Der selbstweise Forscher

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17. Predigt vom 24. Oktober 1830

„Niemand täusche sich selbst! Wenn jemand unter euch sich weise zu sein dünkt in dieser Welt, der werde ein Tor, auf daß er weise werde. Denn die Weisheit dieser Welt ist Torheit bei Gott. Es steht geschrieben: „Er fängt die Weisen in ihrer Schlauheit“

(l Kor3,18.19).

Unter den verschiedenen Täuschungen, vor denen der heilige Paulus uns warnt, ist eine der ersten die der falschen Weisheit; so im Vorspruch. Die Korinther rühmten sich ihres Scharfsinnes und ihres Wissens; als ob irgend etwas der Erhaben­heit christlicher Liebe gleichkäme. Demgemäß sagt der heilige Paulus in seinem Brief an sie, „nie­mand täusche sich selbst! Wenn jemand unter euch sich weise zu sein dünkt in dieser Welt“ (d. h. den Ruf der Weisheit in der Welt besitzt), „der werde ein Tor (das, was die Welt einen Toren nennt), auf daß er (wirklich) weise werde“. „Denn“, fährt er fort (gerade wie wirkliche Weisheit in den Augen der Welt Torheit ist, so auch umgekehrt), „die Weisheit dieser Welt ist Torheit bei Gott“. Diese Warnung des Apostels vor dem Vertrauen auf unsere eigene Weisheit soll uns heute mit Gottes Hilfe zu einigen heilsamen Erwägungen Anlaß sein.

Von der Weisheit der Welt heißt es, sie sei Tor­heit in Gottes Augen und ihr Ende Irrtum, Verwirrung und folglich Verderben. „Er fängt die Weisen in ihrer eigenen Schlauheit“. Hier liegt einer der besonderen Gründe, weshalb erklärte Forscher nach Wahrheit sie nicht finden. Sie suchen sie auf falscher Fährte, nämlich mittels eitler Weisheit, welche sie von der Wahrheit wegführt, wie erfolgverheißend sie auch scheinen mag. Wir wollen also darnach fragen, was man unter eitler Weisheit versteht, und dann werden wir um so besser sehen, wie sie den Menschen irre führt. Die Behauptung nun, auf unsere eigenen Ansichten zu vertrauen sei verkehrt und eitle Weisheit, gilt natürlich nicht für die Gesamtheit unserer eigenen Ansichten; denn wir müssen uns auf unsere eigenen Ansichten in der einen oder anderen Form ver­lassen und einige unserer Ansichten sind recht und wahr. Die Frage lautet daher: was ist jenes schäd­liche Verlassen auf sich selbst, jenes sündige Selbstvertrauen oder jener Eigendünkel, der im Vorspruch „Weisheit der Welt“ genannt wird und eine Hauptursache für das Fehlgehen in unseren religiösen Forschungen ist?

