Die Unsichtbare Welt

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Predigt vom 16. Juli 1837

„Indes blicken wir nicht hin auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare, denn das Sichtbare ist zeitlich, das Unsichtbare ist ewig“ (2 Kor 4,18).

Es gibt zwei Welten, die „sichtbare und die unsicht­bare“, wie das Credo sagt, die Welt, die wir sehen, und die Welt, die wir nicht sehen; und die unsicht­bare Welt existiert so wirklich wie die sichtbare. Sie existiert wirklich, obgleich wir sie nicht sehen. Daß die sichtbare Welt existiert, wissen wir, weil wir sie sehen. Wir brauchen nur das Auge zu er­heben und um uns her zu blicken und wir haben den Beweis dafür; unser Auge sagt es uns. Wir sehen Sonne, Mond und Sterne, Erde und Himmel, Hügel und Täler, Wälder und Felder, Meere und Flüsse. Und wieder: wir sehen Menschen und die Werke der Menschen. Wir sehen Städte und stattliche Bauten und die Bewohner derselben; wir sehen die Menschen, wie sie hin und her rennen und sich abmühen, den Unterhalt für sich und ihre Familien zu besorgen oder große Pläne zu vollführen oder rein um Geschäfte zu machen. Alles, was uns ins Auge fällt, bildet eine einzige Welt. Es ist eine unermeßliche Welt, sie reicht bis an die Sterne. Tausend und abertausend Jahre könnten wir zum Himmel emporstürmen, und wären wir schneller selbst als das Licht, wir würden sie nicht alle er­reichen. Sie sind in Entfernungen von uns, die jeder Angabe spotten. So hoch, so weit, so tief ist die Welt und doch, sie tritt auch nahe und eng an uns heran. Sie ist überall und scheint für eine andere Welt keinen Platz zu lassen.

Und doch gibt es trotz dieses weiten, sichtbaren Alls noch eine andere Welt, genau so ausgedehnt, uns genau so nahe, und noch wunderbarer; eine andere Welt um uns herum, obwohl wir sie nicht sehen, und noch wunderbarer als die, die wir sehen, schon aus dem Grund, wenn aus keinem anderen, daß wir sie nicht sehen. Rund um uns herum gibt es ungezählte Wesen, die kommen und gehen, wa­chen, werken und warten, die wir nicht sehen: das ist jene andere Welt, an die das Auge nicht heran reicht, sondern allein der Glaube. Bei diesem Gedanken wollen wir verweilen. Wir sind in eine Welt der Sinne hineingeboren: d. h. von den uns umgebenden wirklichen Dingen tritt ein großer Teil auf uns zu, spricht uns an durch unsere leiblichen Sinne: unsere Augen, Ohren und Finger. Wir fühlen, hören und sehen sie; wir wissen, daß sie existieren, weil wir sie so wahrnehmen. Un­zählbare Dinge umgeben uns, belebte und leblose; und eine bestimmte Gruppe dieser unzählbaren Dinge wird uns durch die Sinne zum Bewußtsein gebracht. Außerdem künden sie ihre Gegenwart an, indem sie auf uns einwirken. Da haben wir eine Empfindung von ihnen, wir sind uns bewußt, daß wir sie wahrnehmen. Wir sehen sie nicht nur, son­dern wissen, daß wir sie sehen; wir gehen nicht nur mit ihnen um, sondern wir wissen, daß dem so ist. Wir leben unter Menschen und wir wissen es. Wir empfinden Kälte und Hunger; wir wissen, mit welchen sinnfälligen Mitteln wir sie vertreiben können. Wir essen, trinken und kleiden uns, wir wohnen in Häusern, reden und handeln miteinander und er­füllen die Pflichten des sozialen Lebens; und bei diesem Tun fühlen wir lebhaft, daß wir es tun. Dies ist unser Verhältnis zu einem Teil der unzählbaren Dinge, die uns umgeben. Sie wirken auf uns ein, und wir wissen es, umgekehrt wirken wir auf sie ein, und es ist uns bewußt.

