Hoffe auf Gott – den Erlöser

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Die geistigen Leiden unseres Herrn

1. Nachdem der Herr alle seine Reden [Matth. 26, 1] vollendet und zum Abschluß gebracht hatte, sprach er: »Der Menschensohn wird zur Kreuzigung überliefert werden.« Wie ein Heer sich in Schlachtordnung auf­stellt, wie die Seeleute vor einem Angriff das Deck räumen, wie Sterbende ihr Testament machen und dann zu Gott zurückkehren, so faßt unser Herr und Hei­land, der nie aufhören konnte, Worte der Liebe und Güte zu sprechen, noch einmal alles zusammen und vollendet seine Lehre, um dann sein Leiden zu be­ginnen. Er hob das Verbot, das den bösen Geist von ihm fernhielt, freiwillig auf, öffnete das Tor und ließ den Erregungen seines menschlichen Herzens freien Lauf, wie ein zum Tode verurteilter Soldat selbst das Tuch fallen läßt. Sogleich kam der Satan und bemäch­tigte sich seiner während der kurzen Stunde, die ihm gegeben war.

2. Eine böse, mürrische und tadelsüchtige Stimmung herrscht unter den Jüngern. Einer war ihr Urheber, aber sie scheint sich ausgebreitet zu haben. Vor dem Herrn stand der Gedanke an den Tod; er dachte an ihn und an sein Begräbnis. Da kam eine Frau und salbte sein heiliges Haupt. Diese Handlung erfüllte seine reine Seele mit einem beruhigenden, zarten Ge­fühl. Sie war ein stummes Zeichen der Liebe, und das ganze Haus ward davon erfüllt. Doch die barsche Stimme des Verräters, der nun zum ersten mal seine geheime Herzlosigkeit und Bosheit äußerte, unterbrach sie rauh. Ut quid perditio haec? »Wozu diese Ver­schwendung?« – Der ungerechte Verwalter mit seiner gottlosen Sparsamkeit verdeckt seine eigenen gehei­men Diebstähle dadurch, daß er dem Meister die Eh­rung mißgönnt. So mischt sich in die süße, stille Har­monie des Festmahls zu Bethanien ein Mißton und eine Verstimmung; alles ist zerstört; Unzufriedenheit und Mißtrauen greifen um sich, denn der Teufel ist am Werk.

3. Nachdem Judas einmal sein Inneres enthüllt hatte, verlor er keine Zeit, seine Bosheit auszuführen. Er ging zu den Hohenpriestern und verhandelte mit ihnen, seinen Herrn um einen Kaufpreis zu verraten. Unser Heiland Jesus Christus sah alles, was in ihm vor­ging. Er sah, wie der Satan an sein Herz klopfte, ein­gelassen und als ehrenwerter und lieber Gast auf­genommen wurde. Jesus sah Judas zu den Priestern gehen und hörte die Abmachung zwischen ihnen. Er hatte in seiner Allwissenheit alles vorausgesehen, die ganze Zeit hindurch, da er mit ihm lebte und schon, als er ihn auserwählte. Was wir ahnend vorauswis­sen, erregt uns viel heftiger und in ganz anderer Weise, wenn es wirklich eintritt. Unser Herr hatte schon längst die Grausamkeit des Undankes empfunden und empfinden wollen, dessen Spielzeug und Opfer er werden sollte, und viel darunter gelitten. Er hatte Judas wie einen seiner liebsten Freunde behandelt, ihm Zeichen seiner tiefsten Zuneigung gegeben; er hatte ihm den Beutel für sich und seine Jünger an­vertraut, ihm die Gewalt gegeben, Wunder zu wir­ken, und ihm die Erkenntnis der Geheimnisse des lehren, und ihn zu einem seiner eigenen Stellvertre­ter gemacht, und so beurteilte man den Meister nach dem Betragen seines Dieners. .Ein Heide, der von sei­nem Freunde getötet wurde, sagte: »Auch Du, Brutus!«. Was ist es Trostloses um den Geist des Undanks! Gott, dem die Undankbarkeit täglich entgegentritt, kann sie seiner Natur nach nicht empfinden. Darum nahm er ein menschliches Herz, damit er sie in ihrer ganzen Schwere fühle. Und jetzt im Himmel, fühlst Du meine Undankbarkeit gegen Dich nicht, o mein Gott?