Es gibt Ansichten, auf die wir uns ohne Tadel verlassen können: nämlich jene, deren wir durch unser Gewissen inne werden, weil sie von Gott kommen. Ich verstehe darunter unsere Gewißheit, daß es Recht und Unrecht gibt, gewisse Dinge ge­tan werden sollten und andere nicht, daß wir Pflichten haben, deren Vernachlässigung uns Ge­wissensbisse verursacht; ferner, daß Gott gut, weise, mächtig und gerecht ist und wir versuchen sollten, Ihm zu gehorchen. All dieser Ansichten und einer Menge anderer derartiger werden wir durch unser natürliches Gewissen bewußt; d. h. sie sind von frühester Jugend an in unser aller Seelen ohne unser Bemühen eingeprägt. Sie entspringen nicht der bloßen Übung unseres Geistes, obgleich es wahr ist, daß sie dadurch gestärkt und gebildet werden. Sie kommen von Gott, sei es von innen oder von außen. Obwohl wir ihnen nicht so unbe­dingt trauen können wie der Bibel, weil die Wahr­heiten der Bibel tatsächlich schriftlich erhalten sind und daher nicht verloren gehen oder verändert werden können, dürfen wir doch, soweit wir Grund haben, sie für wahr halten, uns auf sie verlassen und viel auf sie halten, ohne der Sünde des Selbst­vertrauens zu verfallen. Diese Erkenntnisse, die wir ohne unsere Bemühung erlangen, werden uns nie­mals stolz oder eingebildet machen, weil sie immer von einem Bewußtsein der Sünde und Schuld be­gleitet sind, von der Erinnerung, daß wir sie zu­weilen übergangen und verletzt haben. Das Ver­trauen auf sie ist nicht die falsche Weisheit der Welt oder die Torheit, weil sie vom allweisen Gott kommen. Und weit davon entfernt, den Menschen zum Irrtum zu verleiten, werden sie, wenn beobachtet, ihn mit Sicherheit zu einem festen Glauben an die Schrift führen. In dieser wird er alle jene undeutlichen Vermutungen und unvollkommenen Ansichten über die Wahrheit, die sein eigenes Herz ihn lehrte, reichlich bestätigt, ergänzt und beleuchtet finden. Dies also sind die Meinungen und Gefühle, auf die ein Mensch nicht stolz ist. Welches sind jene, auf die er wahrscheinlich stolz ist? Es sind die­jenigen, zu denen er nicht von Natur aus, sondern durch seinen eigenen Fleiß, seine Fähigkeit und Forschung gelangt; diejenigen, über die er ver­fügt, andere aber nicht. Jeder ist in Gefahr, sich selbst nach seinen Leistungen einzuschätzen. Daher legt ein solcher gern viel Wert auf Wahrheiten (oder eingebildete Wahrheiten), zu denen er aus sich selbst nach vielem Nachdenken und vieler Mühe gelangt ist, und verläßt sich gern auf sie. Das also ist die Quelle jener eitlen Weisheit, von welcher der Apostel im Leittext spricht. Dieses Vertrauen auf unsere eigene Denkkraft führt indessen (meine ich) nicht nur zum Stolz, sondern auch zur „Torheit“, und zum verderb­lichen Irrtum, weil es dabei in Gegensatz zur Schrift gerät. Wer sich einbildet, er könne die Wahrheit aus eigener Kraft finden, verschmäht die Offenbarung. Wer annimmt, er habe sie entdeckt, kann die Offenbarung nicht ertragen. Er fürchtet, sie werde seinen eigenen eingebildeten Entdeckun­gen ins Gehege kommen; er hat keine Lust, sie zu Rate zu ziehen, und wenn sie ihm ins Gehege kommt, dann ist er verärgert. Wir hören viel von dieser stolzen Zurückweisung der Wahrheit in dem Briefe, dem unser Vorspruch entnommen ist. Die Juden hegten Ärger, die Heiden Verachtung gegen die christliche Lehre. „Die Juden forderten ein Zeichen (entsprechend ihren vorgefaßten Ansich­ten über das Kommen des Messias), und die Griechen suchen Weisheit (eine ausgeklügelte Kette von Schlußfolgerungen), wir hingegen pre­digen Christus den: Gekreuzigten, den Juden ein Stein des Anstoßes, den Griechen eine Torheit“ (1 Kor 1, 22. 23). An einer anderen Stelle sagt der Apostel von den irregeleiteten Christen von Korinth, „jetzt seid ihr erfüllt“ mit euren eigenen Ansichten, „jetzt seid ihr reich, ihr habt geherrscht wie Könige ohne uns“ (1 Kor 4, 8); d. h. ihr habt euch gerühmt einer Weisheit, „außerhalb“ der Wahrheit der apostolischen Lehre und getrennt davon. Das Vertrauen auf unsere eigene Urteils­kraft also führt nach dem Wort des heiligen Pau­lus zur Torheit, weil sie in unseren Herzen Gleich­gültigkeit oder Widerwillen gegen die Belehrung der Schrift verursacht.