Alles dies schließt jedoch die Existenz jener anderen Welt nicht aus, von der ich rede, die auf uns ein­wirkt, ohne uns zum Bewußtsein zu bringen, daß dem so ist. Sie kann uns aber ebenso wirklich gegen­wärtig sein und ihren Einfluß auf uns ausüben wie jene, die sich uns enthüllt. Daß es eine solche Welt gibt, sagt uns die Schrift. Fragt ihr, was sie ist und was sie enthält? Ich will nicht behaupten, daß alles, was zu ihr gehört, weit wichtiger sei als die sichtbare Welt, denn unter den sichtbaren Dingen befinden sich unsere Mitmenschen, und unter den Geschöpfen ist keines kostbarer und edler als ein Menschenkind. Betrachtet man aber die Dinge, die wir insgesamt sehen, gegenüber denen, die wir nicht insgesamt sehen, so ist die unsichtbare Welt viel höher als die sichtbare. Denn erstlich ist Der anwesend, der über allen Wesen steht, der sie alle erschuf, vor dem sie alle wie ein Nichts sind und dem nichts vergleichbar ist. Gott, der Allmächtige, existiert, wir wissen es, ganz anders wirklich und absolut als irgendeiner unserer Mitmenschen, deren Existenz wir durch die Sinne erfahren; und doch, wir sehen Ihn nicht, hören Ihn nicht, wir „tasten nur nach Ihm“, jedoch ohne Ihn zu finden (Apg 17, 27). So ist klar, die sichtbaren Dinge sind nur ein Teil, und zwar ein sekundärer Teil der Wesen um uns, und wäre es nur aus dem einen Grund, daß der allmäch­tige Gott, das Wesen aller Wesen, Sich nicht unter ihrer Zahl befindet, sondern unter „den unsicht­baren Dingen“. Einmal, nur einmal hat Er Sich herabgelassen, dreiunddreißig Jahre lang eines von den sichtbaren Wesen zu werden, als Er, die zweite Person der Ewig-Gepriesenen Dreifaltigkeit, durch unaussprechliche Erbarmung aus die Jungfrau Maria in diese wahrnehmbare Welt geboren wurde. Damals konnte man Ihn sehen, hörend betasten; Er aß, Er trank, Er schlief, Er pflegte Umgang, Er ging umher, Er handelte wie die andern: abgesehen je­doch von dieser kurzen Periode war Seine Gegen­wart niemals wahrnehmbar; Er hat uns Seine Exi­stenz niemals durch die Wahrnehmung der Sinne zum Bewußtsein gebracht. Er kam und zog Sich wieder hinter den Vorhang zurück; und es ist, als habe Er Sich uns persönlich niemals sichtbar ge­macht; so wenig Sinnenerfahrung haben wir von Seiner Gegenwart. Und doch „lebt Er allezeit“ (Hebr 7, 25). In dieser anderen Welt befinden sich auch die See­len der Verstorbenen. Sie hören bei ihrem Scheiden von hier nicht auf zu existieren, sie ziehen sich nur zurück von diesem sichtbaren Schauplatz der Dinge; oder mit anderen Worten, sie hören auf, durch unsere Sinne auf uns und unter uns zu wirken. Sie leben, wie sie zuvor lebten; aber jene äußere Ge­stalt, durch die sie mit anderen Menschen Ver­bindung pflegen konnten, ist ihnen auf eine uns unbekannte Weise abgenommen worden, sie ist ab­gestorben und zusammengeschrumpft wie das Blatt, wenn es vom Baume fällt. Sie bleiben bestehen, aber ohne die gewöhnlichen Mittel, sich uns zu nähern und mit uns zu verkehren. Wenn einer seine Stimme oder seine Hand verliert, so existiert er immer noch wie zuvor, nur daß er nicht mehr spre­chen oder schreiben oder sonst wie mit uns verkehren kann: ganz so ist es, wenn einer nicht die Stimme und Hand allein, sondern seine ganze Erscheinungs­form verliert oder, wie man sagt, stirbt: nichts spricht dafür, daß er gegangen ist, wir haben ledig­lich keine Möglichkeit mehr, ihn wahrzunehmen. Ferner: auch die Engel sind Bewohner der unsicht­baren