Er, der Allmächtige und Allselige, dessen Seele von der Herrlichkeit beim Anblick seiner göttlichen Natur überfloß, wollte diese Seele allen Schwachheiten unterwerfen, die ihr der Natur nach eigen sind. Wie er es zuließ, daß sie sich an der Liebe erfreute und unter der Verlassenheit von seiten menschlicher Freunde litt, so konnte er sie, sobald es ihm gefiel, auch des Lichtes der Gegenwart Gottes berauben, und er tat es. Das war das letzte und größte Leiden, das er ihr auferlegen konnte. Er war bei der Ausübung seines Erlöseramtes von den Menschen weg zu Gott geflohen; er hatte zu ihm gerufen; vor der rauhen Undankbarkeit des Geschlechtes, das er erlösen sollte, hatte er in der Vereinigung mit Gott Zuflucht gesucht. Er verbrachte nächtelang im Gebet. Er sprach: „Der Vater liebt den Sohn und zeigt ihm alle Dinge, die er selbst tut.“ Er dankte ihm, daß er seine Geheimnisse vor den Weisen verborgen und den Kleinen geoffenbart habe. Aber nun entäußerte er sich auch dieses größten Trostes, aus dem er lebte, und zwar nicht bloß teilweise, sondern ganz. Als sein Leiden begann, sprach er: „Meine Seele ist betrübt bis zum Tod“, und in der letzten Stunde rief er aus: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Er war entblößt von allem.
Mein Gott und Heiland, du hast auf das Licht des Trostes verzichtet, deine Seele war in Dunkel gehüllt, dein liebendes Herz wurde in seiner Vereinsamung vom Durst verzehrt, und das alles um der Menschen willen. Entziehe mir nicht das Licht deines Angesichtes, damit ich nicht an seinem Verlust verschmachte und in meiner Schwäche untergehe! Wer kann den Verlust des Sonnenlichtes der Seele ertragen außer dir? Wer kann ohne Licht seinen Weg gehen oder ohne frische Luft arbeiten, außer deinen großen Heiligen? Ach, ich werde bei den Geschöpfen Trost suchen, wenn du dich mir versagst. Ich werde nicht sterben und nicht Hunger und Durst haben nach der Gerechtigkeit, sondern meine Blicke auf das richten, was gerade bei der Hand ist; ich werde mich vom Abfall nähren und meinen Hunger mit Hülsen oder mit Asche und Spreu stillen, mit Dingen, die mich, wenn nicht vergiften, so doch auch nicht nähren. O mein Gott, befreie mich aus dem Zustand der Dürre, in dem ich mich befinde! Gib mir den Trost deiner Gnade! Wie soll ich Liebe und Sanftmut lernen, wenn ich dich nicht vor Augen habe? Wie kann ich ausharren im Gebet… wenn du mich nicht ermunterst und mir Gefallen daran gibst?
Aus: John Henry Newman, Betrachtungen und Gebete, pp. 95-96