6. Predigt vom 25. Dezember 1831
„Das Reich Gottes besteht nicht in Worten, sondern in Kraft“ (1 Kor 4,20).
Was nützt es uns, daß wir Glieder der christlichen Kirche sind? Dies ist eine Frage, welche immer unsere Aufmerksamkeit beansprucht, doch ist es recht, daß wir von Zeit zu Zeit unser Herz mit mehr als gewöhnlicher Sorgfalt durchforschen und es prüfen am Maßstab jenes göttlich erleuchteten Ordnungsprinzips in der Kirche und in den Heiligen: dem Werk des Heiligen Geistes, das vom heiligen Paulus „der Geist“ genannt wird. So frage ich also, was nützt es uns, daß wir Jünger Christi sind? Was veranlaßt uns zu dem Gedanken, daß unser Leben sich sehr unterscheidet von einem Zustand, in dem es sich befunden hätte, wären wir noch Heiden gewesen? Haben wir nach den Worten des Vorspruches das Reich Gottes im Wort empfangen oder in Kraft? Ich will zur Erläuterung dieser Frage einige Äußerungen tun, die mit Gottes Gnade euch, meine Brüder, helfen können, sie zu beantworten.
1. Wollen wir uns erstlich einen rechten Begriff machen von dem Einfluß, den die Macht des Evangeliums auf uns ausübt, dann müssen wir offenbar alles wegdenken, was wir nur aus Nachahmungstrieb und nicht aus religiösem Prinzip tun. Nicht als ob wir in Wirklichkeit unsere guten Worte und Werke in zwei Klassen scheiden und bestimmen könnten, was aus Glaubensgeist geschehen ist und was nur zufällig und aufs Geratewohl. Aber wenn wir auch nicht in der Lage sind, die Grenzen zu ziehen, so ist doch klar, daß sehr viel von unserem scheinbaren Gehorsam gegen Gott seinen Ursprung im bloßen Gehorsam gegen die Welt und ihr Gebaren hat; oder besser, daß die Schwierigkeit, zu bestimmen, was tatsächlich aus Glaubensgeist getan ist, uns bei einigem Nachdenken zu großer Unzufriedenheit mit uns selbst hin- und von einer falschen Meinung über unsere Vergangenheit ganz wegführt. Es möge jemand nur einmal nachdenken über die Zahl und Vielfalt der bösen und albernen Gedanken, die er duldet oder insgeheim unterhält, die er in Worte zu kleiden sich schämen würde, dann wird er ohne weiteres sehen, welch armseliges Zeugnis seine äußere Lebensführung für seine wahre Heiligkeit in den Augen Gottes ist. Oder er möge hinwiederum bedenken, wie oft er dem öffentlichen Gottesdienst nur aus Selbstverständlichkeit, in Nachahmung der andern und ohne den Ernst der Gesinnung beiwohnte; oder, wie oft er den einstürmenden Versuchungen nicht gewachsen war, die er mit anderen vorher in der Unterhaltung, vielleicht sogar noch jene tadelnd, die ihnen erlegen waren, belächelt hatte, dann muß er gestehen, daß sein äußeres Benehmen sich ganz von selbst durch das Gebaren seiner Umgebung formt, da er sich, ohne irgendwie von innen her getrieben zu sein, durch äußere Anreize bestimmen ließ. Werde ich also bei dieser Feststellung all das verurteilen, was wir gerade im Augenblick, da wir es tun, ohne den ausdrücklichen Gedanken an die Pflicht des Gehorsams tun? Weit entfernt; ein religiöser Mensch wird ohne Zweifel seine Pflicht unbewußt erfüllen in dem Maße, wie ihm der Gehorsam immer leichter wird. Der Gehorsam wird ihm zur zweiten Natur und deshalb wird er ihn