Glaube und Gehorsam

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Predigt vom 20. Februar 1830

»Willst du zum Leben eingehen, so halte die Gebote«

(Mt 19,17).

Wenn ein Mann aus dem einfachen Volk die Evangelien mit ernster und demütiger Gesinnung und gleichsam in Gottes Gegenwart liest, so ist er, glaube ich, keineswegs in Verlegenheit über die Bedeutung der Worte unseres Vorspruches. Schon beim ersten Lesen sind sie klar wie der Tag, und die sonstige Lehre unseres Heilandes bekräftigt ihren nächstliegenden Sinn. Sagte man einem solchen, nachdem er diese und ähnliche Stellen des Evangeliums gelesen hat, er habe ihren Sinn nicht erfaßt, und in Wirklichkeit sei die Ausdrucksweise: versuchen durch Befolgung der Gebote in das Leben einzugehen, versuchen, die Ge­bote zu halten, um dadurch in das Leben einzugehen, verdächtig und gefährlich, und ihr Gebrauch zeige eine Unkenntnis des wirklichen Geistes der Lehre Christi, so würde er, meine ich, in Verzweiflung aus­rufen: »Dann ist allerdings die Schrift kein Buch für die Menge, son­dern nur für Menschen, die einen geschulten und gebildeten Geist be­sitzen, um die Dinge in einem Sinn zu erkennen, der verschieden ist von ihrer nächstliegenden Bedeutung.«

Und ferner: Angenommen, es träfe einer, der nicht an die Gottheit unseres Herrn glaubt, gerade mit Leuten zusammen, die ebenso der Ansicht sind, die Befolgung der Gebote in der Absicht, dadurch in das Leben einzugehen, zeuge von der geistigen Blindheit eines Menschen, um nicht zu sagen von Stolz und Verworfenheit glaubt ihr, es gäbe dann irgendeine Möglichkeit, ihn bezüglich seiner eigenen Irrlehre mit Schriftbeweisen für die heilige Wahrheit, die er leugnet, zum Schwei­gen zu bringen? Kann denn die Lehre, daß Christus Gott ist, klarer ausgesprochen sein als der Befehl, daß wir, um in das Leben einzu­gehen, die Gebote halten müssen? Und heißt das nicht die Menschen glauben machen, daß die Schrift überhaupt keine bestimmte Bedeutung hat und daß füglich jeder seinen eigenen Sinn in sie hineinlegen darf, wenn sie sehen, wie die klaren Weisungen unseres Herrn auf diese Art wegerklärt werden?

Den Anlaß zu dieser unzutreffenden Schriftauslegung, die tatsächlich weit unter uns verbreitet ist, bildet der Umstand, daß der heilige Paulus an einigen Stellen seiner Briefe uns lehrt, wir würden aufgenommen und gerettet durch den Glauben. Weil er unter der Leitung des verheiße­nen Geistes schrieb, sei seine Redeweise, so bringt man vor, in Wahr­heit die des Evangeliums, und die Sprache Christi, des Ewigen Wor­tes Gottes, muß, wenn auch noch so gewaltsam, in jenen bestimmten Sinn umgebogen werden, der als der einzige echte Sinn des heiligen Paulus aufgefaßt wird. Wie die Worte unseres göttlichen Meisters wegerklärt, welch geistreiche Kunstgriffe angewandt werden, um uns ihres klaren und erhabenen Sinnes zu berauben, den sie geradezu auf der Stirn tragen, das hier zu untersuchen, ist nutzlos. Jedoch kann vermutlich niemand leugnen, daß sie, ob zu Recht oder Unrecht, auf höchst unerwartete Art verdrängt werden, wenn man sie nicht sogar gänzlich außer Sicht rückt und abtut, als ob sie durch die apostoli­schen Briefe aufgehoben wären. Zweifellos sind diese Briefe unter Eingebung des Heiligen Geistes geschrieben; Dieser jedoch wurde von Christus gesandt, die Worte Christi zu verherrlichen und zu beleuch­ten. Die beiden himmlischen Zeugen können Sich in ihrer Aussage nicht widersprechen; der Glaube hört auf beide. Sicher ist es unsere Pflicht, weder dem einen noch dem anderen zu widerstehen, sondern demütig zu erwägen, ob es keine wesentliche Lehre gibt, die sie gemeinsam vorbringen. Das will ich jetzt mit Gottes Hilfe versuchen.

Wie sollen wir Sünder bei Gott Aufnahme finden? Zweifellos ist das Opfer Christi am Kreuz die Verdienstursache unserer Rechtfertigung, und Seine Kirche ist das eingesetzte Werkzeug, sie uns zu vermitteln. Aber unsere jetzige Frage zielt auf einen anderen Gegenstand hin, nämlich auf unsere eigene Rolle bei ihrer Aneignung; und hier gibt die Schrift, wie ich meine, zwei Antworten, indem sie manchmal sagt: »Glaube, und du wirst selig werden«, und bisweilen: »Halte die Ge­bote, und du wirst selig werden.« Überlegen wir, ob diese beiden Aus­drucksweisen nicht miteinander vereinbar sind.

