Die Erniedrigung des Ewigen Sohnes

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„Dieser hat in den Tagen Seines Fleisches Gebet und Flehen unter lautem Rufen und unter Tränen Dem dargebracht, der Ihn vom Tode retten konnte, und ist erhört worden wegen Seiner Ehr­furcht; obwohl Er Sohn war, lernte Er Gehorsam aus dem, was Er erlitten“ (Hebr. 5, 7. 8).

Das Hauptgeheimnis unseres heiligen Glaubens ist die Erniedrigung des Sohnes Gottes zu Versuchung und Leiden, wie sie in dieser Schriftstelle geschildert wird. In Wahrheit, es ist sogar ein über­wältigenderes Geheimnis als jenes, das die Lehre der Dreifaltigkeit in sich schließt. Ich sage über­wältigender, nicht größer – denn wir können nicht das Mehr oder Weniger in Dingen beurteilen, die völlig unbegreiflich und göttlich sind; aber Seine Er­niedrigung birgt mehr Überraschendes und Über­wältigendes für unseren Geist. Wenn das Geheim­nis der Dreifaltigkeit uns vorgelegt wird, sehen wir zwar, daß es unsere Vernunft restlos übersteigt; aber gleichzeitig ist es nicht verwunderlich, daß mensch­liche Worte unfähig sind, Wahrheiten über das unmitteilbare und unendliche Wesen Gottes zu ver­mitteln, wie auch, daß der menschliche Verstand unfähig ist, sie aufzunehmen. Das Geheimnis der Menschwerdung bezieht sich teilweise auf Dinge, die mehr auf der Ebene unserer Vernunft liegen; es liegt nicht nur in der Art und Weise, wie Gott und Mensch der eine Christus ist, sondern gerade in der Tatsache, daß es so ist. Wir sind überzeugt, von Gott wenigstens so viel zu wissen, daß Er ganz und gar jenseits von Unvollkommenheit und Schwach­heit ist; es ist uns jedoch geoffenbart, daß der Ewige Sohn eine geschöpfliche Natur angenommen hat, die fortan genauso eins mit Ihm wurde, genauso zu Ihm gehörte wie die göttlichen Eigenschaften und Kräfte, die Er immer gehabt hatte. Das Ge­heimnis liegt ebenso in dem, was wir zu wissen glauben, wie in dem, was wir nicht wissen. Über­legt euch z. B. die Worte des Vorspruches. Der Sohn Gottes, der von Ewigkeit her „die Herrlichkeit mit dem Vater hatte“ (Jo 1,14), wurde zu einer be­stimmten Zeit in menschlichem Fleisch befunden, brachte Ihm Gebet und Flehen dar, rief laut und weinte und übte Gehorsam in Leiden! Nehmt wegen dieser meiner Worte nicht an, daß ich die Lehre euch als hartes Wort, als Stein des Anstoßes und als Joch der Knechtschaft vor Augen halten möchte, der ihr euch notgedrungen und ungern unterwerfen müßt. Nein, das sei ferne, daß wir eine so undankbare Darstellung von einer Heils­ordnung geben, die uns die Erlösung gebracht hat! Jene, die im Kreuz Christi die Sühne für die Sünde sehen, müssen in ihm sich rühmen; und sein ge­heimnisvolles Wesen bewegt sie, sich um so mehr in ihm zu rühmen. Sie rühmen sich seiner vor Men­schen und Engeln, vor einer ungläubigen Welt und vor gefallenen Geistern; nicht verschämten Gesich­tes, sondern mit ehrfürchtiger Kühnheit bekennen sie dieses Wunder der Gnade und behüten es in ihrem Credo, obwohl es ihnen die Verachtung und den Spott der Stolzen und Unheiligen einbringt.

Und wie die Lehre von der Erniedrigung unseres Herrn höchst geheimnisvoll ist, so ist es auch der äußere Rahmen der Erzählung selbst, in dem sie uns vorgelegt wird; denn er ruft Verwunderung hervor und bringt uns die tatsächliche Unwissenheit über die Natur, die Weise und die Ursachen der Erniedrigung zum Bewußtsein. Nehmen wir z. B. Seine Versuchung. Warum unterzog Er Sich ihr überhaupt, wissen wir doch, daß nicht ihr, sondern Seinem Tod unsere Erlösung zugeschrieben wird? Und warum dauerte sie so lange? Was ging dabei vor? Was war Satans besonderes Ziel, als er Ihn versuchte? Wie kam Satan zu solch einer Macht über Ihn, daß er imstande war, Ihn von einem Ort zum andern zu bringen? Und was war das genaue Ergebnis der Versuchung? Diese und viele andere Fragen lassen keine befriedigende Lösung zu. Selbst in ihrer Dauer liegt etwas Bedeutsames, da sie die gleiche war wie die der langen Fasten des Moses und des Elias und Seines eigenen Verweilens auf dieser Erde nach Seiner Auferstehung. Ein gleiches. Geheimnis liegt ferner über jener letzten Zeit Sei­ner irdischen Sendung. Was Er damals tat, wissen wir nicht, ausgenommen, daß Er von Zeit zu Zeit Seinen Aposteln erschien; über die vierzig Tage Seiner Versuchung wissen wir noch weniger, nur daß „Er nicht aß“ und daß Er „bei den wilden Tieren war“ (Lk 4, 2; Mk 1,13).