natürlich, nämlich ohne besondere Anstrengung und Überlegung leisten. Schwierige Dinge dagegen zwingen uns zum Nachdenken, bevor wir sie tun. Wahr ist, wenn wir in irgend einem Punkte unser Herz bemeistern, dann kommt uns im Augenblick des Gehorsams die Pflicht nicht stärker in den Sinn, als wir beim Gehen an das Gehen oder bei der Ausübung einer Kunst an deren Regeln denken. Vereinzelte Glaubensakte helfen uns nur, solange wir unsicher sind. Nehmen wir aber an Stärke zu, dann beeinflußt uns den ganzen Tag nur ein einziger (gewissermaßen) anhaltender Glaubensakt, und unser ganzer Tag ist nur ein einziger Akt des Gehorsams. So gibt es keine kleinliche Aufsplitterung unseres Glaubens unter unsere einzelnen Handlungen. Unser Wille läuft parallel zum göttlichen Willen. Gerade dies ist das Vorrecht der glaubensstarken Christen. Es ist eine verhältnismäßig recht niedrige Art, Gott zu dienen, wenn wir bei unserer Handlung denken: Tue ich dies nicht, dann setze ich mein Seelenheil aufs Spiel; oder, tue ich es, dann habe ich die Möglichkeit, gerettet zu werden; ich sage verhältnismäßig ein unwürdiger Weg, immerhin noch der beste, der einzige für Sünder, wie wir es sind, wenn wir anfangen, Gott zu dienen. Doch mit dem Wachstum in der Gnade legen wir das Kindische ab; dann vermögen wir aufrecht zu stehen wie Erwachsene, ohne die Stützen und Hilfen, die unsere Kindheit braucht. Dies ist die edle Art des Gottdienens: das Gute verrichten, ohne daran zu denken, ohne jede Berechnung und ohne jeden Vorbehalt, rein aus Liebe zum Guten und aus Haß gegen das Böse, freilich mit Vorsicht und mit Gebet und Wachsamkeit, aber so voller Großmut, daß wir auf die unverhoffte Frage nach dem Grund unseres Handelns nur sagen könnten: „Das ist so unsere Art“, oder „So hat Christus gehandelt“. Das geschieht so spontan, daß wir nicht so sehr wissen, ob wir recht handeln, als vielmehr, daß wir nicht unrecht handeln: Ich meine, mehr aus einer unwillkürlichen Angst vor der Sünde, als aus einem peinlich genauen und sorgfältigen Abschätzen der Grade unseres Gehorsams. So kommt es, daß die Besten stets die Demütigsten sind; das aus verschiedenen Gründen, besonders aber deshalb, weil ihnen das Religiöse zur Natur geworden ist. Andere setzen sie in Erstaunen, sich selbst nicht; sie setzen andere in Erstaunen gerade wegen ihrer Abgeklärtheit und Gelöstheit von selbstgefälligen Gedanken. Das heißt einen großen Sinn, jenen „Fürstlichen Geist der Lauterkeit“ haben, von dem David spricht. Gewöhnliche Menschen sehen Gott aus der Ferne; bei ihrem Versuch, religiös zu sein, haben sie nur die schwache Führung eines fernen Lichtes und müssen ihren Weg erraten und ertasten. Aber der bewährte Christ, der sich durch Gottes Erbarmen Dessen Nähe bewußt geworden ist, der Auserwählte Gottes, dem der Heilige Geist innewohnt, sucht die Spuren Gottes nicht draußen. Er wird bewegt von dem in seinem Innern wohnenden Gott und braucht nur aus innerem Antrieb zu handeln. Ich sage nicht, daß es einen Menschen ganz von dieser Art gibt, denn so ist das Leben eines Engels; aber das ist der Geisteszustand, auf den angestrengtes Beten und Wachen hinzielen.