Abgesehen davon, daß uns die Urteilskraft so vom besten Wegweiser abhält, macht sie uns auch zu Toren, weil wir einem schlechten Wegweiser ver­trauen. Unsere Urteilskraft ist in allen Unter­suchungen der sittlichen und religiösen Wahrheit sehr schwach. So hellsichtig der Verstand in an­deren Fragen und so vertrauenswürdig er als Führer ist, so ist er doch in den mit unseren Pflich­ten gegen Gott und Menschen zusammenhängen­den Fragen sehr ungeschickt und zweideutig. Schließlich gelangt der Verstand kaum zu den­selben großen Wahrheiten, welche autoritativ durch das Gewissen und die Schrift verkündet werden. Tritt er daher bei Untersuchungen auf religiösem Gebiet in Tätigkeit ohne die Beziehung zu diesen von Gott gutgeheißenen Unterweisern, so ist es wahrscheinlich, daß er die Wahrheit gänz­lich verfehlt. So wird der (sogenannte) Weise in seiner eigenen Schlauheit gefangen. Wir alle er­innern uns ohne Zweifel an unseres Herrn Worte, die ganz zu dem Gesagten passen: „ich danke Dir, Vater, Herr des Himmels und der Erde, daß Du dies vor Weisen und Klugen verborgen (vor sol­cher die auf ihre eigenen Verstandeskräfte ver­trauen), den Kleinen aber geoffenbart hast“ (Mt 11, 25), d. h. jenen, die im Glauben und um des Gewissens willen handeln.

Die falsche Weisheit also, von welcher der heilige Paulus im Leittext spricht, ist ein Vertrauen auf unsere eigenen Kräfte, durch sie zur religiösen Wahrheit zu gelangen, statt anzunehmen, was von Gott für uns vorgesehen ist, sei es in der Natur, sei es in der Offenbarung. Das ist die Art der Welt. In der Welt stellt sich die Vernunft gegen das Gewissen und sie maßt sich dessen Macht an. Daher werden die Menschen „weise in ihrem Eigendünkel“, und „da sie sich auf ihre eigenen Ansichten stützen“, „irren sie von der Wahrheit ab“ (1 Tim 6, 10). Wir wollen uns nun einige Einzelheiten ansehen dieses Kampfes zwischen un­serem unwillkürlichen Empfinden für Recht und Unrecht und unserer schwachen und eingebildeten Vernunft.