Wiederum liegt etwas Geheimnisvolles in dem Zu­sammenhang zwischen Seiner Versuchung und der Herabkunft des Heiligen Geistes auf Ihn bei Seiner Taufe. Nachdem die Stimme vom Himmel erklärt hatte: „Dies ist Mein geliebter Sohn, an dem Ich Mein Wohlgefallen habe“, „trieb Ihn alsbald“, wie St. Markus sich ausdrückt, „der Geist in die Wüste“. Als ob irgendein für uns unbegreiflicher Zusam­menhang zwischen Seiner Taufe und Seiner Ver­suchung bestünde, ist es die erste Tat des Heiligen Geistes, Ihn sofort in die Wüste „zu treiben“ (was auch immer mit diesem Worte gemeint sein mag). Beachtet auch, daß jene feierliche Anerkennung „Du bist Mein geliebter Sohn“ für den Teufel bei­nahe den Ausgangspunkt zur Versuchung bildete: „Wenn Du der Sohn Gottes bist, so sprich, daß diese Steine Brot werden“ (Mt 4, 3); doch welches seine Gedanken und Absichten waren, können wir nicht einmal vermuten. Alles, was wir sehen, ist augenscheinlich eine Wiederholung der Versuchung Adams, in der Person des „zweiten Adam“. In gleicher Weise könnte man Fragen stellen über Seinen Abstieg zur Hölle, Fragen, die mit unserer jetzigen beschränkten Kenntnis über die Natur und die Mittel Seines gnadenvollen Heilsplanes genau­sowenig gelöst werden können.

Ich trage alle diese verschiedenen Fragen zusam­men, um euch unsere tiefe Unwissenheit im ganzen Bereich dieses Gegenstandes zum Bewußtsein zu bringen. Die Gnadenvermittlung wird uns in ihrem großen und segensreichen Ergebnis, unserer Er­lösung, geoffenbart und in einigen anderen wich­tigen Punkten. Bei allen diesen sollten wir ver­weilen und uns darüber aufmerksam und dankbar verbreiten, jedoch mit dem beständigen Bewußt­sein, daß letzten Endes, was den Heilsplan selbst angeht, uns nur eine oder zwei bruchstückhafte Mit­teilungen aus dem großen göttlichen Werk über­haupt geoffenbart sind. Verbreiten sollten wir uns auch gerade deshalb darüber, weil sie wenig und unvollständig sind, wir sollten nicht geringschätzen, was uns gegeben ist, weil es nicht alles ist (wie der Knecht, der das Talent seines Herrn vergrub), son­dern es mehren, so gut wir können. Da heutzutage die große Gefahr der Engstirnigkeit jenes faulen Knechtes besteht, eine Gefahr, bei der die Behaup­tung, daß es über die Menschwerdung nichts zu wissen gebe, sich seltsam verbindet mit dem Vor­wand, alles zu wissen, möchte ich euch im folgenden mit Gottes Hilfe die Schriftlehre darüber vortragen, wie die katholische Kirche sie immer verstanden hat, damit wir so mit dem uns anvertrauten Talent Wucher treiben, daß unser Herr bei Seiner An­kunft Sein Eigentum mit Zins in Empfang nehmen kann.

Da wir uns also dessen bewußt sind, daß wir in Wahrheit nichts über die Art und Weise oder über die letzten Ziele der Erniedrigung des Ewigen Sohnes, unseres Herrn und Heilandes, wissen, so wollen wir erwägen, was diese Erniedrigung an sich bedeutet.

