem Geist der einzelnen bei, teils durch unmittelbare Belehrung, teils durch die Zeugenschaft schon ihrer Form und Gestalt. So flutet die Glaubenswahrheit gleich dem Tageslicht durch die ganze Welt; und noch der verborgenste Winkel empfängt von diesen gesegneten Strahlen. Auf diese Weise bietet sich das Bild eines christlichen Landes dar. Indes, wie steht es mit seinen Bewohnern! Die Worte des Vorspruchs gemahnen uns an deren Verfassung. Sie schlafen. Während die Diener Christi die Waffen des Lichtes gebrauchen und alles von Ihm kündet, „wandeln sie nicht ehrbar wie am Tage“ [Röm 13, 13]. Viele leben genau so, als ob gar kein Tageslicht über ihnen leuchtete, sondern die Nachtschatten noch währten. Der weitaus größere Teil ist zwar für die Verkündigung der großen Wahrheiten, die um sie herum geschieht, empfänglich, jedoch nur sehr schwer. Sie sehen und hören wie Menschen im Traum. Sie vermengen das heilige Wort Gottes mit ihren eigenen eitlen Träumereien. Sind sie für einen Augenblick aufgeschreckt, dann sinken sie schnell in den Schlummer zurück. Sie lassen sich gar nicht wecken und meinen, ihre Seligkeit bestünde darin, daß sie so bleiben, wie sie sind.
Meine Brüder! Ich glaube nicht einen Augenblick daran, daß ihr in dem Schlaf der Sünde seid. Solch einen jämmerlichen Zustand möchte ich im allgemeinen nur bei wenigen Menschen, am wenigsten hier an diesem Orte, voraussetzen. Aber trotz dieses Zugeständnisses befürchte ich aus ernsten Gründen, daß sehr viele von euch nicht hellwach sind; daß eure Träume zwar gestört, aber doch Träume sind. Ihr glaubt den rechten Blick für die Religion zu haben, es ist jedoch nicht jene Schau der Wahrheit, die ihr hättet, wären eure Augen offen; es ist vielmehr das verschwommene, fehlerhafte und verschrobene Bild, wie es ein Mensch sieht, wenn er schläft. Aber, wie dem auch sein mag, es ist von Nutzen (und Gott gebe es), wenn jeder von euch sich die Frage vorhält: Wie weiß ich, ob ich auf dem rechten Weg bin? Wie erkenne ich, ob ich den wahren Glauben habe und nicht träume?
Unsere Zeitverhältnisse machen die Beantwortung dieser Frage sehr schwierig. Sie war verhältnismäßig leicht in einer Zeit, als die Welt gegen das Christentum war. Die Welt von heute ist aber in einem gewissen Sinn dafür. Ich meine nicht, daß es keine gesetzeslosen Störenfriede gäbe, welche die Welt in Unordnung bringen würden, wenn sie könnten; Religionshasser, die jede Art von bestehender Ordnung, die in der Religion verwurzelt ist oder mit ihr in Zusammenhang steht, zu stürzen wünschten. Es gibt ohne Zweifel sehr viele dieser Art; aber von solchen hat die Religion nichts zu fürchten. Der Glaube hat in Zeiten der Verfolgung immer geblüht und an Stärke gewonnen. Wir haben das Gegenteil zu fürchten, daß nämlich alles im Lande, was Rang und Stellung, Intelligenz und Reichtum hat, sich zur Religion bekennt. Unsere Befürchtung wurzelt gerade in der Tatsache, daß die öffentlichen Einrichtungen unseres Landes auf der Anerkennung der Religion als der Wahrheit aufgebaut sind. Aller Ehren wert sind die Männer, die dieses Fundament legten. Bedauernswert ist die Schuld derer, die den Versuch machten und zum Teil mit Erfolg, dieses heilige Fundament zu erschüttern. Aber oft kommt es vor, daß unsere bittersten Feinde gar nicht unsere gefährlichsten sind; andererseits sind die größten Segnungen für den Unachtsamen die ernsteste Versuchung. Unsere gegenwärtige Gefahr aber ist diese: der Umstand, daß jemand im allgemeinen religiös veranlagt ist, das Evangelium ehrt und sich zu ihm bekennt, ja bis zu einem gewissen Grade sich ihm unterwirft, fördert seine zeitlichen Belange in einem Maße, daß er sich schwer tut in seinem Urteil, ob der Beweggrund seines Handelns der Glaube ist oder die Gier nach irdischem Gewinn. Nur schwer lassen sich Unterscheidungsgründe finden, die ihn zur Wahrheit bewegen und sein Herz erproben, wie Jener es mit der Weisheit des Allmächtigen erprobt, der auf dem Throne sitzt. Es ist kaum zu leugnen, daß die Erfüllung der religiösen Pflichten bei einem Großteil der Gemeinde zur Mode wird in solchem Umfang, daß in den Augen vieler dieser Teil die „Welt“ ausmacht. Immer wieder erleben wir die Überraschung, daß Menschen ihre Hausandacht verrichten, die Heilige Schrift lesen, die heilige Kommunion empfangen, bei denen wir zunächst ein solches Bekenntnis zum Glauben gar nicht erwartet hätten. Wir hören, wie sie sich zu den hohen Wahrheiten des Neuen Testamentes bekennen und jene ermutigen, die sie hochhalten. All dies führt zu dem Resultat, daß es in dieser Welt unser Vorteil ist, uns als Jünger Christi zu bekennen.