Welt. Über sie ist uns viel mehr mitgeteilt worden als über die Seelen der abgeschiedenen Gläubigen, denn diese letzteren „ruhen aus von ihren Mühen“ (Offb 14,13); aber die Engel sind I in tätigem Dienst unter uns in der Kirche. Sie heißen „dienende Geister, ausgesandt zum Dienste um derer willen, die die Seligkeit erben sollen“ (Hebr 1,14). Kein Christ ist so gering, daß er nicht Engel hätte, die ihm dienen, sofern er im Glauben und in der Liebe lebt. Obwohl diese so groß, so herrlich, so rein, so wunderbar sind, daß schon ihr Anblick (dürften wir sie sehen) uns zu Boden schlagen würde, wie dies Daniel widerfuhr, so heilig und rechtschaffen er war, – so sind sie dennoch unsere „Mitknechte“ und Mitarbeiter und sie bewachen sorgfältig und beschützen selbst den Geringsten aus uns, wenn wir zu Christus gehören. Daß sie einen Teil der unsichtbaren Welt bilden, wird klar aus der Schau, die dem Patriarchen Jakob gewährt war. Wir hören, daß er auf der Flucht vor seinem Bruder Esau „an einem bestimmten Ort lagerte und, da die Sonne untergegangen war, die ganze Nacht dort verweilte; da nahm er von den dort liegenden Stei­nen und schob sie unter sich als Kissen und legte sich dort zum Schlafe nieder“. Wie wenig kam ihm der Gedanke, daß an diesem Ort etwas sehr Wunderbares war. Er sah aus wie jeder andere Ort. Es war ein einsamer, unbequemer Platz, kein Haus dort, die Nacht brach herein und er mußte auf dem bloßen Gestein schlafen. Und doch, wie ganz anders war es in Wirklichkeit! Er hatte nur die sichtbare -Welt gesehen, nicht die unsichtbare; aber die un­sichtbare Welt war da. Sie war da, obwohl sie nicht ohne weiteres ihre Nähe verriet, sondern ihm auf übernatürliche Weise veranschaulicht werden mußte. Er sah sie in seinem Schlaf. „Und er sah im Traum eine Leiter, die dastand auf der Erde und mit der Spitze den Himmel berührte, und siehe, die Engel Gottes stiegen auf und nieder auf derselben. Und siehe, der Herr stand auf der Leiter“ (Gn 28,11-13). Das war die andere Welt. Nun aber achtet auf Fol­gendes: Gewöhnlich spricht man so, als ob die an­dere Welt nicht jetzt existiere, sondern erst nach dem Tod. Nein; sie existiert jetzt, obwohl wir sie nicht sehen. Sie ist unter uns und um uns. Jakob bekam dies im Traum zu sehen. Engel waren rings um ihn, obwohl er es nicht gewußt hatte. Und was Jakob im Traume sah, das sah der Knecht des Elisäus gleichsam mit leiblichen Augen; und die Hirten sahen sie bei der Geburt Christi nicht nur, sondern hörten sie: Sie hörten die Stimmen jener seligen Geister, die den Herrn Tag und Nacht preisen, die wir in unserer niedrigeren Daseinsweise nach­ahmen, denen wir uns anschließen dürfen. So leben wir denn in einer Welt der Geister, so gut wie in der Welt der Sinne; wir stehen in Verbin­dung mit jener und nehmen teil an ihr, obwohl wir uns dessen nicht bewußt sind. Wenn das jemand merkwürdig vorkommt, dann möge er bedenken, daß wir unleugbar an einer dritten Welt teilhaben, die wir tatsächlich sehen, über die wir aber nichtmehr wissen als über die Schar der Engel – über die Welt der unvernünftigen Tiere. Gibt es etwas Wundervolleres und Staunenswerteres, wären wir nicht daran gewöhnt, als die Tatsache, daß wir um uns eine Gattung von Wesen haben, die wir nur sehen, über deren Zustand wir aber ebensowenig wissen oder deren Interessen und Geschicke wir ebensowenig beschreiben können, wie wir über die Bewohner von Sonne und Mond etwas aussagen können. Es