Wie verschieden ist diese Höhe des Gehorsams von jenem willkürlichen Rechttun, das in den Augen so vieler das religiöse Leben ausmacht. Der edle Gehorsam, wie ich ihn beschrieben habe, ist der Gehorsam aus guter Gewöhnung; was ich aber als unechter Gehorsam verurteile, ist der Gehorsam aus Mode. Der eine kommt aus dem Herzen, der andere ist auf den Lippen; der eine besteht in Kraft, der andere in Worten. Der eine kann nur mit viel und ständiger Wachsamkeit, gewöhnlich auch nicht ohne viel Schmerz und Mühe gewonnen werden, der andere ist das Ergebnis eines rein passiven Nachahmens derer, an die wir hingeraten. Wozu aber soll ich schildern, was jeder aus eigener Erfahrung bezeugen kann? Warum lernen Kinder ihre Muttersprache und nicht eine fremde? Machen sie sich darüber Gedanken? Sind sie besser oder schlechter, wenn sie diese und nicht eine andere lernen? Ihr Charakter bleibt doch genau das, was er auch sonst gewesen wäre. Wie denn soll es besser oder schlechter mit uns stehen, wenn wir in der gleichen passiven Weise bestimmte religiöse Ansichten in unseren Geist aufnehmen? Wenn wir uns lediglich in Wort und Handlung an unsere Umgebung angeglichen haben? Angenommen, das Evangelium wäre uns nie zu Ohren gekommen, würden wir nicht das gleiche tun wie jetzt, selbst in einem heidnischen Lande, wenn die örtlichen Gewohnheiten aus diesem oder jenem Grunde ebenso anständig und dem Anschein nach religiös wären? Das ist die Frage, die wir uns zu stellen haben. Und sagt uns unser Bewußtsein, daß unser Interesse für diese Frage selbst nicht groß ist, und daß uns keine nennenswerte Angst, falsch zu handeln, beschleicht, noch eine Unruhe, den rechten Weg zu finden, ist es dann nicht klar, daß wir der Welt leben anstatt Gott, und daß bei all unserer tatsächlichen Tugendhaftigkeit das Evangelium Christi noch nicht in der Kraft, sondern nur im Wort zu uns gekommen ist? Bezüglich unserer Annahme des Reiches Gottes habe ich nun eine Frage zur Überlegung angeregt, nämlich zu untersuchen, ob wir es mehr als nur äußerlich aufgenommen haben; aber,
2. ich gehe einen Schritt weiter und behaupte, daß wir es wohl in einem höheren Sinn als nur dem Wort nach empfangen haben können, ohne es im wahren Sinn in der Kraft empfangen zu haben: mit andern Worten, unser Gehorsam mag auf eine Art religiös sein, aber er verdient kaum den Namen christlich. Dies mag auf den ersten Blick eine überraschende Feststellung sein. Einige von uns meinen vielleicht, daß zwischen religiös und christlich kein Unterschied sei, ja, daß es die Menschen verwirren hieße, bestünde man auf einem solchen. Aber hört mir zu. Haltet ihr es nicht für möglich, daß Leute in einem heidnischen Land ihre Pflicht erfüllen, d. h. religiös sind? Zweifellos. St. Petrus sagt, daß „in jedem Volk der, welcher Gott fürchtet und Gerechtigkeit übt, Ihm angenehm ist“ (Apg 10, 35). Sind diese Menschen deshalb schon Christen? Bestimmt nicht. Anscheinend also ist es möglich, Gott zu fürchten und Gerechtigkeit zu üben, ohne ein Christ zu sein. Denn (um die Wahrheit darüber zu wissen) ein Christ sein heißt, dies zu tun, aber noch viel mehr als dies zu tun. Hier also liegt ein neuer Gegenstand zur Selbstprüfung. Machen es die Menschen nicht so, daß sie mit Genugtuung sich an ihren guten Werken trösten, besonders dann, wenn ihnen aus diesem oder jenem Grund das