Darüber hinaus müssen wir bemerken, daß trotz all dieses Bekenntniseifers für das Evangelium alle Anständigen unserer Tage Grund zu der Befürchtung geben, daß es gar nicht die echte Evangelienwahrheit ist, für die sie sich ereifern. Wir müssen ohne jeden Zweifel dankbar sein für jeden Menschen, der in einer der oben erwähnten Arten Ernst zeigt. Und dennoch ist irgendwie Grund vorhanden, ob der religiösen Art von heute unbefriedigt zu sein; unbefriedigt erstlich, weil diese Menschen oft sehr unbeständig sind; sie sprechen z. B. oft ehrfurchtslos und profan über heilige Dinge, belächeln sie und setzen sie herab; sie führen Reden gegen die heilige Kirche, gegen die Heiligen der früheren Zeiten, ja sogar gegen die bevorzugten Diener Gottes, die uns die Heilige Schrift vor Augen führt. Sie geben sich ab mit der Welt oder mit der schlimmeren Art von Menschen, auch wenn sie sich nicht gerade der Sprechweise dieser bedienen. Sie schenken ihre Aufmerksamkeit lieber diesen als den Dienern Gottes; oder aber sind sehr lau und lässig und so gewissenlos in ihrem Benehmen, daß sie anscheinend eher von bloßer Bequemlichkeit und Nützlichkeit als von Grundsätzen sich leiten lassen. Zweitens jedoch, ohne über diese Menschen als Einzelwesen urteilen zu wollen, ja wie es selbstredend unsere Pflicht ist. getragen von wohlwollender Gesinnung gegen sie, hege ich – ich muß es gestehen – Verdacht, wenn ich den Durchschnitt von ihnen als Symptom für den Stand der Dinge nehme, gegen jede Religion, die national oder zeitgebunden ist. Unser Heiland sagt: „Schmal ist der Weg“ [Mt 7,14]. Diese Worte sollten natürlich mit großer Vorsicht gedeutet werden, aber die Gesamtrichtung der Offenbarungsbücher führt zu der Annahme, daß Seine Wahrheit bei der Masse kein bereitwilliges Ohr findet und daß sie sich gegen den Strom menschlichen Fühlens und Denkens und gegen den Lauf der Welt stellt. Der Mensch selbst leistet ihr Widerstand auch da, wo er sie tatsächlich annimmt, nämlich durch den in ihm verbleibenden alten Menschen, und dann durch die andern alle, soweit diese sie noch nicht angenommen haben. „Das Licht, das im Finstern leuchtet“ [Jo 1, 5], das ist das Zeichen der wahren Religion. Es gibt ohne Zweifel Zeiten eines plötzlichen Enthusiasmus für die Wahrheit. Ein Beispiel hierfür ist die Geschichte des heiligen Johannes des Täufers, in dessen „Licht die Juden eine Zeitlang frohlocken wollten“ (Jo 5, 35), und das so sehr, daß sie „sich taufen ließen und ihre Sünden bekannten“ (Mt 3, 6). Aber solch eine Popularität der Wahrheit hat nur kurze Dauer, sie kommt plötzlich und geht plötzlich, entbehrt sie doch des gesunden Wachstums und des dauernden Bestandes. Nur der Irrtum wächst und ist willkommen in großem Maße. Schon St. Paul erhob seine warnende Stimme gegen die Annahme, daß die Wahrheit stets offene Herzen finden werde, so sehr sie auch nach außen verbreitet erscheint. Denn in seinem letzten Brief an Timotheus steht unter anderen betrübenden Ankündigungen, daß „böse Menschen und Verführer es immer ärger treiben werden“ (2 Tim 3, 13).