Der Kampf beginnt in uns, wenn die Kindheit und das Knabenalter vorbei sind und die Zeit für un­seren Eintritt ins Leben kommt. Vor dieser Zeit vertrauten wir unbedenklich auf unser von Gott erleuchtetes Pflichtgefühl und richtiges Empfinden; und obgleich wir leider fortwährend sündigten und dadurch diese innere Führung schwächten, stellten wir wenigstens seine Autorität nicht in Frage. Damals besaßen wir jene ursprüngliche Glaubenshaltung, bewirkt in uns durch die Taufe, den Geist kleiner Kinder, ohne den nach der Ver­sicherung unseres Herrn keiner von uns, ob jung oder alt, in das Himmelreich eingehen kann. Als wir aber reifer wurden und die Welt sich uns erschloß, kam im Verhältnis zu den Geistesgaben, mit denen Gott uns beehrt hatte, die Versuchung des Unglaubens und Ungehorsams. Da begann die Vernunft, verleitet von der Leidenschaft, gegen unsere bessere Erkenntnis Krieg zu führen. Wir wurden wie unser Herr von dem nämlichen uns gegebenen Geist in die Wüste geführt, was uns den Anschlägen des Teufels aussetzte, ehe die Zeit oder die Kraft kam, die Gabe zum Dienst für Gott zu benützen. Und wieviele der Hochbegabtesten fallen in Versuchungen ab, denen der sündenlose Sohn Gottes widerstand! Er fühlt mit allen Ver­suchten, da Er selbst die Versuchungen erlitt. Doch welches Schauspiel muß Er sehen und mit welch großem Aufwand von Barmherzigkeit muß der heilige Jesus die kühnen und bösen Gedanken er­tragen, die oft am siegreichsten in der Brust jener (wenigstens eine Zeitlang) herrschen, die Er durch die Überfülle ihrer Talente zu besonderen Dienern Seines Willens gemacht hat! Ein Murren gegen jenen religiösen Dienst, der vollkommene Freiheit ist, ein Klagen, daß Christi Joch schwer ist, ein aufrührerisches Sicherheben gegen die Autorität des Gewissens, ein stolzes Streiten wider die Wahrheit oder wenigstens ein Ertragen von Zweifel und Spott und ein leicht­fertiger, nichtssagender Gebrauch skeptischer Ar­gumente und Behauptungen, das alles sind An­fänge des Abfalles vom Glauben. Weiter kommen hinzu die Sucht nach Originalität, das Bedürfnis, männlich und unabhängig zu erscheinen, und die Furcht vor dem Spott unseres Bekanntenkreises; alle diese Dinge verbinden sich und veranlassen uns, zuerst schlecht von der obersten religiösen Autorität zu sprechen und dann wirklich so zu denken. Diese allmähliche Übertretung des ersten Gebotes im Gesetz ist gewöhnlich von der Über­tretung des fünften[1] begleitet. In unserer Kindheit liebten wir beides: die Religion und unser Heim; aber je mehr wir uns daran gewöhnen, die Stimme Gottes zu verachten, begegnen wir den Ansichten unserer Vorgesetzten und Älteren zuerst mit ge­spielter und dann mit echter Gleichgültigkeit. So werden unsere Herzen allmählich gegen die rein­sten Freuden, göttliche wie menschliche, gefühllos. Beim Fortschreiten in der Sünde wird unser Un­gehorsam durch sich selbst bestraft. Im Maße wie wir zu unserer eigenen Ansicht hinneigen, werden wir zu dieser Handlungsweise aus Mangel an einer besseren Führung getrieben. Unser erster treuer Lenker, das Licht der Unschuld, hat sich allmäh­lich von uns zurückgezogen, und es bleibt uns nichts anderes übrig, als mit dem trüben, ungewissen Licht der Vernunft „an verlassenen Orten herumzutappen und herumzustolpern“. So werden wir in unserer eigenen Schlauheit gefangen. Das ist, was man manchmal von Gott verhängte Blindheit nennt. Eine solche war bei Pharao vorhanden, der wegen seines Widerstandes gegen Gottes Willen zuletzt zwischen Licht und Finsternis nicht mehr unterscheiden konnte.