ist wahrhaft ein überwältigender Ge­danke, wenn wir daran gehen, uns im Geist damit enger zu befassen, daß wir Umgang, ja ich möchte sagen Austausch pflegen mit Geschöpfen, die uns ebenso fremd und geheimnisvoll sind, als wären sie aus der Fabel, als wären sie unirdische Wesen, mächtiger als der Mensch und doch seine Sklaven, wie östlicher Aberglaube sie ersann. Von den En­geln haben wir eine genauere Kenntnis als von den Tieren. Letztere scheinen Leidenschaften, Gewohn­heiten und eine Art von Zurechnungsfähigkeit zu haben, aber alles um sie ist Geheimnis. Wir wissen nicht, ob sie sich versündigen können oder nicht, ob sie unter Strafe stehen, ob sie nach diesem Leben weiterleben. Einem Teil derselben bereiten wir große Leiden, und sie ihrerseits scheinen immer wieder gleichsam kraft eines merkwürdigen Ge­setzes zurückzuschlagen. Auf viele bedeutsame Weise sind wir auf sie angewiesen; wir bedienen uns ihrer Arbeit und genießen ihr Fleisch. Doch dies gilt nur von jenen, mit denen wir nähere Berührung haben. Laßt eure Gedanken hingehen über ihre ganze Zahl, groß und klein, in den weiten Wäldern, im Wasser oder in der Luft – und dann sagt, ob das Dasein einer so zahllosen Menge, so verschieden in ihrer Natur, so wunderlich und wild in ihrer Gestalt, auf der Erde lebend ohne greifbaren Zweck, nicht ebenso geheimnisvoll ist wie alles, was uns die Schrift über die Engel sagt? Ist es unseren Sinnen nicht offenbar, daß es in der Stufenleiter der Wesen eine Welt unter uns gibt, mit der wir verbunden sind, ohne daß wir ihre Natur begreif en? Und sollte es da dem Glauben schwer sein, das Wort der Schrift anzuerkennen, das von unserer Verbindung mit einer Welt spricht, die höher steht als wir? Und findet man es wirklich schwer, an die Existenz einer Geisterwelt mitten unter uns zu glauben, weil wir sie nicht gewahren, dann sollte man überlegen, wieviel Welten gleichzeitig miteinander tatsächlich in der menschlichen Gesellschaft selber sich finden. Wir sprechen von der politischen Welt, von der wissenschaftlichen, der gebildeten, der literarischen, der religiösen Welt; und das ganz mit Recht: denn die Menschen sind so eng verbunden mit einigen und wieder so getrennt von anderen, sie haben so verschiedene Ziele und so verschiedene Prinzipien und infolgedessen Verpflichtungen, daß es an ein und demselben Ort zugleich eine Anzahl von Krei­sen oder (wenn man es so nennen will) Welten zu­gleich gibt, aus sichtbaren Menschen zusammenge­setzt und doch selber unsichtbar, unbekannt, ja, ohne wechselseitig verstanden zu werden. Die Menschen bewegen sich auf den gewöhnlichen Pfaden des Le­bens und haben das gleiche Aussehen; aber es ver­bindet sie wenig gemeinsames Fühlen; keiner weiß viel von dem, was sich in einer anderen Sphäre als der seinigen ereignet; und käme ein Fremder irgendwie in die Nähe, er würde nach Maßgabe seiner eigenen Ziele oder Verbindungen insge­samt mit einem völlig anderen oder gegenteiligen Eindruck weggehen. Oder, verlassen wir eine Zeitlang den politischen und geschäftlichen Trubel einer Großstadt und lassen wir uns an einem abgeschlossenen Landort nieder: dort, wo es keine Tagesneuigkeiten gibt, besehet euch die Lebens­ und Denkweise seiner Bewohner, ihre Beschäfti­gungen und Ansichten; dann urteilt, ob die Welt, auf ihre einzelnen Teile besehen, nicht sich selbst noch unähnlicher ist, als sie unähnlich ist der Engelwelt, die von der Schrift in ihre Mitte ver­netzt wird.