Der Wahrheit eignet in der Tat jene Kraft, daß sie die Menschen zum Bekenntnis im Worte zwingt; schreiten sie aber zur Tat, dann folgen sie nicht der Wahrheit, sondern irgend einem unterschobenen Idol. Macht man in einem Land viel Aufhebens um die Religion, beglückwünscht man sich gar ob des allgemeinen Interesses, das sie erregt, dann kann gerade deswegen ein vorsichtiger Geist sich eines Angstgefühls nicht erwehren, daß nicht die Wahrheit, sondern ihr Zerrbild zur Verehrung gelangt ist. Daß eher ein Traumbild der Menschen als die Wahrheit des Wortes Gottes populär geworden ist und daß das überkommene Lehrgut nur so viel an Wahrheit enthält, als notwendig ist, sie dem Verstand und Gewissen empfehlenswert zu machen, daß das, was den Jünger anzieht, mit einem Wort, nicht das Licht selbst ist, sondern Satan, der sich in einen Engel des Lichtes verkleidet. Wir leben, meine ich, in einer Zeit, wo gesellschaftliche Kreise, die auf Tugend und Ordnung halten, ein allgemeines Bekenntnis zur Religion als ehrenhaft und richtig ansehen. Ist dem so, dann darf eure Beunruhigung über euren Zustand vor Gott nicht abnehmen, sondern muß eher zunehmen. Und das aus zwei Gründen: erstens, weil ihr in Gefahr seid, aus weltlichen Beweggründen zu handeln, und zweitens, weil ihr um die Wahrheit vielleicht betrogen werdet durch irgend ein Blendwerk, das die Welt wie eine falsche Münze der Wahrheit unterschiebt.
Einige meiner Zuhörer leben wohl unter Verhältnissen, in denen sie fast gegen jedmöglichen Einfluß der Welt geschützt sind. Es gibt Menschen, die in der glücklichen Lage sind, geistliche Vorgesetzte zu haben, die sie nur zum Guten anleiten, menschenfreundlich und gottesfürchtig zugleich sind. Das ist ein Glück für sie, und sie sollen Gott für dieses Geschenk danken. Aber es ist für sie auch eine Versuchung. Sie sind zum mindesten einer der beiden oben erwähnten Versuchungen ausgesetzt. Gute Führung ist in ihrem Fall nicht nur eine Sache der Pflicht, sondern auch des Vorteils. Gehorsam gegen Gott bringt ihnen Lob ein bei Gott sowohl wie bei den Menschen, so daß sie nur schwer zur Erkenntnis kommen, ob sie richtig handeln um des Gewissens willen oder aus Rücksicht auf die Welt. In allen Schichten der bürgerlichen Gesellschaft begegnen die Menschen, mögen sie nun abgeschlossen in der Familie oder in der Welt leben, heuzutage durchweg der ernsten Gefahr, einer mehr als gewöhnlichen Gefahr der Selbsttäuschung, der Gefahr zu schlafen, während sie glauben wach zu sein.