Was versteht man unter Glauben? Folgendes: ernsthaft davon über­zeugt sein, daß wir Geschöpfe Gottes sind; ein praktisches Erfassen der unsichtbaren Welt; verstehen, daß diese Welt für unser Glück nicht genügt, über diese Welt hinaus auf Gott schauen, Seiner Gegen­wart inne werden, Ihm dienen, sich um die Erkenntnis und Erfüllung Seines Willens mühen, unser Glück von Ihm erwarten. Der Glaube ist nicht ein vorübergehender heftiger Akt oder ein stürmisches Gefühl der Seele, nicht ein Eindruck oder eine Meinung, die die Seele befallen, sondern er ist ein Zustand, eine Geistesverfassung, die an­dauert und sich gleich bleibt. An Gott glauben heißt, sich Gott übergeben, demütig die eigenen Anliegen in Seine Hände legen oder verlangen, sie in die Hände Dessen legen zu dürfen, welcher der un­umschränkte Geber alles Guten ist.

Ich darf nun weiter fragen: Was ist Gehorsam? Er ist das nächstlie­gende, von der Natur eingegebene Verhalten des Geschöpfes vor Gott, das Ihn als seinen Schöpfer fürchtet und das weiß, daß es als Sünder eine ganz besondere Ursache hat, Ihn zu fürchten. Unter solchen Um­ständen »wird der Mensch tun, was er kann« (MK 14,8), um Ihm zu gefallen, wie die Frau, deren Verhalten der Herr lobte. Er blickt nach allen Seiten, um eine Möglichkeit zu erspähen, sich vor Ihm zu bewähren, und freut sich, irgendeinen Dienst zu entdecken, der in etwa als Be­weis dafür gelten kann, daß es ihm ernst ist. Und er findet kein besse­res Opfer oder Beweismittel dafür als den Gehorsam gegen jenes hei­lige Gesetz, das uns, wie das Gewissen sagt, von Gott selbst gegeben worden ist; d. h. er wird sorgfältig darauf bedacht sein, allen sei­nen Pflichten nachzukommen, soweit er sie kennt und erfüllen kann. – So sind offensichtlich die beiden Geisteshaltungen völlig ein und das­selbe; es ist ganz gleich, ob wir sagen, es suche einer Gott im Glauben, oder sagen, er suche Ihn im Gehorsam. Und weil Gott in seiner Güte erklärt hat, Er werde alle, die ihn suchen, aufnehmen und segnen, ist es ganz gleich, ob wir sagen, er nehme jene auf, die glauben, oder jene, die gehorchen. Glauben heißt, über diese Welt hinaus auf Gott schauen, Gehor­chen besagt, über diese Welt hinaus auf Gott schauen; Glauben ist Sache des Herzens, Gehorchen ist Sache des Herzens; Glauben bedeu­tet keine einzelne Handlung, sondern eine dauernde  Vertrauenshaltung; und Gehorchen ist keine einzelne Handlung, sondern eine dauernde Haltung, in allem die Pflicht zu tun. Ich behaupte nicht, daß Glaube und Gehorsam keine verschiedenen Be­griffe in unserem Geist darstellen, aber sind nichts mehr als das; tatsächlich sind sie nicht voneinan­der getrennt. Sie sind ein und dasselbe, nur verschieden gesehen.

Wenn man entgegnet, daß jemand sich der Sünde enthalten und Gu­tes tun kann, ohne an Gott zu denken und folglich ohne religiös zu sein oder Glauben zu haben, so ist das richtig, aber es gehört nicht zur Sache. Es ist bei­der nur zu wahr, daß Menschen oft etwas, was in sich recht ist, nicht aus dem Gedanken an Gott tun, sondern aus einer weltlichen Absicht; und wir alle haben unsere besten Taten durch das Eindringen schlech­ter Gedanken und Beweggründe befleckt. All dies aber, meine ich, hat mit unserer jetzigen Frage nichts zu tun; denn wenn jemand nicht aus religiösen, sondern aus weltlichen Gründen recht handelt, so ist das in keiner Weise Gehorsam, der Sache des Herzens ist, obwohl ein solcher zufällig recht handelt, d. h. nach außen hin gute Taten vollbringt. Und ist es der Gehorsam,nicht rein äußeres gutes Betragen, der, wie gesagt,zu der gleichen Geisteshaltung gehört wie der Glaube. Und ich wiederhole es, denn Gehorsam heißt nicht Gehorsam gegen die Welt, son­der gegen Gott – und regelmäßig Gott gehorchen heißt beharrlich auf Gott schauen – und auf Gott schauen heißt Glauben haben; so daß »leben aus dem Glauben« oder »wandeln im Glauben« (nach den Schriftworten), d. h. eine Glaubenshal­tung haben und gehorsam sein, ein und dieselbe allgemeine Geisteshaltung darstellen; – betrachten wir sie als ein Sitzen zu Jesu Füßen, wird sie Glauben genannt; betrachten wir sie als ein Laufen, Seinen Willen zu tun, wird sie Gehorsam genannt.