Der Vorspruch sagt: „Obwohl Er Sohn war.“ In die­sen Worten nun „der Sohn Gottes „ist viel mehr ent­halten, als es auf den ersten Blick scheinen möchte. Manch einer sammelt da und dort einige Stücke religiöser Erkenntnis. Eines hört er in der Kirche, ein anderes liest er im Prayer-Book, und etliches schnappt er noch bei frommen Leuten oder in der Welt darüber auf. Auf diese Weise gelangt er in den Besitz heiliger Worte und Aussagen, in Wirklichkeit aber versteht er recht wenig davon. Er deutet sie, wie es sich gerade gibt, nach den mannigfachen und zusammenhanglosen Ansichten, die ihm begegnet sind, oder er gibt ihnen seine eigene Deutung, das heißt die Deutung, die notwendigerweise die eines ungebildeten, um nicht zu sagen, irdischen und ehr­furchtslosen Geistes ist. Wie kann jemand erwarten, er werde die wirkliche Bedeutung und Sprache der Schrift erkennen und erfassen, wenn er dieser Schrift sich nie als Schüler genaht und sich nicht um die Gabe der Weisheit bei ihrem göttlichen Geber be­müht hat? Durch fortgesetzte Betrachtung des hei­ligen Textes, durch fleißigen Besuch der kirchlichen Unterweisung wird er zum Verständnis dessen kom­men, was die Lehren des Evangeliums sind; aber wenn all sein Wissen, das er von einem hier aufge­fangenen Satz und von einer dort gehörten Aus­legung bezogen hat, selbst den Worten nach ganz rechtgläubig ist, so verfügt er zweifellos doch nur über eine Sammlung von Ausdrücken, denen er nicht ihre richtige Bedeutung, sondern seine eigene Mei­nung unterschiebt. Und die geringste Überlegung muß euch beweisen, welch armselige und unwürdige Bedeutung oder vielmehr welch falsche Bedeutung „der natürliche Mensch dem, was des Geistes Gottes ist“, beilegt (1 Kor 2,14). Zu diesem Hinweis hat mich die Anwendung der Worte „Sohn Gottes“ be­wogen, die gar vielen Geistern, wie ich sehr fürchte, eine geringe oder keine Vorstellung, wenig oder nichts von einem hocherhabenen religiösen Gedanken vermitteln. Wir haben vielleicht eine vage, allge­meine Vorstellung, daß diese Worte etwas Außer­ordentliches und Übernatürliches bedeuten. Aber wir wissen, daß wir selbst in der Schrift in einem bestimm­ten Sinn Söhne Gottes genannt werden; außerdem haben wir vielleicht gehört (und selbst wenn wir uns nicht daran erinnern, kann doch der Eindruck davon bleiben), daß die Engel Söhne Gottes sind. Infolgedessen entnehmen wir dem Titel ebensoviel, wenn er unserem Herrn beigelegt wird, nämlich daß Er von Gott kam, daß Er der vielgeliebte Sohn Gottes war und weit mehr als ein bloßer Mensch. Das ist alles, was bestenfalls diese Worte vielen Menschen sagen; die meisten aber beziehen sie nur auf Seine menschliche Natur. Wie ganz anders ist es aber bei denen, die gebührend in die Geheim­nisse des Himmelreiches eingeweiht sind! Wie ver­schieden war die Gesinnung der ersten Christen, die so eifrig und ungestüm die gnadenvolle Ver­kündigung aufgriffen, daß sie in diesem Titel „der Sohn Gottes“ die Fülle der Herrlichkeiten der christlichen Botschaft sahen und kosteten! Als die Zeiten kalt und ungläubig wurden, da freilich waren dann wie heutzutage öffentliche Auslegungen dieser einfachen und heiligen Worte erforderlich; aber die ersten Christen bedurften ihrer nicht. Sie empfan­den, daß sie mit den Worten „Christus war der Sohn Gottes“ eine Menge wunderbarer und heil­samer Wahrheiten bezeugten, die sie zwar nicht verstehen, durch die sie aber das Leben gewinnen und für die sie den Tod wagen konnten.