Die Geisterwelt also ist zwar unsichtbar, aber den­noch gegenwärtig; gegenwärtig, nicht zukünftig, nicht fern. Sie ist nicht über den Himmeln, nicht jenseits des Grabes, sie ist jetzt und hier; das Reich Gottes ist unter uns. Hiervon redet der Vorspruch; – „wir blicken nicht hin auf das Sichtbare“, sagt Paulus, „sondern auf das Unsichtbare; denn das Sichtbare ist zeitlich, das Unsichtbare ist ewig“. Ihr sehet, er hielt dies für eine praktische Wahrheit, die unseren Wandel beeinflussen muß. Er spricht nicht nur von der unsichtbaren Welt, sondern von der (Pflicht, auf sie „hinzublicken“; er stellt die zeitlichen Dinge nicht nur ihr gegenüber, sondern sagt, daß ihre Zeitlichkeit uns veranlaßt, nicht auf sie hinzu­blicken, sondern von ihnen weg; daß die Ewigkeit nicht etwa fern, ist, weil sie in die Zukunft reicht, noch daß das Unsichtbare ohne Einfluß auf uns ist, weil es nicht greifbar ist. Ähnlich sagt er in einem anderen Brief: „Unser Wandel ist im Himmel“ (Phil 3, 20); und wiederum: „Gott hat uns mitauferweckt und mitversetzt in den Himmel in Christus Jesus“ (Eph 2, 6); und wieder: „Euer Leben ist ver­borgen mit Christus in Gott“ (Kol 3, 3). Das gleiche bezwecken die Worte des heiligen Petrus: „Welchen ihr, ohne Ihn gesehen zu haben, lieb habt, an welchen ihr, ohne Ihn gesehen zu haben, glaubt, über den ihr euch freut mit unaussprechlicher und herr­licher Freude“ (1Petr 1,8). Und dasselbe, wenn der heilige Paulus von den Aposteln spricht: „Zum Schauspiel sind wir geworden der Welt, den Engeln und den Menschen“ (1 Kor 4, 9); und wenn er in den bereits angeführten Worten von den Engeln spricht als den „dienenden Geistern, ausgesandt zum Dienste um derer willen, die die Seligkeit erben sollen“ (Hebr 1,14).

Das ist das verborgene Reich Gottes; aber wie es jetzt verborgen ist, so wird es zur gegebenen Zeit offenbar werden. Die Menschen halten sich für die Herren der Welt, die da tun können, wie sie wollen. Sie glauben, die Erde sei ihr Eigentum und ihre Bewegungen stünden in ihrer Macht; aber sie hat außer ihnen noch andere Herren und ist der Schau­platz eines höheren Kampfes, als sie begreifen kön­nen. Sie trägt die Kiemen Christi, die sie verachten, und Seine Engel, an die sie nicht glauben; und zu­letzt werden diese von ihr Besitz ergreifen und sich offenbaren. Jetzt „geht alles“, dem Anschein nach, „weiter wie vom Beginn der Schöpfung an“ und die Spötter fragen: „Wo bleibt die Verheißung Seiner Wiederkunft?“ (2 Petr 3, 4). Aber zur gegebenen Zeit wird die „Offenbarung der Kinder Gottes“ kommen, und die verborgenen Heiligen „werden leuchten wie die Sonne im Reiche des Vaters“ (Röm 8,19; Mt 13, 43). Als die Engel den Hirten er­schienen, geschah die Erscheinung plötzlich – „Und sogleich war bei dem Engel eine Menge himmlischer Heerscharen“ (Lk 2,13). Welch wunderbarer An­blick! Die Nacht war vorher scheinbar wie jede an­dere Nacht; wie der Abend, da Jakob seine Vision schaute, jedem anderen Abend glich. Sie hielten Wache bei den Schafen, sie beobachteten die Nacht, wie sie voranschritt. Die Sterne zogen herauf, es ward Mitternacht. Als der Engel kam, hatten sie von so etwas keine Vorstellung. Das ist die Macht und die Kraft, die in den sichtbaren Dingen ver­borgen liegen und, wenn Gott es will, offenbar wer­den. Sie offenbarten sich dem Jakob für einen Augenblick, einen Augenblick lang dem Knecht des Elisäus, einen Augenblick lang den Hirten. Sie werden sich für immer offenbaren, wenn Christus am Jüngsten Tag kommt „in der Herrlichkeit Seines Vaters mit den heiligen Engeln“ (Mt 16, 27). Dann wird diese Welt vergehen, und die andere Welt wird aufleuchten.