Gewissen schlägt? Oder sie überlegen sich, wenn der Gedanke an den Tod sich aufdrängt, wie sie sich vor dem Richterstuhl entlasten könnten. Und in diesem Augenblick fühlen sie sich erleichtert bei dem Gedanken an die Möglichkeit, aus ihrem vergangenen Leben etwelche Werke zu entdecken, die irgendwie als religiös angesehen werden können. Manche kann man sich trösten hören mit der Äußerung, sie hätten niemand etwas zuleide getan; noch auch einem offen liederlichen oder ausschweifenden Leben sich hingegeben. Andere vermögen mehr vorzubringen; sie wissen zu erzählen von ihrer Ehrlichkeit, von ihrem Fleiß, von ihrer unveränderlichen Gewissenhaftigkeit. Gestehen wir zu: sie haben für ihre Familien gut gesorgt, sie haben sich keines Betruges und keiner Täuschung schuldig gemacht, sie stehen in gutem Ruf in der Welt, ja sie haben in gewissem Sinn in der Furcht Gottes gelebt. Ich will ihnen dieses und noch viel mehr gelten lassen, und doch sind sie möglicherweise in ihrem Gehorsam keine ganzen Christen. Ich will zugeben, daß diese tugendhaften und religiösen Werke wirklich Früchte des Glaubens sind, nicht nur äußerlich, gedankenlos verrichtet, sondern aus dem Herzen kommend. Ich will zugeben, daß sie wahrhaft lobenswert sind und, wenn einer aus Mangel an Gelegenheit es nicht besser weiß, angenehm vor Gott sind. Aber das ist noch gar nicht entscheidend dafür, daß sie das Evangelium Christi in Kraft aufgenommen haben. Warum? Aus dem einfachen Grund, weil alles das nicht ausreicht. Christlicher Glaube und Gehorsam baut auf all dem auf, aber er baut nur darauf auf. Er deckt sich nicht damit. Damit wir Christen seien, genügt es gewißlich nicht, das zu sein, was wir auch ohne Christus sein sollten und müßten; es genügt nicht, nur besser zu sein als ein guter Heide; es genügt nicht, nur ein wenig gerecht, ehrbar, zuchtvoll und religiös zu sein. Wir müssen in der Tat gerecht, ehrlich, zuchtvoll und religiös sein, noch ehe wir zu den christlichen Gnaden uns erheben können; und sollen wir die Fülle des Reiches Gottes empfangen, dann ist das der Weg, der gewöhnliche Weg: in der Gerechtigkeit und in ähnlichen Tugenden Übung zu haben. Und wer immer die, welche solcher Übung sich befleißen, verachtet (ich meine gewissenhafte Menschen, die aber nichtsdestoweniger den Heilsplan des Evangeliums nicht durchschaut und begrüßt haben) und sie geringschätzig und verächtlich reine „Moralisten“ nennt, solch einer weiß nicht, wes Geistes Kind er ist, und täte gut daran, sich bewußt zu werden, welche Sprache er gegen den unerforschlichen Geist Gottes führt. Ich möchte diese unvollkommenen Christen nicht abschrecken, sondern ihnen weiterhelfen und ihren Geist öffnen für die Größe des Werkes, das vor ihnen liegt, und die dürftigen und fleischlichen Vorstellungen bannen, in denen das Evangelium sie erreichte, sie warnen vor Selbstzufriedenheit, vor Stillstand oder Lässigkeit im Streben, ja, sie aufmuntern, zur Vollkommenheit fortzuschreiten; warnend darauf hinzuweisen, daß sie, solange sie über den bisherigen Stand nicht erheblich hinausgekommen sind, das Reich Gottes nur im Wort und nicht in Kraft empfangen haben; daß sie noch keine geistlichen Männer sind und den Trost der Gegenwart Christi noch nicht in ihrer Seele empfinden können, denn „wem viel anvertraut ist, von dem wird viel zurückverlangt werden“ [Lk 12, 481.