Was heißt also „Sohn Gottes“? Damit ist gemeint, daß unser Herr der wirkliche oder wahre Sohn Gottes ist, d. h. Sein Sohn von Natur. Wir werden nur Söhne Gottes genannt – wir werden als Söhne angenommen, – aber unser Herr und Heiland ist in Wirklichkeit und durch Geburt der Sohn Gottes, und Er allein ist es. Daher nennt Ihn die Schrift den eingeborenen Sohn. „Ein solches Wissen ist zu hoch für uns“ (Ps 138,6); doch wie hoch es auch sein mag, wir erfahren gleichsam aus Seinem eigenen Mund, daß Gott nicht einsam ist, wenn wir diesen Aus­druck wagen dürfen, sondern daß in Seiner eigenen unbegreiflichen Wesenheit, in der Vollkommen­heit Seiner einen unteilbaren und ewigen Natur Sein innig geliebter Sohn immer bei Ihm gewesen ist, Er, der das Wort genannt wird und als Sein Sohn Anteil hat an der ganzen Fülle Seiner Gott­heit. „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott“ (Jo 1,1). Wenn demnach die ersten Christen den Titel „Sohn Got­tes“ gebrauchten, wollten sie, im Anschluß an den Wortgebrauch der Apostel in der Schrift, alles das sagen, was wir im Credo deutend ausdrücken, wenn wir Ihn bekennen als „Gott von Gott, Licht vom Licht, wirklicher oder wahrer Gott vom wahren Gott“. Denn weil Er der Sohn Gottes ist, muß Er alles sein, was Gott ist, allheilig, allweise, allmäch­tig, allgütig, ewig, unendlich; doch da es nur einen Gott gibt, darf Er zu gleicher Zeit nicht von Gott getrennt sein, sondern muß immer eins mit und in Ihm sein, unzertrennlich eins; so daß es ebenso albern wäre, Ihn als in der Wesenheit vom Vater getrennt zu bezeichnen, wie zu sagen, daß unsere Vernunft oder unser Verstand oder unser Wille von unserem Geist getrennt seien – ebenso unbedacht und ehrfurchtslos, dem Vater Sein eingeborenes Wort abzuleugnen, an dem Er immer Sein Wohl­gefallen hatte, wie Seine Weisheit oder Seine Güte oder Seine Macht abzuleugnen, die auch von Ewig­keit her in und mit Ihm gewesen sind.

Der Vorspruch fährt weiter fort mit den Worten: „Obwohl Er Sohn war, lernte Er Gehorsam aus dem, was Er erlitten“. Gehorsam ist Sache eines Knech­tes, Einmütigkeit dagegen, Gemeinschaftlichkeit im Wollen und Tun sind die Kennzeichen eines Sohnes. In Seiner ewigen Einheit mit Gott gab es keinen Unterschied des Wollens und Tuns zwischen Ihm und Seinem Vater; wie das Leben des Vaters das Leben des Sohnes war und die Herrlichkeit des Vaters auch die des Sohnes, so war der Sohn das wahre Wort und die wahre Weisheit des Vaters, Seine Macht und Sein wesensgleicher Mitwirker in allem, derselbe und doch nicht derselbe wie Er. Aber in den Tagen Seines Fleisches, da Er Sich zur „Knechtsgestalt“ erniedrigte, einen eigenen Willen und ein eigenes Werk und die einem Geschöpf eigenen Mühen und Leiden auf Sich nahm, wurde Gehorsam, was ehedem reines Mitwirken war. Dies also ist die tiefe Bedeutung der Worte: „Obwohl Er Sohn war, lernte Er Gehorsam.“ Er nahm eine nie­drigere Natur an und wirkte in ihr nach einem Willen, der höher und vollkommener war als sie. Ferner „lernte Er Gehorsam umringt von Leiden“ und daher umringt von Versuchung. Seine geheim­nisvolle Todesangst im Leiden wird in dem ersten Teil des Vorspruches beschrieben, der ja sagt, daß Er „in den Tagen Seines Fleisches Gebet und Fle­hen unter lauten Rufen und unter Tränen Dem darbrachte, der Ihn vom Tode retten konnte, und daß Er erhört wurde wegen Seiner Ehrfurcht“. Oder mit den Worten des vorhergehenden Kapitels: Er „ist in allen Stücken versucht worden ähnlich wie wir, war jedoch ohne Sünde“ (Hebr 4,15).