4. Ich sehe die Gestalt eines Mannes, ob jung oder alt, kann ich nicht sagen. Er kann ebenso fünfzig Jahre altsein als erst dreißig. Manchmal sieht er älter aus, manchmal jünger. Es ist etwas Unbeschreibliches auf seinem Antlitz, das ich nicht zu enträtseln vermag. Vielleicht trägt er auch die Last des Alters, weil er alle Lasten trägt. Ja, so ist es. Sein Gesicht ist über­ aus ehrwürdig und doch kindlich dabei, es ist ganz ruhig, ganz mild und bescheiden, strahlend von Heiligkeit und liebender Güte. Seine Augen durchdrin­gen mich und rühren an mein Herz. Sein Hauch ist duftend und versetzt mich in Entzücken. Oh, ich will dieses Angesicht betrachten für immer und den Blick nie von ihm wenden.

5. Ich sehe plötzlich, wie ein anderer auf ihn zutritt, die Hand erhebt und ihn in das himmlisch schöne Ge­sicht schlägt. Es ist eine harte Hand, die Hand eines rauhen Mannes, und vielleicht ist sie mit Eisen be­wehrt. Ihn, der alles Vergangene und Zukünftige weiß, konnte der plötzliche Schlag nicht überraschen; er zeigt gar keinen Groll, er bleibt ruhig und ernst wie zuvor. Nur der Ausdruck seines Gesichtes ist gestört. Eine große Strieme wird sichtbar, und nach kurzer Zeit ist mir das allgütige Antlitz infolge dieser Beschimpfung verhüllt, wie von einer Wolke beschattet.

6. Eine Hand erhob sich gegen das Angesicht Christi. Wessen Hand war es? Mein Gewissen sagt mir: »Du bist’s.« Ich hoffe, daß es jetzt nicht der Fall ist. Aber, meine Seele, denke über die schreckliche Tatsache nach! Stelle dir Christus vor und dich selbst, wie du die Hand erhebst und ihn schlägst! Du wirst sagen: »Un­möglich; ich konnte das nicht tun.« O ja, du hast es getan. In der freiwilligen Sünde hast du es getan. Er ist nun aller Qual enthoben, und doch hast du ihn ge­schlagen; und wäre es in den Tagen seines Erden­lebens gewesen, er hätte den Schmerz gefühlt. Kehre in der Erinnerung zurück und gedenke der Zeit, des Tages und der Stunde, als du durch eine freiwillige schwere Sünde, durch Spott über heilige Dinge oder deren Mißbrauch, durch blinden Haß gegen deinen Bruder, durch unlautere Handlungen oder wissentliche Auflehnung gegen die Stimme Gottes oder auf irgend­eine andere dir bekannte teuflische Weise ihn, den Allheiligen, geschlagen hast.

O beleidigter Gott, was soll ich sagen? Ich bekenne mich schuldig vor Dir, meinem Bruder. Ich sinke in düstere Verzweiflung, wenn Du mich nicht erhebst. Ich kann Deinen Anblick nicht ertragen; ich entziehe mich Dir. Verhülle mein Gesicht und beuge mich zur Erde! Der Satan wird mich ins Verderben ziehen, wenn Du Dich meiner nicht erbarmst. Es ist schrecklich, sich Dir zuzuwenden. Aber ach, wende Du mich, dann bin ich Dir zugewandt! Es ist ein Fegfeuer, Deinen und mei­nen Anblick zu ertragen – ich so häßlich, und Du der Heiligste. Aber laß mich noch einmal Dich anschauen, den ich auf so unbegreifliche Weise beleidigt habe! Denn Dein Angesicht ist mein einziges Leben, meine einzige Hoffnung und Heilung liegt in diesem Blick auf Dich, den ich durchbohrt habe. So werfe ich mich nieder vor Dir und richte meine Augen wieder auf Dich; ich ertrage die Pein, um gereinigt zu werden. O mein Gott, wie kann ich die Augen zu Deinem An­gesicht erheben, wenn ich meiner so tief eingewur­zelten, so zur Gewohnheit, zur zweiten Natur gewor­denen Undankbarkeit gedenke, die in so schrecklicher Weise zunimmt! Du überhäufst mich täglich mit Dei­nen Gnaden und nährst mich mit Dir selbst wie einst Judas, aber ich mache mir das nicht zunutze, danke Dir nicht einmal. Herr, wie lange noch? Wann werde ich von dieser unheilvollen Knechtschaft frei? Er, der Judas gefangennahm, hat seine Hand in meinem Al­ter auf mich gelegt, und ich kann mich von ihm nicht befreien. Es ist dasselbe Tag für Tag. Wann wirst Du mir eine noch größere Gnade geben, als Du mir schon geschenkt hast, die Gnade, aus den erhaltenen Gnaden Nutzen zu ziehen? Wann willst Du mir Deine wirk­same Gnade zuteil werden lassen, die meiner elenden, kraftlosen, sterbensschwachen Seele allein Leben und Kraft zu geben vermag? Mein Gott, ich weiß nicht, in welcher Weise ich Dich in Deiner himmlischen Herr­lichkeit betrüben kann; aber das weiß ich, daß jede neue Sünde, jede neue Undankbarkeit, deren ich mich jetzt schuldig mache, bereits unter den Schlägen und Wunden war, die Dich einstmals in Deinem Leiden trafen. Oh, laß mich einen möglichst kleinen Teil Dei­ner vergangenen Leiden mitverschuldet haben! Ein Tag um den andern vergeht, und ich muß gestehen, daß ich mit jedem Tag durch neue Sünden die Ursache Deiner Leiden vermehre. Im besten Fall erkenne ich, daß ich als Mensch an ihrer Gesamtheit Anteil habe; aber es ist schrecklich, daß mein Anteil immer größer wird. Wenn andere Dich verwunden, laß doch nicht zu, daß ich es tue! Gib, daß ich nicht denken muß. Du hättest am Leib oder an der Seele weniger gelitten ohne mich! O mein Gott, ich bin in so harter Gefan­genschaft, daß ich ihr nicht entfliehen kann. O Maria, bitte für mich! Heiliger Philipp, steh mir bei, obwohl ich Dein Erbarmen nicht verdiene!