Wie weit der einzelne diesen schlechten Weg ver­folgt, hängt von mannigfaltigen Ursachen ab, auf deren Betrachtung ich nicht einzugehen brauche. Manche erschrecken vor sich selbst und kehren auf den rechten Weg zurück, ehe es zu spät ist. Andere lassen sich aufhalten und, obwohl sie Gott nicht von ganzem Herzen suchen, werden sie doch be­wahrt vor einer starken und vollen Auswirkung der schlechten Grundsätze, die in ihnen lauern. Andere wieder werden in einer korrekten äußeren Form der Religion gehalten durch die Umstände, in denen sie sich befinden. Aber es gibt andere, und deren Zahl ist groß, vielleicht in allen Lebens­ständen, die im Bösen fortschreiten. Ich will die Verfassung jener nämlich, in denen die geistige Kraft inmitten der Vernachlässigung der sittlichen Wahrheit schreckhaft entfaltet ist. Am gewöhnlichsten ist natürlich der Fall jener, die mit ihren so zerrütteten oder vielmehr aufge­lösten Grundsätzen an die Angelegenheiten des Lebens wie üblich herangehen. Die anfängliche Einfachheit ihres Charakters verschwand früh. Heftige Leidenschaft folgte, und man frönte ihr. Auch sie ist dahin, ließ aber (ohne daß sie es ver­muteten) sehr verderbliche Wirkungen in ihrem Geist zurück, gerade so wie gewisse Krankheiten unmerklich die körperliche Verfassung ändern. Schließlich hat eine eitle Vernunft ihre Begriffe über sittliche Schicklichkeit und Pflicht, sowohl was die Religion wie die Lebensführung angeht, in Unordnung gebracht. Es ist ganz klar, daß sie, weil sie nichts von jenem Glauben haben, der „die Welt überwindet“ (1 Joh 5, 4), von dieser über­wunden werden müssen. Nehmet nicht an, ich spreche von einem seltenen Fall, der uns nichts anginge; wahrscheinlich geht es einige von uns sehr nahe an. Der Ausgang unserer jugendlichen Erprobung im Guten und Bösen hat mutmaßlich in der einen oder anderen Weise etwas von einem entscheidenden Charakter gehabt, und wir können ganz sicher sein, daß wir es nicht inne werden, wenn sie im Bösen geendigt hat. Taubheit gegen die Stimme Gottes, Herzenshärte, ist eines von den eigentlichsten Anzeichen des Unglaubens. Gottes Urteile, ob an die Welt oder an einzelne, werden nicht laut gesprochen. Der Ratschluß geht hinaus, um aufzubauen oder zu zerstören. Die Engel hören ihn, wir aber gehen wie immer auf dem Weg der Welt weiter, obwohl unsere Seele vielleicht, wenn auch nur für eine Zeit, von Gott verlassen war. Ich meine, es ist nicht völlig un­wahrscheinlich, daß im Falle des einen oder an­deren meiner Zuhörer das Glaubensbekenntnis zum großen Teil eine bloße Angelegenheit von Worten, nicht von Ideen und Grundsätzen ist. Die Ansichten, an denen sie tatsächlich durch eine Be­mühung ihres eigenen Geistes festhalten, haben sie erreicht durch die bloße Betätigung ihres Ver­standes, durch den beiläufigen und zufälligen Ge­brauch ihrer reinen Urteilskraft, ob sie nun stark ist oder nicht. Sie sind nicht das Ergebnis regel­mäßigen, festen und wachsenden Gehorsams gegen Gott, noch die Erkenntnis, welche ein aufrichtiges und gutes Herz vermittelt. Unsere religiösen An­sichten liegen vielleicht nur auf der Oberfläche unseres Geistes und haben keine Wurzeln in ihm. Das kommt nach meiner Ansicht von dem Um­stand her, daß die Nachgiebigkeit gegen frühe, wenngleich jetzt vergessene Leidenschaften und der Mißbrauch der Vernunft in unserer Jugend einen unaustilgbar schlechten Zustand in unseren Herzen hinterlassen hat, eine verhängnisvolle Härte und Blindheit. Wir wollen daran denken. Es kann dies der Zustand jener sein, die vorher nur gewöhnlichen Versuchungen ausgesetzt waren, und zwar infolge des Wachstums jener Denkfähig­keit, mit der wir alle begabt sind. Ist aber jene Vernunftgabe etwas Außerordent­liches, – klar, glänzend oder machtvoll, – dann ist unsere Gefahr um so größer. Die erste Sünde von Menschen mit höherer Einsicht besteht darin, sich etwas darauf zugute zu tun und auf andere herabzuschauen. Sie erheben den Verstand zum Richtmaß für Lob und Tadel und, anstatt zu be­denken, daß ein gemeinsamer Glaube das eini­gende Band unter Christen ist, träumen sie von irgend einer anderen Gemeinschaft, sei es der Zivilisation, der feinen Lebensart, der Literatur, der Wissenschaft oder der allgemeinen geistigen Aufklärung, um die Begabten zusammenzuführen. Da sie auf diese Weise die sittliche Vortrefflich­keit von ihrem berechtigten Platz herabgestürzt und die anmaßende Herrschaft der bloßen Ver­nunft darauf gestellt haben, messen sie nun allen Wahrheiten einen Wert bei genau im Verhältnis zu der Möglichkeit, sie mittels jener reinen Ver­nunft zu prüfen. Daher schätzen sie sittliche und religiöse Wahrheiten gering, weil sie weit mehr in den Bereich des Gewissens als des Verstandes fallen. Die Religion sinkt in ihrer Achtung oder wird belanglos. Sie beginnen alle Religionen gleich zu werten; und kein Wunder, denn sie gleichen Menschen, die die Fähigkeit verloren haben, Far­ben zu unterscheiden, und die durch keinerlei Be­tätigung der Vernunft den Unterschied zwischen weiß und schwarz ausfindig machen können. Das Sittengesetz hingegen anerkennen sie in einem ge­wissen Maß, d. h. soweit seine Aussprüche aus der Vernunft bewiesen werden können, unter Be­rufung auf Einsicht und Nützlichkeit, aber ohne Beziehung zum natürlichen Sinn von Recht und Unrecht, durch welchen diese Erkenntnisquellen ihre Bestätigung finden. Sie versprechen sich viel vom geistigen Fortschritt und gehen sehr darauf aus, die Welt dadurch zu verbessern, daß sie alle zu Geistesmenschen machen. Sie suchen sich selbst zu überzeugen, daß im Menschen bei fortschreiten­der Erkenntnis auch die Tugend wächst.