Es kommt mir hier nur darauf an, euch die heilige Wahrheit selbst vorzulegen, nicht wie oder warum es geschah oder mit welchen Ergebnissen. Voll Ehr­furcht wollen wir also betrachten, was in ihr ent­halten ist. „Das Wort ist Fleisch geworden“ (Jo 1, 14); damit ist nicht gemeint, daß Er Sich einen gewissen einzelnen, schon existierenden Menschen auswählte und in ihm wohnte. Das würde in kei­ner Weise der Bedeutung jener Worte entsprechen, und das tut Er huldvoll bei all Seinen Auserwähl­ten fortwährend durch Seinen Geist. Mit den Wor­ten ist gemeint, daß Er wurde, was Er vorher nicht war, daß Er in Sein eigenes unendliches Wesen die menschliche Natur selbst in all ihrer Vollständig­keit aufnahm, indem Er Seele und Leib schuf und im Augenblick der Erschaffung sie Sich zu eigen machte, so daß sie immer nur die Seinigen waren, niemals für sich existierten oder anders als in Ihm, daß Seine Eigentümlichkeiten oder Attribute (um unzulängliche Worte zu gebrauchen) so wirklich waren wie Seine göttliche Güte oder Seine ewige Sohnschaft oder Seine vollkommene Gleichheit mit dem Vater. Und während Er so eine neue Natur Sich beilegte, hörte Er in keiner Hinsicht auf, das zu sein, was Er zuvor war. Wie war das möglich? Die ganze Zeit hindurch, da Er auf Erden war, da Er empfangen wurde, da Er geboren wurde, da Er versucht wurde, am Kreuze, im Grab und jetzt zur Rechten Gottes, – die ganze Zeit hindurch war Er das Ewige und Unveränderliche Wort, der Sohn Gottes. Das Fleisch, das Er angenommen hatte, war nur das Werkzeug, wodurch Er für uns und aus Liebe zu uns handelte. Wie Er bei der Schöpfung durch Seine Weisheit und Macht, den Engeln gegen­über durch Seine Liebe, den Teufeln gegenüber durch Seinen Zorn handelte, so hat Er zu unserer Erlösung durch unsere eigene Natur gehandelt, die Er in Seiner großen Barmherzigkeit Seiner eigenen Person einfügte, wie wenn sie eine Eigenschaft wäre, einfach, unvermischt und unlösbar. So spricht St. Paulus – wie an anderen Stellen von der Liebe und Heiligkeit Gottes – an einer Stelle ausdrück­lich vom „Blut Gottes“, wenn ich es wagen darf, solche Worte aus ihrem Zusammenhang zu lösen. „Weidet die Kirche Gottes“, sagt er zu den Älte­sten von Ephesus, „die Er mit Seinem eigenen Blut Sich erworben“ (Apg 20, 28). Demgemäß war alles, was unser Herr auf Erden sagte oder tat, im strengen und buchstäblichen Sinn das Wort und die Tat Gottes Selbst. Wie wir unsere Freunde sehen – wir behaupten ja, sie zu sehen, obwohl wir nicht ihre Seele, sondern nur ihren Leib sehen -, so sahen die Apostel, Jünger, Priester und Pharisäer und die Volksmenge, alle, die Christus im Fleische sahen, den Wahren und Ewigen Sohn Gottes, so wie die ganze Erde Ihn am Jüngsten Tag sehen wird.

Von hier aus also müssen Seine Leiden, Seine Ver­suchung und Sein Gehorsam verstanden werden: Er hörte nicht auf, das zu sein, was Er immer gewesen war, sondern bekleidete Sich mit einer geschaffenen Wesenheit und machte sie zum Werk­zeug Seiner Erniedrigung; Er handelte in ihr, Er gehorchte und litt durch sie. Beachten wir nicht auch bei Menschen, wie Umstände besonderer Art einen unseres Geschlechtes über ihn selbst hinausheben, so daß er, derselbe Mensch, handelt, als ob sein gewöhnliches Selbst nicht da wäre und er für die besondere Gelegenheit über neue, höhere oder niedrigere Empfindungen und Fähigkeiten verfügte als zuvor? Fern sei es unserem Denken, die Mensch­werdung des Ewigen Wortes mit einer so unwesent­lichen Veränderung zu vergleichen! Aber ich er­wähne dies, nicht um ein Geheimnis zu erklären (eine solche Absicht gab ich von Anfang an auf), sondern um eure Auffassung von Ihm, um den es geht, zu erleichtern, um euch zu helfen, Ihn als Gott und Mensch zugleich zu betrachten, immer als den Sohn Gottes, auch nachdem Er eine Natur ange­nommen hatte,  die Seiner ursprünglichen Voll­kommenheit nachstand. Jene ewige Macht, die bis dahin als Gott gedacht und gehandelt hatte, be­gann zu denken und zu handeln als ein Mensch, mit allen menschlichen Fähigkeiten, Neigungen und Unvollkommenheiten, die Sünde ausgenom­men. Ehe Er auf die Erde kam, war Er unend­lich erhaben über Freude und Trauer, Furcht und Zorn, Schmerz und Niedergeschlagenheit; her­nach jedoch waren alle diese Eigenschaften und viele andere dazu so ganz die Seinigen, wie sie die unsrigen sind. Ehe Er auf die Erde kam, hatte Er nur die Vollkommenheiten Gottes, hernach aber besaß Er auch die Tugenden eines Geschöpfes, wie Glaube, Sanftmut und Selbstverleugnung. Ehe Er auf die Erde kam, konnte Er nicht zum Bösen ver­sucht werden; hernach aber hatte Er das Herz eines Menschen, die Tränen eines Menschen und Bedürf­nisse und Gebrechen eines Menschen. Seine gött­liche Natur durchdrang zwar Seine Menschheit, so daß jede Seiner Taten und jedes Seiner Worte im Fleisch den Ruch der Ewigkeit und Unendlichkeit hatte; aber anderseits hatte Er, seitdem Er aus der Jungfrau Maria geboren war, eine natürliche Furcht vor Gefahr, eine natürliche Scheu vor Schmerz, ob­wohl Er immer unter dem leitenden Einfluß jener heiligen und ewigen Wesenheit stand, die in Ihm war. Wir lesen z. B., wie Er bei einer Gelegenheit betete, der Kelch möchte an Ihm vorübergehen; und ein andermal, als der heilige Petrus über die bevor­stehende Kreuzigung sich bestürzt zeigte, wies Er ihn scharf zurecht, als ob er Ihn versuchte, zu murren und ungehorsam zu sein.