II. Unser Herr weist die Liebe zurück

1. Zuneigung kann ein ewiges Gesetz genannt werden, denn sie ist ein Abbild der unbeschreiblichen gegen­seitigen Liebe der göttlichen Dreieinigkeit, oder viel­mehr, die Liebe der göttlichen Personen ist aller Liebe ewiges Urbild und vollkommene Erfüllung. Gott war von Ewigkeit Einer in drei Personen. Der Vater war immer selig in seinem Sohn und Geist, und Sohn und Geist im Vater, und so war er von Ewigkeit der Eine und doch nicht einsam und genießt in dieser unbe­greiflichen Vielheit seiner selbst und Wiederholung seiner Person eine unendlich vollkommene Seligkeit, die nichts Geschaffenes vermehren kann. Der Teufel dagegen ist unfruchtbar und einsam, in sich selbst ein­geschlossen, und seine Diener ebenso.

2. Als der Sohn um unsertwillen auf die Erde kam und unser Fleisch annahm, wollte er doch nicht ohne die Zuneigung anderer leben. Dreißig Jahre ver­brachte er bei Maria und Joseph, sie waren ein Ab­bild der himmlischen Dreieinigkeit auf Erden. Welche Vollkommenheit der Liebe zwischen den drei Perso­nen! Jeden Blick des einen verstanden die beiden an­deren, es bedurfte nicht vieler Worte, ja mehr als das, sie verstanden ihn nicht bloß, sie nahmen ihn auf, er­widerten und verstärkten ihn. Sie glichen drei gleich­gestimmten Instrumenten, die alle mitschwingen, wenn eines schwingt, und in ein und demselben Ton oder in vollkommener Harmonie erklingen.

3. Die erste Schwächung erfuhr die Harmonie, als Joseph starb. Es war kein Mißton im Klang, denn bis zum letzten Moment seines Lebens war er eines Sin­nes mit den andern; die gegenseitige Liebe zwischen ihnen wurde nur tiefer und inniger, weil sie in ein anderes Verhältnis trat und in den Tagen seiner ab­nehmenden Kraft seiner Krankheit und seines Todes einen weiteren Raum hatte. In dieser Zeit glich ihre Liebe einer Melodie, die alle Höhen und Tiefen durch­lief und in Takt und Ton von allen vollkommen und sorgsam vorgetragen wurde. Aber sie verklang in einem tieferen und leiseren Ton, als Joseph starb. Joseph konnte zwar bei aller Heiligkeit die Fülle der Harmonie zwischen Jesus und Maria kaum vermehren; aber Zuneigung schließt schon an sich eine Zahl ein, und bei seinem Tod zersprang eine der drei Harfen und schwieg.