Während sie auf ihrer Bahn verhängnisvoller Blindheit weitergehen, führt die Unterschätzung der Autorität des Gewissens sie dazu, diese zu verachten oder zu hassen. Sie behandeln es wie einen Schwächezustand, dem zwar alle Menschen unterworfen sind – sie miteinbezogen -, be­sonders in Zeiten der Krankheit, aber wie etwas, über das sie sich schämen sollten. Die Ansichten besserer Menschen über eine allwaltende Vor­sehung und über den Willen, die Pläne, Anord­nungen, Werke und Urteile Gottes, behandeln sie mit Spott als unvernünftig. Besonders ist dies der Fall, wenn (wie es oft vorkommt) diese Begriffe in ungenauer Sprache mit einer Unklarheit da und dort oder geistigen Schwäche im Ausdruck ver­mittelt werden.

Alle diese Beweggründe, aus dem Sehen und nicht aus dem Glauben zu leben, werden bedeutend vermehrt, wenn Menschen mit einem Gegenstand beschäftigt sind, der im eigentlichen Sinn zum Verstand gehört. Daher zielen die Wissenschaften, die sich mit Versuchen an der materiellen Schöp­fung abgeben, darauf ab, die Menschen das Da­sein des Geistes und des Herrn der Geister ver­gessen zu lassen.

Ich will nicht den Weg der Ungläubigkeit bis in seine schlimmsten und gröbsten Formen verfolgen, aber es mag lehrreich sein, bevor ich schließe, den Fall eines solchen Mannes, wie ich ihn eben be­schrieben habe, herauszugreifen, wenn er gegen Ende des Lebens unter dem Einfluß einer gewissen Auflockerung des Gewissens steht. Das ist nicht selten der Fall, d. h. es muß häufig vorkommen, daß das verstockteste Gewissen bis­weilen von plötzlichen Zerknirschungen heimgesucht wird, obwohl sie im allgemeinen nur flüchtig sind. Aber es kommt manchmal noch schlimmer, nämlich daß jemand aus dem einen oder anderen Grund sich nicht im Zustand der Sicherheit fühlt, mit sich selbst kämpft, aber der Kampf in einer Weise endet, die ein neues Licht wirft auf die Auswirkung jener Weltweisheit, die in Gottes Augen Torheit ist.

Wie soll ein Sünder, der seinen Charakter nach dem Unglauben bildete, und mehr den Sinnen und der Vernunft als dem Gewissen und der Schrift traute, wie soll er es anstellen, Reue zu empfinden? Was muß er tun? Ist es möglich, daß er sich selbst besiegen und sein Herz am Ende seiner Tage er­neuern kann? Es ist möglich, nicht mit der Men­schen, sondern mit Gottes Hilfe, der allen die Gnade gibt, die darum bitten; aber nur auf dem einen Weg, auf dem Weg Seiner Gebote, durch eine langsame, lästige und mühsame Selbstzucht; d. h. langsam, lästig und mühsam für einen, der lange Zeit in der Abneigung gegen sie verhärtet war und den schnellen Gedankenflügen und den leichten Siegen seiner Vernunft gefrönt hat. Es gibt nur den einen Weg zum Himmel, den schma­len Weg. Wer daher beginnt, Gott zu suchen, sei es auch im hohen Alter, muß durch dieselbe Pforte wie die anderen eintreten. Er muß seinen Weg zurückgehen und von neuem beim eigentlichen Ausgangspunkt beginnen, wie wenn er ein Kind wäre. Während er so dahinschreitet, – arbeitet, wacht und betet, macht er wahrscheinlich letzten Endes während des kurzen Restes seines Lebens nur wenig Fortschritt; einmal, weil ihm bloß kurze Zeit übrigbleibt, und dann, weil er wegzuräumen hat, während er aufbaut, – er hat jenen Wider stand seines alten hartnäckigen Willens und ver­härteten Herzens zu überwinden, den er in der Jugend nicht erfahren hätte.