So besaß Er zugleich zwei Gattungen von Eigen­schaften, göttliche und menschliche. Noch immer war Er allmächtig und dennoch in Knechtsgestalt; noch immer war Er allwissend und dennoch schein­bar unwissend; noch immer der Versuchung unzu­gänglich und dennoch ihr ausgesetzt; und wenn sich einer daran stieße, daß es nicht nur ein Geheimnis sei, sondern selbst in der sprachlichen Form ein Widerspruch von Ausdrücken, so soll er über jene Eigentümlichkeiten der menschlichen Natur selbst nachdenken, auf die ich gerade anspielte. Er soll den Zustand seines eigenen Geistes betrachten und sehen, wie sehr er einem Widerspruch gleicht. Er soll nachsinnen über die Fähigkeit seines Gedächt­nisses und zu entscheiden versuchen, ob er ein Ding, an das er sich nicht erinnern kann, kenne oder nicht kenne, oder vielmehr, ob man nicht von ihm, ein und derselben Person, sagen kann, daß er in einer Hinsicht es kennt, in einer anderen es nicht kennt. Das mag dazu dienen, seine Vorstellungskraft zu beschwichtigen, wenn sie an dem Geheimnis stutzig wird. Oder er soll den Zustand eines Kindes be­denken, das tatsächlich viele Monate lang scheinbar ohne Seele ist, das nur die Sinne und Vorgänge ani­malischen Lebens zu haben scheint und dennoch, wie wir wissen, eine Seele hat, die sogar wieder­geboren werden kann. Was gibt es in der Tat Ge­heimnisvolleres als die Taufe eines Kindes? Wie seltsam ist das! Doch welch entzückender Anblick, welch ein Quell des Nachdenkens eröffnet sich uns, während wir auf das schauen, was so hilflos, so ohne Vernunft zu sein scheint, und dabei wissen, daß es in diesem Augenblick eine so vollständig ausgebildete Seele hat, um einerseits wirklich ein Kind des Zornes, anderseits (gepriesen sei Gott) für eine neue Geburt durch den Geist aufnahme­fähig zu sein! Wer könnte sagen, auf Grund des­sen, was unsere Augen sehen, in welchem Zustand jene Kindesseele ist? Wer könnte behaupten, sie besitze nicht Verstandes- und Willenskräfte in einem unerkannten Umfang, durchaus vereinbar mit ihrer wirklichen Unempfindlichkeit gegenüber der Außenwelt? Wer könnte behaupten, daß wir alle oder wenigstens alle, die im Glauben an Chri­stus leben, nicht ein seltsames, aber unbewußtes Leben in Gottes Gegenwart haben, solange wir hienieden sind? Wir sehen etwas und wissen nicht, was wir sehen, und sind beeindruckt, jedoch ohne die Kraft zu haben, es zu ergründen, und haben des­wegen doch kein doppeltes Selbst, und die prak­tische Wirklichkeit unseres irdischen Aufenthaltes und unserer Probezeit wird darum nicht gemindert, sondern gesteigert. Gab es nicht zuvor Menschen, die über sich selbst hinauszureichen schienen, sogar während sie im Fleische waren, wie Elisäus, als sein Geist dem Giezi folgte (cf 2 Kön 5,2.6), oder Sankt Petrus, als er das Nahen der Totengräber Sapphiras ankündigte (cf Apg 5,9), oder Sankt Paulus, als er in Korinth gegenwärtig war, ehe er selbst hinkam (cf 1 Kor 4,19; 5,3)? Wer weiß, wo er „in den Gesichten der Nacht“ (Apg 16, 9; 18, 9) sich befindet? Und wenn dem so ist, wie können wir es einen Widerspruch nennen, daß das Wort Gottes, während es auf Erden, in unserem Fleisch weilte, innen und außen umgeben mit menschlichen Tu­genden und Gefühlen, mit Glaube und Geduld, Furcht und Freude, Trauer, Besorgnis, Gebrechen und Versuchung, daß das Wort Gottes immer auch gemäß Seiner göttlichen Natur, wie von Anfang an, in Gedanken von einem Ende des Himmels bis hin zum anderen streifte, in allen Herzen las, alle Ereignisse voraussah und jegliche Anbetung emp­fing wie im Schoß des Vaters? Das ist es wahrhaft, was Er Selbst uns in jenen überraschenden Worten an Nikodemus sagen will, die auch in dem Sinn verstanden werden könnten,  daß nämlich Seine menschliche Natur gerade in dem Augenblick im Himmel war, während Er mit ihm sprach. „Niemand steigt in den Himmel hinauf, als der vom Himmel herabgestiegen ist, nämlich der Menschensohn, der im Himmel ist“ (Jo 3,13).