4. Welch ein Augenblick der Liebe zwischen den drei heiligen Personen, als Joseph starb! – Jesus und Maria stützten ihn und beugten sich zu ihm nieder, er schaute sie an und ruhte in ihren Armen mit vollkommener, rückhaltloser, höchster Hingabe, denn er lag in den Ar­men Gottes und der Mutter Gottes. Wie eine Flamme auflodert und erlischt, so unaussprechlich groß war die Entzückung in diesem letzten Moment; denn ein jedes kannte und bedachte die Wendung, die auf das Zer­reißen dieser irdischen Bande folgen sollte. Ein Augen­blick der Freude, nicht der Trauer, ganz verschieden und doch an Tiefe der Empfindung der Geburtsstunde Jesu ähnlich. Die Geburt Jesu und der Tod Josephs, Momente von unvergleichlicher Süßigkeit, beispiellos in der Menschheitsgeschichte. Sankt Joseph ging in die Vorhölle, um seine Zeit abzuwarten, fern der Gegen­wart Gottes. Jesus mußte lehren, leiden und sterben; Maria sollte Zeuge sein von seinen Leiden und auch-, nach seiner Auferstehung inmitten der Wechselfälle des Daseins und der Hartherzigkeit der Heiden ohne ihn weiterleben.

5. Die Geburt Jesu und der Tod Josephs, diese Augen­blicke überirdisch reiner, vollkommener und leben­diger Liebe zwischen den drei Gliedern der irdischen Dreieinigkeit waren dieser Liebe Anfang und Ende. Der Tod Josephs, der das Band zerschnitt, war der Ausgangspunkt für vieles andere. Es war nur der An­fang jener Wendung, die Mutter und Sohn bevor­stand. Dreißig Jahre lang waren beide vor der Welt bewahrt geblieben und hatten füreinander gelebt. Nun mußte Jesus ausgehen, um zu predigen und zu leiden; und die größte Prüfung, die unzertrennlich damit ver­bunden war, trug er vom ersten bis zum letzten Au­genblick mit freiem Willen, obwohl kein Gebot be­stand; es war der Verzicht auf die Freuden der Her­zensgemeinschaft – seines Herzens mit dem Herzen Mariens -, die sein gewesen war, seitdem er Menschen­natur angenommen hatte, und die er in unvergleich­licher und überirdischer Weise mit seinem Vater und dem Heiligen Geist von Ewigkeit besessen hatte. O meine Seele, du durftest die Vereinigung der drei heiligen Herzen betrachten und selbst an ihrer Liebe teilnehmen, freilich im Glauben, nicht im Schauen. Mein Gott, ich glaube und weiß, daß damals eine Ge­meinschaft himmlischer Dinge auf Erden erblühte, die nie mehr unterbrochen wurde. Es ist meine Pflicht und meine Seligkeit, selbst in sie einzutreten. Es ist meine Pflicht und mein Glück, mit dieser rührenden Musik, die damals zu erklingen begann, im Einklang zu sein. Gib mir die Gnade, die mich allein befähigt, sie zu hören und zu verstehen, auf daß sie mich durchdringe! Laß meine Seele mit Jesus, Maria und Joseph atmen! Laß mich mit ihnen vereint in Verborgenheit leben, fern der Welt und ihrem Treiben! Laß mich zu ihnen aufschauen in Leid und Freud und leben und sterben in ihrer süßen Liebe!

6. Der letzte Tag des irdischen Beisammenseins zwi­schen Jesus und Maria war das Hochzeitsfest zu Kana. Aber schon damals war ein Teil ihrer seligen Innig­keit verlorengegangen, denn von jetzt an lebten sie nicht mehr ausschließlich füreinander, sondern traten ins öffentliche Leben hinaus, um den Platz einzuneh­men, der ihnen in der neuen Ordnung der Dinge zu­kam. Jesus offenbarte seine Herrlichkeit durch sein erstes Wunder, und ebenso die Ehre seiner Mutter, da er auf ihre Fürbitte hin wirkte. Er ehrte sie noch mehr dadurch, daß er die festgesetzte Ordnung der Dinge um ihretwillen durchbrach und, obwohl seine Zeit des Wunderwirkens noch nicht gekommen war, sie auf ihre Bitte hin vorausnahm. Aber als er sein Wunder wirkte, nahm er von ihr Abschied mit den Worten: »Weib, was habe ich mit dir?« So trennte er sich vollständig von ihr, wenn er auch mit einer Wohltat schied. Da blieb das Paradies hilflos und einsam zurück.