Dies seien eure Gedanken, meine Brüder, besonders in diesen Frühlingstagen, wo das ganze Antlitz der Natur so reich und schön ist. Einmal nur im Jahr, immerhin einmal, enthüllt die sichtbare Erde ihre verborgene Kraft und offenbart sich gewissermaßen. Dann quellen die Blätter hervor und die Blüten der Fruchtbäume und die Blumen; Gras und Korn schießen empor. Ein plötzliches Schwellen und Auf­brechen jenes verborgenen Lebens beginnt, das Gott in die stoffliche Welt gelegt hat. Das nun zeigt euch im Beispiel, wozu sie auf Gottes Befehl imstande ist, wenn Er Sein Wort ergehen läßt. Diese Erde, die nun in Blättern und Blüten sprießt, wird eines Tages aufblühen in eine neue Welt des Lichtes und der Herrlichkeit, in der wir Heilige und Engel woh­nen sehen. Wer möchte glauben – es sei denn, er hat es von früheren Frühlingszeiten sein Leben hin­durch erfahren -, wer möchte an die Möglichkeit glauben zwei oder drei Monate zuvor, daß das Ant­litz der Natur, das so leblos schien, nun so lichtvoll und farbenbunt werden solle? Wie verschieden ist ein Baum, wie verschieden sein Anblick, wenn er in Blättern steht und wenn sie fehlen! Wie unwahr­scheinlich möchte es uns zuerst vorkommen, daß die dürren und nackten Äste sich plötzlich in ein so leuchtendes, frisches Gewand kleiden sollen! Aber zu der von Gott bestimmten Zeit sprossen Blätter an den Bäumen. Die Jahreszeit mag zaudern, aber kommen tut sie endlich doch. So ist es mit dem Kommen jenes Frühlings, auf den alle Christen warten. Er wird kommen, wenn er auch zögert; ja, wir wollen auf ihn warten, trotz seines Zögerns, „denn er kommt sicher und zögert nicht“ (Hebr 10, 37; Hab 2, 3). Deshalb beten wir alle Tage: „Es komme Dein Reich“; d.h.- Herr, zeige Dich, offen­bare Dich; Du, der Du zwischen Cherubinen thro­nest, zeige Dich; wecke auf Deine Macht, komm uns zu Hilfe. Die Erde, die wir sehen, genügt uns nicht; sie ist nur ein Anfang; sie ist nur die Verheißung eines Höheren; selbst wenn sie am heitersten ist, im Schmuck aller ihrer Blüten, und wenn sie höchst rührend aus ihrer Verborgenheit heraustritt, genügt sie uns doch nicht. Wir wissen, es liegt viel mehr in ihr verborgen, als wir sehen. Eine Welt von Hei­ligen und Engeln, eine herrliche Welt, ein Palast Gottes. Der Berg des Herrn der Heerscharen, das himmlische Jerusalem, der Thron Gottes und Chri­sti: alle diese Wunder, ewig dauernd, über alles kostbar, geheimnisvoll und unfaßbar, liegen in dem verborgen, was wir erblicken. Was wir sehen, ist die äußere Hülle eines ewigen Reiches; und auf dieses Reich sind die Augen unseres Glaubens ge­heftet. Leuchte hervor, o Herr, wie damals, als bei Deiner Geburt Deine Engel den Hirten erschienen; laß Deine Herrlichkeit hervorblühen wie die Blüten und Blätter an den Bäumen. Verwandle mit Deiner mächtigen Kraft diese Erde in jene göttlichere Welt, die wir jetzt noch nicht sehen; zerstöre das Sicht­bare, daß es vergehe und in das umgebildet werde, was wir glauben. Mögen Sonne, Himmel und Wol­ken noch so strahlen, mögen Blätter und Gefilde noch so grünen, mag noch so süß der Vögel Sang ertönen: wir wissen, das ist nicht alles, und wir geben uns nicht zufrieden mit einem Teil an Stelle des Ganzen. Dies alles entströmt einem Quell der Liebe und Güte, der Gott selber ist, aber es ist nicht Seine Fülle; es kündet vom Himmel, aber es ist nicht der Himmel; es ist nur wie ein irrender Strahl und ein