Was aber fehlt ihnen denn? Ich will einige Schriftstellen vorlesen, die es klarmachen. Der heilige Paulus sagt: „Ist jemand in Christus, so ist er ein neues Geschöpf; das Alte hat aufgehört; siehe, alles ist neu geworden“ (2 Kor 5, 17); wiederum: „Was ich aber nun lebe im Fleische, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und Sich Selbst für mich dargegeben hat“ (Gal 2, 20). „Die Liebe Christi drängt uns“ (2 Kor 5, 14). „So ziehet nun an als Gottes Auserwählte, Heilige und Geliebte, herzliches Erbarmen, Güte, Demut, Sanftmut, Geduld. Ertraget einander und verzeihet einander, wenn jemand Klage hat wider den andern, wie der Herr euch verziehen hat, so auch ihr! Vor allem diesem aber habet die Liebe, welche ist das Band der Vollkommenheit. Und der Friede Christi herrsche freudig in euren Herzen, zu welchem ihr auch berufen seid in Einem Leibe; und seid dankbar! Das Wort Christi wohne reichlich in euch mit aller Weisheit“ Kol 3, 12-16). „Gott sandte den Geist Seines Sohnes in eure Herzen“ (Gal 4, 6). Zuletzt noch die eigenen denkwürdigen Worte unseres Heilandes: „Wer Mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge Mir nach“ (Lk 9, 23). Hieraus erhellt, daß diese Art des Gehorsams sich sehr unterscheidet von allem, was der natürliche Verstand und das Gewissen uns sagen, nicht seiner Natur nach, sondern durch seine Erhabenheit und Eigentümlichkeit. Er ist weit mehr als Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und Maßhaltung; und das heißt ein Christ sein. Beachtet, worin dieser Unterschied besteht gegenüber jenem geringeren Grad von Religiosität, den wir besitzen können, ohne in den Sinn des Evangeliums einzudringen. Zu allererst in seinem Glauben. Dieser gründet nicht einfachhin in Gott, sondern in Gott, wie er sich in Christus geoffenbart hat, nach Seinen eigenen Worten: „Glaubet an Gott und glaubet an Mich“ (Jo 14, 1). Sodann gilt es, Christus anzubeten als unseren Herrn und Meister und Ihn zu lieben als unseren gnädigsten Erlöser. Wir müssen ein tiefes Bewußtsein von unserer Schuld und von der Schwierigkeit haben, uns den Himmel zu sichern; wir müssen ganz wie in Seiner Gegenwart leben, täglich auf Sein Kreuz und Sein Leiden uns berufen, über Seine heiligen Gebote nachdenken, Sein sündeloses Vorbild nachahmen und uns auf die Gnadenhilfe Seines Geistes verlassen, so daß wir in Wahrheit und Wirklichkeit Knechte des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes werden, in deren Namen wir getauft sind. Außerdem müssen wir um Seinetwillen eine großmütige und außergewöhnliche Genauigkeit der Lebensführung anstreben, in Furcht vor Ihm die Heiligkeit vollenden, unsere Sünden ausrotten, unsere ganze Seele meistern und unter die Botmäßigkeit Seines Gesetzes bringen, uns erlaubte Dinge versagen, um Ihm einen Dienst zu tun, tiefe Demut und eine grenzenlose, nie versagende Liebe üben, viel von unserem Hab und Gut für fromme Zwecke und für Werke der Nächstenliebe opfern, unreligiöse Menschen ablehnen und fliehen. Das heißt ein Christ sein: eine Gabe, die leicht und mit wenig Worten zu beschreiben ist, aber nur mit Furcht und vielem Zittern zu erwerben. Sie ist verheißen fürwahr, und an jeden Bittsteller sofort zu einem gewissen Grad verliehen, aber erst nach vielen Jahren gesichert und nie in dieser Erdenzeit voll verwirklicht. Aber seid dessen gewiß: wer von uns sie trotz Belehrungsmöglichkeit und genügend langer Zeit nicht zu einem gewissen Grad besitzt, wer auch immer beim Nahen des Todes seinen Anteil an jeder Gnade nicht erlangt hat, die zwar eine Reihe von Jahren erfordert, aber doch hätte erlangt werden können, der befindet sich in einer so großen und schrecklichen Gefahr, daß ich davon gar nicht sprechen möchte. Die Vorstellung, daß eine teilweise und durchschnittliche Erfüllung der Verpflichtung zu Ehrlichkeit, Eifer, Maßhaltung und Güte „Geltung“ hätte, findet keine Ermutigung in der Heiligen Schrift. Uns obliegt, nach einem anderen und höheren Gesetz zu stehen oder zu fallen. Wir müssen, wie St. Paul es nennt, ein „neues Geschöpf “ geworden sein (Gal 6, 15); wir müssen demnach als die Erlösten Jesu Christi gelebt und Gott angebetet haben in allem Glauben, in aller Demut des Geistes, in Ehrfurcht vor Seinem Wort und Seinen Anordnungen, in Dankbarkeit, in Ergebung, in Mitleid, Milde, Reinheit, Geduld und Liebe.