7. Denn wahrlich, es geziemte sich, daß er, der wahre Hohepriester, bei der Ausübung seines Opferdienstes für das ganze Menschengeschlecht von allen mensch­lichen Banden und von jeder irdischen Liebe frei war. Ein Grund für sein langes Verweilen zu Nazareth bei seiner Mutter war wohl der: er wollte zeigen, daß er nicht nur die Herrlichkeit seines Vaters und seine eigene im Himmel aufgab, um Mensch zu werden, sondern auch auf die unschuldigen und reinen Freuden seiner irdischen Heimat verzichtete, um Priester zu sein. Von Melchisedech heißt es, er habe weder Vater noch Mut­ter gehabt. Die Leviten zeigten sich des priesterlichen Amtes wahrhaft würdig und wurden zum Priester­stamm erhoben, weil sie sich gegen natürliche Zunei­gung stählten, zu Vater und Mutter sprachen: »Ich kenne euch nicht« und das Schwert gegen ihre eigenen Verwandten erhoben, wenn die Ehre des Herrn der Heerscharen das Opfer verlangte. In ähnlicher Weise sprach unser Heiland zu Maria: »Was habe ich mit dir? « Es war die Weihe des Opfers, der erste rituelle Schritt zu der großen Handlung, die für das Heil der Welt feierlich vollbracht werden sollte. »Frau, was habe ich mit dir?« ist das Offertorium vor der Dar­bringung der Hostie. O mein Gott, der Du für mich Deine Mutter verlassen hast, gib mir die Gnade, alle meine irdischen Freunde und Angehörigen freudig für Dich aufzugeben!

8. Der große Hohepriester sprach zu seiner Familie: »Ich kenne euch nicht.« Wir dürfen annehmen, daß das zärtlich liebende Herz Jesu dabei auf die ganze Zeit seines Lebens zurückschaute und sich die vergan­genen Tage seiner Kindheit und Jugend ins Gedächt­nis rief, die er im Kreise anderer verlebte, von denen er schon lange getrennt war. Es gab eine Zeit, da die heilige Elisabeth und Johannes der Täufer zur Hei­ligen Familie gehörten. Elisabeth war wie der heilige Joseph gestorben und harrte der Ankunft dessen ent­gegen, der die Schranke zerbrechen sollte, die zwischen ihnen und dem Himmel stand. Johannes hatte schon seit langem von Heimat und Verwandtschaft und von aller Liebe auf Erden scheiden müssen – er hatte vom kommenden Erlöser zu predigen begonnen, dessen Offenbarung er mit Sehnsucht erwartete. Gib mit Gnade, o Jesus, mit dieser seligen Gemein­schaft vor Augen zu leben! Gib, daß mein Leben sich verzehre vor Deinem Angesicht und in der Gegenwart Deiner teuersten Freunde! Wenn ich sie auch nicht sehe, so laß doch nicht zu, daß mein Herz sich von sichtbaren Dingen gefangennehmen und vom Himm­lischen abwenden lasse! Du hast mich reich gesegnet und mir Freunde gegeben, laß nicht zu, daß ich in Abhängigkeit gerate, mich nur auf sie verlasse oder um ihretwillen mich selbst verliere, sondern in Dir will ich leben, im Verkehr und täglichen Umgang mit allen, in deren Mitte Du auf Erden lebtest und mit denen Du jetzt im Himmel ewige Freude genießt. Meine Seele sei bei Dir und weile bei Dir, auch bei Maria und Joseph, Elisabeth und Johannes.