schwacher Widerschein Seines Bildes; nur wie die Brosamen vom Tisch. Wir schauen aus nach dem Anbruch des Tages des Herrn, wenn die ganze äußere Welt trotz aller ihrer Schönheit untergeht; wenn die Himmel verbrennen und die Erde schmilzt. Wir können den Verlust ertragen, denn wir wissen, es wird nur das Aufziehen eines Vorhanges sein. Wir wissen, daß das Zurückweichen der sichtbaren Welt die Offenbarung der unsichtbaren Welt sein wird. Wir wissen, daß das Sichtbare gleichsam eine dünne Wand ist, die uns Gott und Christus, die Heiligen und die Engel verhüllt. Und wir ver­langen im Ernst und beten darum, daß das Sicht­bare vergehe, da wir uns nach dem Unsichtbaren sehnen. O selig, die bestimmt sind zur Anschauung dieser Wunder, inmitten derer sie jetzt schon stehen, auf die sie jetzt schon blicken, die sie aber nicht er­kennen! Selig, die einmal schauen dürfen, was bis dahin kein sterbliches Auge geschaut hat und was nur der Glaube genießt! Diese Wunder der neuen Welt sind schon jetzt, was sie später sein werden Sie sind unsterblich und ewig; und die Seelen, die sich ihrer bewußt werden, werden sie schauen in jener Ruhe und Majestät, in der sie immer schon waren. Wer aber vermag das Staunen und Ent­zücken auszudrücken, das jene überkommen wird, die sie endlich erstmals erfassen dürfen und für deren Erkennen sie neu sind. Wer kann, und wenn er seine Vorstellung noch so ausweitet, die Gefühle jener sich ausmalen, die im Glauben gestorben sind und nun aufwachen zu freudigem Besitz! Das Le­ben, das dann beginnt, wird, so wissen wir, ewig dauern; und doch wird dies, wenn die Erinnerung für uns das bleibt, was sie jetzt ist, ein Tag sein, der für ewige Zeiten ganz zur Ehre des Herrn gefeiert wird. Wir können zwar stets zunehmen an Erkennt­nis und Liebe, jedoch wird jenes erste Erwachen von den Toten, der Tag unserer Geburt und Ver­mählung zugleich, unserem Denken stets lieb und heilig sein. Wenn wir uns nach langer Grabesruhe mit frischen Kräften beschenkt sehen, neu belebt durch den Samen des ewigen Lebens in uns, fähig, Gott zu lieben nach Herzenslust, wissend, daß alle Trübsal, aller Schmerz, alle Plage, Angst und Ent­behrung für immer überstanden sind, glücklich in der Fülle der Liebe zu jenen irdischen Freunden, die wir so unzulänglich liebten und so wenig schüt­zen konnten, während sie noch unter uns im Fleische weilten, und mehr als alles, heimgesucht durch die unmittelbare, sichtbare, unaussprechliche Gegen­wart des Allmächtigen Gottes, mit Seinem Einge­borenen Sohn, unserem Herrn Jesus Christus und Seinem gleich-wesentlichen, gleich-ewigen Geist, durch jene herrliche Schau, in der die Fülle der Freude und Fröhlichkeit für immer ist – welch tiefe, unmittelbare, unvorstellbare Gedanken wer­den uns dann erfüllen! Welche Abgründe werden sich in uns auf tun! Welch verborgene Harmonien werden in uns aufwachen, deren die menschliche Natur unfähig schien!

Irdische Worte sind wahrhaftig hohl, solch hohe Erwartungen auszudrücken. Laßt uns die Augen schließen und stille sein. „Alles Fleisch ist Gras und alle seine Herrlichkeit wie die Blume des Feldes. Das Gras verdorrt, die Blume welkt, denn der Hauch des Herrn bläst darein: Wahrlich, Gras ist das Volk. Das Gras verdorrt, die Blume welkt; aber das Wort unseres Herrn bleibet ewiglich“ (Is 40, 6-8).

Aus Pfarr- und Volkspredigten, IV. Band, Schwabenverlag, Stuttgart 1952, S. 227-241.