Nun ist es klar, wie demütigend das für seinen Stolz ist; er möchte gerettet werden; aber er kann sich nicht dazu herablassen, alle seine Tage ein Büßer zu sein: zu betteln schämt er sich. Daher schaut er nach anderen Mitteln aus, um eine sichere Hoffnung zu finden. Und einer der verschiedenen Auswege, sich selbst zu täuschen, ist diese näm­liche Ansicht, daß er religiöse Erkenntnis nur mittels seiner Vernunft gewinnen kann. So geschieht es, daß Menschen, die in ihrer Jugend ein lasterhaftes Leben geführt oder ihre Tage mit dem Jagen nach Wohlstand verbracht haben oder mit einem anderen Reizmittel der Welt, nicht selten in ihren letzten Jahren zu Irrlehren über­gehen. Zuvor hatten sie vielleicht kein religiöses Bekenntnis, ließen sich immerhin Christen und Glieder der Kirche nennen; aber schließlich raffen sie sich auf, nach der Wahrheit zu suchen und, da sie vergessen, daß nur, wer reinen Herzens ist, Gott schauen kann, und sie deshalb mit einer sitt­lichen Erneuerung, mit Selbstverleugnung be­ginnen müssen, forschen sie nur mit Hilfe der Vernunft. Kein Wunder, daß sie in Irrtum fallen. Sie können keinen Teil des kirchlichen Lehrge­bäudes verstehen, weder den der Glaubenswahr­heiten noch den der Kirchenzucht. Jedoch halten sie sich selbst für Richter und behandeln die hei­ligsten Satzungen und die erhabensten Lehren mit Verachtung und Ehrfurchtslosigkeit. So „werden die letzten Dinge eines solchen Menschen schlimmer sein als die ersten“ (Mt 12, 45). Nach den Worten des Vorspruches hätten sie Toren werden sollen, damit sie am Ende wirklich hätten Weise sein können; aber sie ziehen einen anderen Weg vor und werden in ihrer eigenen Schlauheit gefangen. Mögen wir immer beherzigen, daß die „Furcht des Herrn der Anfang der Weisheit ist“ (Spr 1, 7), daß Gehorsam gegen unser Gewissen in allen Dingen, großen und kleinen, der Weg zur Er­kenntnis der Wahrheit ist, daß Stolz das Herz verhärtet und Sinnlichkeit es erniedrigt und alle jene, die in Stolz und sinnlicher Genußsucht leben, nicht besser den Weg des Heiligen Geistes zu be­greifen oder die Stimme Christi zu erkennen ver­mögen als die Teufel, die nur einen toten Glauben haben und zittern!

„Selig, die Seine Gebote halten, daß sie Macht erhalten zum Baum des Lebens und durch die Tore eingehen in die Stadt,… welche weder der Sonne noch des Mondes bedarf, daß sie leuchten in ihr; denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie und ihre Leuchte ist das Lamm“ (Offb 22, 14; 21, 23).


[1] Nach unserer Zählung das „vierte“ Gebot; die anglikanische Kirche teilt das 1. Gebot in zwei Gebote, so daß z. B. das vierte zum fünf­ten wird, und zieht dafür das 9. und 10. in eins zusammen.-A. d. O.