Um zum Schluß zu kommen. Wenn jemand ver­sucht ist, Fragen wie die vorhergehenden für ab­strakt, spekulativ und nutzlos zu halten, so möchte ich als Antwort bemerken, daß ich glaube, sie ge­rade an ihrer eigentlich praktischen Seite angepackt zu haben. Man soll es nicht für eine überraschende Behauptung halten, wenn ich sage, daß es heute im religiösen Glauben sogar ernsterer Leute viele Zei­chen gibt, über deren Ausgang achtsame Menschen sehr besorgt sind. Es wäre heute nicht sehr schwie­rig, vermute ich, eine große Anzahl von Menschen in ihrem Glauben wankend zu machen, die sich selbst für rechtgläubig halten und es auch sind, so­weit ihre Erkenntnis reicht. Sie waren es gewöhnt, Christus Gott zu nennen, aber das ist alles; sie haben nicht bedacht, was es bedeutet, diesen Titel jemandem beizulegen, der wirklich ein Mensch war. Wegen der unbestimmten Art nun, mit der sie ihn gebrauchen, wären sie in keiner geringen Gefahr, von einem gewandten Wortfechter angegriffen und der heiligen Wahrheit beraubt zu werden, ihres Kernes, selbst wenn sie sie dem Namen nach fest­hielten. Wahrlich, solange wir nicht unseren Herrn und Heiland, Gott und Mensch, als wirkliches, außerhalb unseres Geistes existierendes Wesen be­trachten, so voll und ganz in Seiner Persönlichkeit, wie wir selbst einander begegnen, als ein und der­selbe in allen Seinen verschiedenen und gegensätz­lichen Eigenschaften, „derselbe gestern, heute und in alle Ewigkeit“ (Hebr 13, 8), solange gebrauchen wir Worte, die zu nichts frommen. Bis dahin ver­gegenwärtigen wir uns nicht jenen Gegenstand des Glaubens, der kein bloßer Name ist, ein Name, dem Titel und Eigenschaften ohne Übereinstimmung und Sinn angeheftet werden können, sondern der ein persönliches Dasein und ein Eigensein hat, das von allen anderen verschieden ist. Wie kann es wahr sein, daß wir Ihn wirklich „kennen“, wenn wir nicht in unsere Idee von Ihm die mannigfal­tigen Eigenschaften und Ämter, die wir Ihm zu­schreiben, mit aufnehmen und in sie einbauen? Welchen Gewinn ziehen wir aus Worten, mögen sie noch so gesetzt und überschwenglich sein, wenn sie in sich selbst zu Ende gehen, statt in unseren Herzen das Bild des menschgewordenen Sohnes aufleuchten zu lassen? Zweifellos freilich kann diese Anklage auch gegen die Theologie der letzten Jahrhunderte vorgebracht werden, die unter dem Vorwand, sich vor Anmaßung zu hüten, uns vorent­hält, was geoffenbart ist; sie ist dem Achaz gleich, der es verschmähte, ein Zeichen zu fordern, um da­mit den Herrn nicht zu versuchen.