9. Jesus verließ im Laufe der Zeit nicht nur Maria und Joseph. Es blieben ihm noch unsichtbare Beglei­ter und Freunde, die ihn liebten, aber zuletzt entließ er auch sie. Wir dürfen annehmen, daß er von seiner Geburt an mit den Seelen der Patriarchen, die seine Ankunft vorbereitet und ihn vorhergesagt hatten, in Gemeinschaft stand. Einmal sahen ihn seine Jünger eine ganze Nacht mit Moses und Elias sprechen, und zwar über sein Leiden. Welche Weite von Gedanken öffnet sich uns dabei, von denen wir kaum etwas ahnen! Im Gebet verbrachte Nächte waren eine größere Er­frischung für Leib und Seele als der Schlaf. Wer konnte den göttlichen Herrn besser erquicken und gleichsam neu beleben als dieser »laudabilis numerus« von Pro­pheten, deren Erfüllung und Urbild er war? So hat er wohl mit Abraham gesprochen, der seinen Tag schaute, oder mit Moses, der von ihm sprach; oder mit seinen besonderen Vorbildern, David und Jeremias, oder mit jenen, die am meisten von ihm schrieben, Isaias und Daniel. Darin ruhte ein reicher Schatz von Liebe. Als der Herr nach Jerusalem hinaufkam, um zu leiden, traf er im Geist alle heiligen Priester, die dort ihm zum Vorbild Opfer dargebracht hatten; gerade wie der Priester heute noch in der Messe ebensowohl der Opfer Abels, Abrahams und Melchisedechs gedenkt und an die glühende Kohle erinnert, welche die Lip­pen des Isaias reinigte, und wie er das Gedächtnis der Apostel und Märtyrer begeht.

10. Laßt uns eine Weile bei Maria anhalten – ehe wir den Schritten ihres Sohnes, unseres Herrn Jesus Chri­stus, folgen! Einmal verweigerte er einem, der ihm nachfolgen wollte, die Erlaubnis, seiner Heimat Lebe­wohl zu sagen, und es scheint, daß er von sich selbst seiner Mutter gegenüber dasselbe verlangte. Aber wird es ihm mißfallen, wenn wir einen Augenblick bei ihr verweilen, obwohl unsere Betrachtung ihm gilt? O Ma­ria, wir verehren Deine sieben Schmerzen – war aber nicht die Trennung von Deinem Sohn, die unter ihnen nicht genannt wird, eines Deiner größten Leiden, das die folgenden schon in sich schloß, weil Du sie voraus­kanntest? Wie hast Du dieses erste Getrenntsein von ihm ertragen? Wie verliefen die ersten Tage, als Du allein warst? Wo hast Du Dich verborgen? Wo hast Du die drei langen Jahre zugebracht, als er seines Amtes waltete? Einmal – am Anfang – hast Du ver­sucht, Dich ihm zu nähern; dann aber hören wir nichts mehr von Dir, bis wir Dich unter dem Kreuze stehen sehen. Nach seiner Auferstehung hatte sie zwar die Freude, ihn wiederzusehen, und den immerwährenden, unverlierbaren Trost, daß alle Leiden und Demüti­gungen für ihn vorüber seien und daß sie nie mehr seinetwegen zu weinen brauche; aber sie mußte sich doch wieder für viele Jahre von ihm trennen, solange sie noch im Fleische lebte, umgeben von der bösen Welt und im schmerzlichen Bewußtsein seiner Ab­wesenheit.

11. Die allerseligste Jungfrau Maria hatte außer ihren anderen Leiden den Verlust ihres Sohnes zu ertragen, nachdem er dreißig Jahre lang mit ihr unter einem Dach gelebt hatte. Als er kaum zwölf Jahre alt war, gab er ihr eine Andeutung von dem, was kommen werde; er sprach: »Ich mußte in dem sein, was meines Vaters ist.« Als die Zeit kam und er anfing, Wunder zu wirken, sprach er zu ihr: »Was habe ich mit dir?« -Was haben wir beide gemein? – und bald verließ er sie. Einmal versuchte sie. ihn zu sehen, jedoch ver­gebens: sie konnte nicht zu ihm gelangen wegen der Menge, und er machte ihr keinen Schritt entgegen und sprach kein Wort der Liebe. Zuletzt versuchte sie es noch einmal und erreichte ihn gerade zur rechten Zeit, um ihn am Kreuze hangen und sterben zu sehen. Nur vierzig Tage verblieb er nach seiner Auferstehung auf Erden, dann verließ er sie wieder, und sie mußte im Alter ihr Leben ohne ihn beenden. Vergleiche ihr drei­ßigjähriges Glück und die Zeit ihrer Vereinsamung!