Wie nun soll die Selbstprüfung vor sich gehen? Gibt es Beweiszeichen, die uns darin zu einer Sicherheit des Geistes kommen lassen? Unanfechtbare Beweise gibt es keine, noch Erkenntnisse bis zur vollen Sicherheit. Wir müssen uns dabei vor einer gewissen Ungeduld hüten, erfahren zu wollen, welches unser wirklicher Zustand ist. Auch St. Paul wußte, soweit wir darüber unterrichtet sind, bis zu seinen letzten Tagen nicht, ob er zu den Auserwählten Gottes gehöre, die nicht dem Untergang verfallen. Er sagte: „Zwar bin ich mir nichts bewußt, aber darum noch nicht gerechtfertigt“ (1 Kor 4, 4), d. h. obschon ich mir keiner Pflichtversäumnis bewußt bin, habe ich keine Sicherheit, daß ich Gott wohlgefällig bin. Urteilt über nichts vor der Zeit. So sagt er dann an einer anderen Stelle: „Ich züchtige meinen Leib und ringe ihn in die Dienstbarkeit, damit ich nicht etwa, nachdem ich andern gepredigt habe, selbst verworfen werde“ (1 Kor 9, 27). Obwohl nun eine absolute Sicherheit über unsere Erwählung zur Herrlichkeit unerreichbar und das Verlangen, sie zu erreichen, eine dem Sünder nicht wohl anstehende Ungeduld ist, so ist doch eine tröstliche Hoffnung erreichbar, ein schlichter, unterwürfiger Glaube, daß Gott uns um Christi willen (Sein Name sei gepriesen) verziehen und uns gerechtfertigt hat. Johannes spricht es aus mit den Worten: „Wenn unser Herz uns nicht verurteilt, so haben wir Zuversicht zu Gott“ (1 Jo 3, 21). Es ist nur die Frage, wie wir diese Zuversicht unter den gegebenen Umständen gewinnen sollen. Worin besteht sie?
Ich sagte schon, wären wir in einem heidnischen Lande, dann wäre die Beantwortung leicht. Schon das Bekenntnis zum Evangelium würde fast den sicheren Beweis, soweit das möglich ist, für die Echtheit des Glaubens liefern; denn ein solches Bekenntnis unter Heiden würde ziemlich sicher zur Verfolgung führen. Deswegen sind die Apostelbriefe so voll von Äußerungen der Freude im Herrn Jesus und jubelnder Hoffnung auf Erlösung. Wer um Christi willen gelitten hat, der hat allen Grund, voller Zuversicht zu sein. „Die Trübsal wirket Geduld, die Geduld Bewährung, Bewährung aber Hoffnung“ (Röm 5, 3. 4). „Übrigens sei mir niemand lästig, denn ich trage die Wundmale Jesu an meinem Leibe“ (Gal 6, 17). „Immer tragen wir Jesu Sterben an unserem Leibe, damit auch das Leben Jesu an unserem Leibe sichtbar werde“ (2 Kor 4, 10). „So ist unsere Hoffnung für euch festgegründet, da wir wissen, daß, wie ihr Mitgenossen der Leiden seid, ihr es auch im Troste sein werdet“ (2 Kor 1, 7). Diese und ähnliche Texte finden ihre Anwendung nur auf solche, die gleich den ersten Christen Zeugnis für die Wahrheit abgelegt haben. Sie überragen uns.
Das ist gewiß: da jedoch das Wesen des christlichen Gehorsams zu allen Zeiten das gleiche ist, so bringt es, damals wie heute, die Sicherheit des göttlichen Wohlgefallens mit sich. Unsere Sicherheit, daß wir zur Zahl der wahren Diener Gottes gehören, kann nicht so groß sein wie die der ersten Christen, dennoch können auch wir einen gewissen Grad von Sicherheit haben, und zwar durch dieselbe Art von Erweis, den Erweis der Selbstverleugnung. Das war der große Erweis bei den ersten Jüngern; denselben können auch wir heute noch erbringen. Denkt an die schlichte Erklärung unseres Heilandes: „Wer Mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge Mir nach“ (Mk 8, 34). „Wenn jemand zu Mir kommt und hasset nicht Vater und Mutter und Weib und Kinder und Brüder und Schwestern, ja auch sogar sein eigenes Leben, der kann Mein Jünger nicht sein, und wer sein Kreuz nicht trägt und Mir nachfolgt, der kann Mein Jünger nicht sein“ (Lk 14, 26. 