Von dieser Denkweise beeinflußt, haben wir die heilige Wahrheit beinahe vergessen, die huldvoll zu unserem Beistand enthüllt wurde, nämlich daß Christus in Seiner göttlichen wie in Seiner mensch­lichen Natur der Sohn Gottes ist. Wir haben bei­nahe aufgehört, Ihn nach dem Beispiel des nizäni-schen Glaubensbekenntnisses als „Gott von Gott und Licht vom Licht“ zu betrachten, immer eins mit Ihm, doch immer unterschieden von Ihm. Wir be­zeichnen Ihn in einer unbestimmten Weise als Gott; und das ist wohl wahr, aber nicht die ganze Wahr­heit. Wenn wir dazu übergehen, Seine Erniedri­gung zu betrachten, sind wir infolgedessen unfähig, das Bild Seiner Persönlichkeit vom Himmel auf die Erde zu übertragen. Er, von dem zunächst nur als von Gott die Rede war, ohne daß des Vaters Er­wähnung geschah, aus dem Er doch ist, wird dann beschrieben, als ob er ein Geschöpf wäre. Aber wie sollen diese verschiedenen Vorstellungen von Ihm sich in unserem Geist vereinigen? Wir können zwar von dem Bild eines Sohnes zu dem Bild eines Knechtes gelangen, obwohl die Erniedrigung un­endlich und für unsere Vernunft unbegreiflich ist; wenn wir aber zuerst nur von Gott reden und dann von einem Menschen, vertauschen wir offenbar die Natur, ohne die Person zu wahren. In Wirklichkeit ist Seine Gottessohnschaft jener Teil der heiligen Lehre, bei welcher der Geist nach dem Willen der göttlichen Vorsehung durchaus verweilen sollte, um in ihr Seine Eigenpersönlichkeit unverletzt zu wah­ren. Aber wenn wir diese unserem Glauben gütig gewährte Hilfe aufgeben, wie können wir dann hoffen, die einzig wahre und einfache Schau Seiner Selbst zu erlangen? Wie können wir dann über un­sere eigenen Worte hinausschauen, oder irgendwie erfassen, was wir sagen? Infolgedessen kommen wir auch, wenn wir über Seine Worte und Werke sprechen, oft notgedrungen dazu, zwischen dem auf Erden lebenden Christus und dem Sohne Gottes des Allerhöchsten zu unterscheiden. Wir sprechen dann von Seiner menschlichen Natur und Seiner gött­lichen Natur als so getrennten Dingen, wie wenn wir nicht spürten oder verstünden, daß Gott Mensch und der Mensch Gott ist. Meine Worte gelten denen unter uns, die darin geübt sind, nachzuden­ken, mannigfaltige Überlegungen und Erörterun­gen gebildeten, die der in Frage stehenden Versuchung nicht ausgesetzt sind. Ich fürchte aber, von den ersteren sagen zu müssen (um mich der Sprache der alten Theologie zu bedienen): sie sind anfangs Sabellianer, dann werden sie Nestorianer, hierauf Ebioniten und ganz und gar Leugner der Gottheit Christi. Mittlerweile kümmert sich die religiöse Welt wenig darum, wohin ihre Ansichten führen; und sie wird nicht eher entdecken, daß sie statt des immerlebenden Sohnes bloß noch einen abstrakten Namen oder eine vage Schöpfung des Geistes an­betet, als bis der Abfall ihrer Glieder vom Glauben sie stutzig macht und lehrt, daß die sogenannte Herzensreligion ohne rechtgläubige Lehre nur die Wärme eines Leichnams ist, die zunächst wirklich vorhanden ist, aber sicher bald vergeht.

Wie lange wird diese verworrene Irrgläubigkeit andauern, unter der unsere Kirche jetzt leidet? Wie lange sollen menschliche Überlieferungen moder­nen Datums in so vielfacher Weise die majestäti­schen Auslegungen der Heiligen Schrift verdunkeln, welche die katholische Kirche aus den Tagen der Apostel geerbt hat? Wann werden wir uns damit begnügen, im Besitz der Weisheit und Reinheit zu sein, die Christus Seiner Kirche als eine beständige Gabe hinterlassen hat, anstatt uns zu unterfangen, jeder für sich, so gut er kann, das Credo aus den abgründigen Brunnen der Wahrheit zu schöpfen? Sicher sind wir vergebens dem Aberglauben des Mittelalters entronnen, wenn die Verderbnis einer unbedachten und selbstsicheren Philosophie sich über unseren Glauben ausbreitet.

Möge Gott, der Vater, uns das Herz und die Ein­sicht geben, jene Lehre lebendig zu erfassen und zu bekennen, auf die wir getauft worden sind, nämlich daß Sein Eingeborener Sohn, unser Herr, empfan­gen wurde vom Heiligen Geist, geboren wurde aus Maria der Jungfrau, gelitten hat und begraben wurde, von den Toten auferstand, in den Himmel auffuhr, von dannen Er kommen wird am Ende der Welt, zu richten die Lebendigen und die Toten!