12. Ich sehe sie in ihrem verlassenen Heim, während ihr Sohn und Herr das Land durchzieht, ohne etwas wohin er sein Haupt legen könnte, sie leidet unter ihrer Verlassenheit wie unter seiner Heimatlosigkeit. Wie traurig verrannen die Tage! Dann drangen Gerüchte zu ihr, er sei in Gefahr oder Drangsal. Sie erfuhr vielleicht, dass er in die Wüste geführt und versucht wurde. Sie möchte teilnehmen an allen seinen Leiden und darf nicht. Einmal hieß es, er sei von Sinnen; viele glaubten es, und seine Freunde und Verwandten gingen aus, ihn zu fangen. Auch sie machte sich auf, ihn zu sehen, und versuchte, zu ihm zu gelangen, und konnte es nicht vor der Menge. Man überbrachte ihm die Nachricht, aber er tat nichts, sie aufzunehmen, er sprach kein freundliches Wort. Sie ging enttäuscht zurück in ihr Haus, ohne ihn gesehen zu haben. Dort lebte sie, viel­leicht in der Gesellschaft solcher, die nicht an ihn glaubten.

13. Ich seh‘ sie wieder nach seiner Himmelfahrt. Auch das ist eine Zeit des Getrenntseins, jedoch voll Trost, Jahre der Dämmerung, aber nicht des Leidens. Der Herr war ferne, doch er war nicht auf Erden und litt nicht mehr. Der Tod hatte keine Gewalt mehr über ihn. Und er besuchte sie Tag für Tag im hochheiligen Opfer. Ich sehe Maria bei der Messe des heiligen Jo­hannes. Sie wartet auf den Augenblick der Ankunft ihres Sohnes: sie spricht mit ihm in der heiligen Hand­lung. Und was soll ich nun sagen? Sie empfängt ihn, den sie einst geboren hat.

O heilige Mutter, steh mir bei in der heiligen Messe, wenn Christus zu mir kommt, wie Du Deinem gött­lichen Sohne gedient hast – wie Du auf seine Worte gelauscht hast, als er heranwuchs, und wie Du unter seinem Kreuze gestanden bist! Steh mir bei, heilige Mutter, daß ich etwas von Deiner Reinheit, Deiner Unschuld und Deinem Glauben erlange und daß er der einzige Gegenstand meiner Liebe und Anbetung sei wie einst für Dich!

14. Es gab auch noch andere Wesen, die dem Herrn unmittelbar zu Diensten waren und von denen mehr geschrieben steht – die heiligen Engel. Die Stimme des Erzengels verkündete dem Propheten seine Ankunft, die Menschwerdung des Ewigen im Schoß der Jung­frau. Engel besangen seine Geburt, und in unzähl­baren Scharen huldigten sie ihm in der Krippe. Ein Enge! sandte ihn nach Ägypten und führte ihn wieder zurück. Engel dienten ihm nach der Versuchung. Sie führten seine Wunder aus. wenn er nicht sein allmäch­tiges »Es werde« sprach. Aber zuletzt gebot er auch ihnen, zu gehen, wie er es seiner Mutter gegenüber getan hatte. Einer blieb bei seiner Todesangst. Nach­her sprach er: »Glaubt ihr nicht, daß ich meinen Va­ter bitten könnte, und er würde mir Legionen von En­geln zu Hilfe senden?« – Diese Worte setzen voraus, daß er in Wirklichkeit seine Beschützer entlassen hatte. Die Kirche bittet ihn am Fest seiner Himmelfahrt: »König der Herrlichkeit. Herr der Engel, laß uns nicht als Waisen zurück!« Zur Zeit seines Leidens aber war er, der Herr der Engel, ihrer Nähe beraubt.

15. Als Jesus seine Mutter verlassen hatte, wählte er andere menschliche Freunde – die zwölf Apostel -. ge­rade als wünschte er, bei ihnen Liebe zu finden. Er wählte sie aus, daß sie nach seinen eigenen Worten »nicht Diener, sondern Freunde« seien. Er machte sie zu seinen Vertrauten, offenbarte ihnen Dinge, die an­dern verborgen blieben. Es war sein Wille, sie auszu­zeichnen, ja ihnen alles zu gewähren, wie ein Vater seinem Lieblingskind Er gab ihnen eine größere Selig­keit als Königen, Propheten und Weisen durch die Dinge, die et ihnen kundtat Er nannte sie »seine Kind­lein« und gab lieber ihnen seine Gaben als den Weisen und Klugen Er frohlockte und pries sie selig, daß sie in seinen Versuchungen bei ihm ausgeharrt hatten, und gleichsam als Zeichen der Dankbarkeit verkündete er ihnen, daß sie auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten werden. Er freute sich über ihre Liebe, als sein feierlicher Prozeß herannahte. Er sammelte sie um sich beim Letzten Abendmahl, als sollten sie ihm dabei helfen. »Ich habe ein großes Ver­langen gehabt«, sprach er, »dieses Ostermahl mit euch zu essen, ehedenn ich leide«. Es bestand also ein ge­genseitiger Austausch von Werken der Liebe und eine innere Übereinstimmung zwischen dem Herrn und sei­nen Jüngern. Es war jedoch sein anbetungswürdiger Wille, daß auch sie ihn verließen, daß er sich selbst überlassen war. Einer von ihnen verriet ihn, der an­dere verleugnete ihn, und die übrigen flohen und lie­ßen ihn in den Händen seiner Feinde. Selbst nach sei­ner Auferstehung wollte keiner an ihn glauben. Er trat die Kelter allein.