27). „Und wenn dich deine Hand ärgert, so haue sie ab … und wenn dein Fuß dich ärgert, so hau ihn ab, wenn dein Auge dich ärgert, so reiß es heraus. Es ist dir besser verstümmelt … als Krüppel … und mit einem Auge in das Leben einzugehen, als in die Hölle geworfen zu werden“ (Mk 9, 42-46). Ich will keinen Versuch machen, Stellen wie diese voll auszudeuten. Können sie doch – daran ist kein Zweifel – nicht verstanden werden ohne die Fülle der Gnade, die aber nur sehr wenige besitzen. Aber diese eine Lehre erhellt daraus, daß harte Selbstverleugnung uns zur Hauptpflicht gemacht ist; ja, man kann sie sogar als den eigentlichsten Prüfstein dafür ansehen, ob wir Christi Jünger sind, ob wir im Traumland leben, fälschlich aber meinen, damit im christlichen Glauben und Gehorsam zu stehen, oder ob wir wirklich hellwach und lebendig wie am hellen Tage und auf dem Weg zum Himmel sind. Die ersten Christen gingen durch die Schule der Selbstverleugnung gerade dadurch, daß sie sich zum Evangelium bekannten. Worin bestehen die Arten unserer Selbstvergleugnung jetzt, da das Bekenntnis zum Evangelium keine Selbstverleugnung mehr ist? In welchem Sinn erfüllen wir die Worte Christi? Wissen wir mit Bestimmtheit, was mit dem Ausdruck „Unser Kreuz auf uns nehmen“ gemeint ist? Wie unterscheidet sich unser jetziges Handeln von einer Art zu handeln, wenn Bibel und Kirche unbekannt in unserem Lande und wenn die Religion, so wie sie sich unter uns vorfindet, eine reine Mode dieser Welt wäre? Was tun wir, das uns rechtfertigt in dem Vertrauen, daß wir etwas um Christi willen taten, der sich für uns als Lösepreis dahin gab?
Ihr wisset gut, daß es heißt, die Werke sind die Früchte des Glaubens und dessen Erweis; daß der Glaube für tot gilt, der ihrer entbehrt. Was für Werke also werden wir vorweisen, die uns die Zuversicht geben, daß wir „bei Seinem Kommen nicht beschämt werden vor Ihm?“ (1 Jo 2, 28).
Indem ich diese Frage beantworte, mache ich zuerst die Beobachtung, daß nach der Heiligen Schrift die Selbstverleugnung als der Prüfstein unseres Glaubens eine tägliche Übung sein muß. „Wer Mir nachfolgen will, verleugne sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge Mir nach“ (Lk 9,23). So lautet nach St. Lukas das Wort unseres Heilandes. Demnach besteht der christliche Gehorsam, wie es scheint, in mehr als nur in ein paar gelegentlichen Anläufen, einigen beiläufigen guten Werken oder gewissen kurzen Perioden der Reue, des Gebetes und des Eifers: ein Fehler, in den entsprechend veranlagte Geister gern fallen. Es ist jene Art von Gehorsam, der in den Augen der Welt den „großen Mann“ ausmacht, d. h. den Mann, der einzelne edle Züge aufweist und zeitweilig heroisch handelt, so daß man mit Bewunderung und Unterwürfigkeit auf ihn schaut, dem aber im privaten Leben doch die persönliche, religiöse Bindung fehlt, der in seinem Denken, Reden und Tun sich nicht nach den Geboten Gottes richtet. Wiederum schließt das Wort „täglich“ mit ein, daß die Selbstverleugnung, die Christus gefällt, sich aus kleinen Dingen zusammensetzt. Das leuchtet ein, denn die Gelegenheit zu großen Überwindungen kommt nicht jeden Tag. Die Kreuzesnachfolge Christi erschöpft sich demnach nicht in einer einmaligen Großtat, sondern sie ist die beharrliche Übung kleiner Pflichten, die uns widerstreben.