Wenn wir nun die Gehorsamspflicht, die uns als Christen obliegt, von diesen beiden Gesichtspunkten aus betrachten, erstlich im Gegensatz zu einem Bekenntnis, das rein äußerlich und nur dem Namen nach besteht, sodann im Gegensatz zu jenem gewöhnlicheren Gehorsam, der auch von den außerhalb des Evangeliums Lebenden gefordert ist, wie einleuchtend ist es dann, daß wir vom Reiche Gottes noch weit entfernt sind! Jeder mache in seinem Gewissen die Anwendung auf sich selbst! Ich will zugeben, daß er etwas von echt christlicher Grundhaltung in seinem Herzen hat, aber ich möchte seine Aufmerksamkeit darauf lenken, wie wenig das wohl der Fall sein mag. Dies ist ein Gedanke, der uns zwar nicht von der Freude im Herrn Jesus Christus fernhalten, uns aber dazu führen will, uns „in Furcht zu freuen“ (Ps 2, 11), Gott eifrig zu dienen, Ihn ernstlich anzuflehen, uns eingehender über unsere Pflicht zu belehren und unserem Herzen die Liebe dazu einzuprägen, uns die Kraft zu geben, Ihm in jener Freimütigkeit des Geistes zu gehorchen, die das Rechte zu tun vermag ohne Vernünftelei und Berechnung, doch mit der Vorsicht jener, die wissen, daß ihr Heil abhängt vom Gehorsam im Kleinen, von der Liebe zur Wahrheit, wie sie sich offenbart in Ihm, der da ist die lebendige Wahrheit, die auf die Welt gekommen ist, „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Jo 14, 6).
Andere gehen uns nichts an; wir kennen deren Heilsmöglichkeiten nicht. Es mag Tausende geben in diesem volkreichen Land, die nie Mittel und Wege hatten, Christi Stimme in ihrer vollen Bedeutung zu hören und denen die Tugenden, auch wenn sie nicht die Höhe des Evangeliums erreichten, einst doch als die Frucht ihres Glaubens angerechnet werden. Keines Menschen Herz kann uns bekannt sein, noch vermögen wir zu sagen, in welchem Grad sie ihre Talente ausgenützt haben. Wir haben genug mit uns selbst zu tun. Wir wohnen im vollen Licht des Evangeliums und in der Gnadenfülle der Sakramente. Wir sollten die Heiligkeit der Apostel haben. Nur unsere eigene freiwillige Verderbtheit trägt die Schuld, daß wir heutzutage nicht auf den Spuren des heiligen Paulus oder des heiligen Johannes wandeln, ihnen folgend, so wie sie Christus gefolgt sind. Welch ein Gedanke! Werft ihn nicht von euch, meine Brüder, sondern nehmt ihn mit heim. Möge Gott euch die Gnade geben, Nutzen daraus zu ziehen!
Aus Pfarr- und Volkspredigten, I. Band, Schwabenverlag, Stuttgart 1948, S. 81-93.