16. Er, der Allmächtige und Allselige, dessen Seele von der Herrlichkeit der Schauung seiner göttlichen Natur überfloß, wollte diese Seele allen Schwachheiten unterwerfen, die ihr der Natur nach eigen sind. Wie er es zuließ, daß sie sich an der Liebe erfreute und un­ter der Verlassenheit von Seiten menschlicher Freunde litt, so konnte er sie, sobald es ihm gefiel, auch des Lichtes der Gegenwart Gottes berauben, und er tat es. Das war das letzte und größte Leiden, das er ihr auf­erlegen konnte. Er war bei der Ausübung seines Er­löseramtes von den Menschen weg zu Gott geflohen; er hatte zu ihm gerufen; vor der rauhen Undankbarkeit des Geschlechtes, das er erlösen sollte, hatte er in der Vereinigung mit Gott Zuflucht gesucht Er ver­brachte nächtelang im Gebet. Er sprach: »Der Vater liebt den Sohn und zeigt ihm alle Dinge, die er selbst tut.« Er dankte ihm, daß er seine Geheimnisse vor den Weisen verborgen und den Kleinen geoffenbart habe. Aber nun entäußerte er sich auch dieses größten Tro­stes, aus dem er lebte, und zwar nicht bloß teilweise, sondern ganz. Als sein Leiden begann, sprach er: »Meine Seele ist betrübt bis zum Tod«, und in der letzten Stunde rief er aus: »Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?« Er war entblößt von allem. Mein Gott und Heiland, Du hast auf das Licht des Trostes verzichtet, Deine Seele war in Dunkel gehüllt, Dein liebendes Herz wurde in seiner Vereinsamung vom Durst verzehrt, und das alles um der Menschen willen. Entziehe mir nicht das Licht Deines Angesich­tes, damit ich nicht an seinem Verlust verschmachte und in meiner Schwäche untergehe! Wer kann den Verlust des Sonnenlichtes der Seele ertragen außer Dir? Wer kann ohne Licht seinen Weg gehen oder ohne frische Luft arbeiten, außer Deinen großen Hei­ligen? Ach. ich werde bei den Geschöpfen Trost suchen, wenn Du Dich mir versagst. Ich werde nicht sterben und nicht Hunger und Durst haben nach der Gerech­tigkeit, sondern meine Blicke auf das richten, was ge­rade bei der Hand ist; ich werde mich vom Abfall nähren und meinen Hunger mit Hülsen oder mit Asche und Spreu stillen, mit Dingen, die mich, wenn nicht vergiften, so doch auch nicht nähren. O mein Gott, be­freie mich aus dem Zustand der Dürre, in dem ich mich befinde! Gib mir den Trost Deiner Gnade! Wie soll ich Liebe und Sanftmut lernen, wenn ich Dich nicht vor Augen habe? Wie kann ich ausharren im Gebet – und als Mitglied des Oratoriums muß ich mehr beten als andere -. wenn Du mich nicht ermunterst und mir Gefallen daran gibst? Ein alter Mann hat kaum noch Wärme, langsam nur holt er Verlorenes ein. Doch, o mein Gott, der heilige Philipp ist mein Vater – er scheint nie im Leben trostlos gewesen zu sein. Du hast ihn mit vielen Prüfungen heimgesucht, aber das Licht Deiner Augen hast Du ihm nie entzogen. O heiliger Philipp, willst Du mir nicht einen kleinen Teil Deines eigenen Friedens, Deiner Freude, Heiterkeit und Güte und Deiner selbstverleugnenden Liebe von Gott er­bitten? Ich bin in allem das gerade Gegenteil von Dir und bin doch Dein Stellvertreter.

aus: John Henry Newman, Betrachtungen und Gebete, Im Kösel Verlag, München 1952, Übersetzung: Maria Knöpfler, 79-97.