Fragt sich daher einer nach dem Erkennungszeichen, ob er den Traum der Welt weiterträumt oder wirklich wach und lebendig ist für Gott, dann richte er seine Aufmerksamkeit zuallererst auf die eine oder andere der ihm anhaftenden Schwächen. Wer überhaupt sich regelmäßig erforscht, muß sich solcher innewohnenden Schwächen bewußt sein. Viele haben mehr als eine; wir alle haben die eine oder die andere; gegen sie zu kämpfen und mit ihnen fertig zu werden, ist die erste Aufgabe der Selbstverleugnung. Der eine ist lässig und vergnügungssüchtig, ein anderer leidenschaftlich oder launisch, einer ist eitel, ein anderer hat keine Herrschaft über seine Zunge; es gibt Schwächlinge, die dem Spott gedankenloser Kameraden nicht widerstehen können, andere sind geplagt von schlimmen Leidenschaften, deren sie sich schämen, über die sie aber nicht Herr werden. Ein jeder spähe nach seiner schwachen Stelle: dort muß er sich bewähren. Sein Kampf geht nicht gegen das, was ihm leicht fällt, sondern gegen das eine oder das viele, gleich welcher Art, wo die Erfüllung der Pflicht seiner Natur zuwiderläuft. Wiege dich nie in Sicherheit, weil du deine Pflicht in neunundneunzig Fällen getan hast; der hundertste ist es, der deine Selbstverleugnung begründet. Hier muß sich dein Glaube erweisen oder im Beispiel und in der Wirklichkeit zeigen. Diese Verwirklichung ist das Ziel eures Wachens und Betens. Bete unablässig zu Gott um seine Hilfe und sei unter Furcht und Zittern auf der Hut, daß du nicht fallest. Es mögen andere eure schwachen Charakterseiten nicht kennen und falsch darüber denken; ihr aber sollt sie kennen. An deren Wink und Andeutung vermögt ihr sie zu erkennen, ebenso an eurer Selbstbeobachtung und an der Erleuchtung durch den Heiligen Geist. O daß ihr doch die Kraft hättet, gegen sie zu kämpfen und sie zu überwinden! Daß ihr doch die Weisheit hättet, euch wenig zu kümmern um die religiöse Auffassung dieser Welt oder um das Lob der Welt. Möchtet ihr doch nicht einig gehen mit dem, was die Begabten, die Mächtigen oder die Vielen zum Maßstab der Religion erheben. Unvergleichlich höher steht das innere Bewußtsein eines Gehorsams gegen Gott in den kleinen und großen Dingen, in der hundertsten Pflicht so gut wie in den neunundneunzig vorausgegangenen. Möchtet ihr doch euer Haus sozusagen gründlich durchfegen, um das Fehlende am Vollmaß eures Gehorsams zu entdecken. Seid ganz überzeugt davon, daß gerade dieser scheinbar kleine Mangel durchwegs euer Denken und euer Urteil beeinflussen wird. Verlaßt euch darauf: eure Beurteilung der Personen, der Geschehnisse und Handlungen sowie der Lehrmeinungen, eure Haltung Gott und den Menschen gegenüber, euer Glaube an die erhabenen Wahrheiten des Evangeliums, euer Wissen um die Pflicht: alles das hängt merkwürdigerweise ab von diesem ernsten Bemühen um die volle Gesetzesbeobachtung, ebenso von dieser Selbstverleugnung in den kleinen Dingen, wo der Gehorsam eine Selbstüberwindung ist. Gebt euch nicht zufrieden mit der Wärme eures Glaubens, die euch hinwegträgt über viele Hindernisse bei der Ausübung eures Gehorsams selbst, euch zwingt, die Menschenfurcht, den Gesellschaftszwang und den Nützlichkeitsstandpunkt zu mißachten. überhebt euch nicht ob der Erbarmungen Gottes in der Vergangenheit, noch ob der Gewißheit alles dessen, was Er eurer Seele schon getan hat, sofern ihr euch bewußt seid, daß ihr das „Eine Notwendige“ [Lk 10, 42] vernachlässigt habt, das „Eine“, das euch gerade fehlt: die tägliche Selbstverleugnung.
Es gibt aber noch andere Wege der Selbstverleugnung, die euren Glauben und eure Aufrichtigkeit erproben sollen. Ich darf auf sie wohl in Kürze hinweisen. Es kann geschehen, daß eure Lieblingssünde euch nicht jeden Tag reizt. Zorn und Leidenschaft z. B. mögen bei ihrem Ausbruch unwiderstehlich sein, aber sie reizen euch nur von Zeit zu Zeit, und dann seid ihr nicht auf der Hut. So geht die Gelegenheit vorbei und ihr habt versagt, bevor ihr an ihr Kommen dachtet. Es ist also richtig, täglich Gelegenheiten zur Selbstverleugnung förmlich aufzuspüren; denn Christus hat euch den Befehl gegeben, täglich das Kreuz auf euch zu nehmen, sodann ist es ein Prüfstein eures Ernstes, endlich mehrt es eure Kraft zur Selbstbemeisterung auf der ganzen Linie, und ihr werdet kraft Gewohnheit eine solche Selbstbeherrschung erlangen, daß sie euch zur Zeit der Versuchung wie eine ausgebaute Festungsmauer umgibt. Erhebet euch schon am Morgen mit dem Vorsatz, daß der Tag, so Gott will, nicht zu Ende gehen darf ohne Selbstverleugnung, Selbstverleugnung in den unschuldigen Freuden und Neigungen, wenn es nicht gilt, das Sündhafte in euch zu ertöten. Schon das Aufstehen sei eine Überwindung. Eure Mahlzeiten seien eine Gelegenheit, euch abzutöten. Nehmt euch vor, in belanglosen Dingen anderen zu Gefallen zu sein, in kleinen Dingen einmal anders zu handeln als sonst, es euch eher eine Unbequemlichkeit kosten zu lassen (freilich ohne damit eine eigentliche Pflicht zu versäumen), als daß ihr der täglichen Selbstdisziplin aus dem Wege ginget.
So hat es der Psalmist gehalten, der sozusagen „den ganzen Tag geschlagen und jeden Morgen gezüchtigt ward“ (Ps 72, 14). So war es bei St. Paulus, der „seinen Leib züchtigte oder schlug und ihn in die Dienstbarkeit brachte“ (I Kor 9, 27).
Das ist eines von den Hauptzielen des Fastens. Da fragt sich einer: „Wie soll ich wissen, daß ich es ernst nehme?“ Ich würde ihm nahelegen: Bring ein Opfer, tu etwas Unangenehmes, wozu die Pflicht dich nicht gerade ruft (natürlich in den Grenzen des Erlaubten). So kommt der Geist zum Bewußtsein, daß man die Liebe zum Heiland in der Tat besitzt, die Sünde verabscheut, die sündige Natur haßt, die gegenwärtige Welt abgetan hat. Das gibt euch zu einem gewissen Grad die Sicherheit, daß ihr es nicht beim bloßen Wort belassen habt. Es ist leicht, ein Wortheld zu sein, Feingeistiges in Rede und Schrift vorzubringen, die Menschen mit Wahrheiten, die sie nicht kennen, und mit Empfindungen, die über das Menschliche hinausgehen, in Staunen zu setzen. „Du aber, o Mann Gottes, fliehe solches und strebe dagegen nach Gerechtigkeit, Gottseligkeit, Frömmigkeit, Glaube, Liebe, Geduld und Sanftmut“ [1 Tim 6, 11]. Dein Wort soll dir nicht leer zerrinnen; zwinge jedes derselben möglichst in eine Tat und vollende so deine Heiligkeit in der Furcht Gottes, indem du dich an Herz und Geist von jeder Befleckung reinigst. Manchmal bewegen wir unsere Arme im Traum, um zu wissen, ob wir wach sind oder nicht, und daran erwachen wir. Auf diese Weise halten wir auch unser Herz wach. Übet euch jeden Tag in kleinen Dingen. Das wird der beste Beweis dafür sein, daß euer Glaube mehr ist als eine Täuschung.
Ich weiß wohl, daß dies alles eine harte Lehre ist; hart sogar für jene, die sie annehmen und aufs genaueste zu beschreiben verstehen. Im Herzen und im Leben selbst der Besten gibt es soviel Unvollkommenheiten und Zwiespältigkeiten, dass ständige Bußgesinnung Hand in Hand gehen muß mit unseren Bemühungen gehorsam zu sein. Da bedürfen wir sehr der Gnade des Blutes Christi, damit wir von der täglichen neuen Schuld gereinigt werden. Gar sehr bedarf es der Hilfe Seines verheißenen Geistes. Sicherlich wird Er den ganzen Reichtum Seines Erbarmens Seinen wahren Dienern schenken. Aber ebenso sicher wird Er die Kraft, an Ihn zu glauben, und die Seligkeit, eins mit Ihm zu sein, keinem von uns gewähren, der nicht den Dienst des Gehorsams leistet mit einem solchen Ernst, als ob das ewige Heil nur von ihm selbst abhinge.
Aus Pfarr- und Volkspredigten, I. Band, Schwabenverlag, Stuttgart 1948, S. 64-80.