Wenn man nun ferner sagt, daß jemand gehorsam sein kann und zugleich stolz auf diesen Gehorsam, d. h. gehorsam sein, ohne Glauben zu haben, so möchte ich anderseits behaupten, daß einer tatsächlich nicht dann stolz oder (wie man bisweilen sagt) selbstgerecht ist, wenn er ge­horcht, sondern er ist es in dem Maß, wie er ungehorsam ist. Stolz sein heißt, sich auf das eigene Ich verlassen, was am meisten denen zur Last zu legen ist, die am wenigsten tun; aber ein wirklich gehorsamer Geist ist notgedrungen mit sich unzufrieden und schaut nach fremder Hilfe aus, weil er die Größe seiner Aufgabe kennt. Mit anderen Wor­ten, in dem Maße wie einer gehorcht, wird er zum Glauben getrieben, um das Heilmittel gegen die Unvollkommenheiten seines Ge­horsams kennenzulernen.

All dies ist für jeden denkenden Menschen klar und offenkundig; und diese Betrachtungsweise der Frage schwebte sicher dem Geist der in­spirierten Verfasser der Schrift vor – aus dem Grund, weil sie die beiden Worte, Glauben und Gehorsam, unterschiedslos gebrauchen und einmal erklä­ren, daß wir angenommen und gerettet werden durch Glauben, und ein andermal durch die Erfüllung unserer Pflicht. Sie vertauschen so diese beiden Bedingungen für Gottes Huld miteinander, sie gehen so schnell von einem Gesichtspunkt zum anderen über, um damit zu zeigen, daß in Wirklichkeit die beiden sich nur begrifflich unterschei­den. Wenn diese anscheinend zwei verschiedenen Bedingungen bloß äußerlich verbunden und nicht wesentlich eins wäre, würden die inspirier­ten Verfasser sie miteinander vergleichen – sicher würden sie folgerichtig sein und jedem besondere Aufgaben zuweisen. In Wirklichkeit aber hält die Stimme der Inspiration beharrlich vom Anfang bis zum Ende der Schrift nicht etwa an einem dauernden Gegensatz zwischen Glauben und Gehorsam fest, sondern an dieser einen Lehre, daß der einzige uns offenstehende Heilsweg die allseitige Hingabe unseres Ich an unseren Schöpfer ist – tiefste Frömmigkeit, Ver­zicht auf unseren Willen, die Hinwendung zu Gott aus unserem gan­zen Herzen; und diese Geisteshaltung schreibt die Schrift, je nach den verschiedenen Stellen, bald dem Glaubenden, bald dem Gehorchenden zu; und so ist es belanglos, welchem von beiden sie zugeschrieben wird.

Zum Beweis für das Gesagte will ich einige Stellen aus der Heiligen Schrift anführen. Der Psalmist sagt: »Herr, wer wird wohnen in Dei­nem Zelte oder wer wird ruhen auf Deinem heiligen Berg? Der ohne Makel einhergeht und Gerechtigkeit übt; der Wahrheit spricht in sei­nem Herzen« (Ps 14, 1 2.). »Wer reine Hände hat und ein laute­res Herz, wer seine Seele nicht an Eitles hängt noch trugvoll schwört« (Ps 23, 4). Nach dieser Beschreibung verbürgt der Gehorsam die Rettung des Menschen. Aber in einem anderen Psalm lesen wir: »Wie groß ist deine Güte, die du denen bewahrst, die dich fürchten, die Du denen erweist, die auf Dich vertrauen!« (Ps 30, 20). Hier ist Ver­trauen oder Glaube die Bedingung für Gottes Huld. Ferner heißt es in anderen Psalmstellen zuerst: »Wer ist der Mann, der das Leben wünscht? Bewahre deine Zunge vor dem Bösen und deine Lippen vor trugvoller Rede. Meide das Böse und tue Gutes, suche den Frieden und jage ihm nach …« Dann heißt es: »Nahe ist der Herr denen, die bedrängten Herzens sind, und den Geistgebeugten hilft Er.«  Endlich: »Wer auf Ihn vertraut, wird nicht verlassen sein« (Ps 33, 13-15.19.23). Hier werden Gehorsam, Reue und Glaube nacheinander als Mittel genannt, um die Huld Gottes zu erlangen; und warum sie alle? Weil sie alle Bezeichnungen sind für ein und die­selbe Wesenshaltung, nur von verschiedenen Seiten gesehen, für jene einzige Geisteshaltung, die Gott angenehm und wohlgefällig ist. Weiter sagt der Prophet Isaias: »Du wirst im vollen Frieden er­halten den, der sein Herz auf Dich gesetzt, denn er vertraut auf Dich.« Doch im vorhergehenden Vers hatte er verkündet: »Öffnet die Tore (der himmlischen Stadt), damit das gerechte Volk einziehe, das die Wahrheit bewahrt« (Is 26, 2.3). Ähnlich spricht Salomon: »Durch Barmherzigkeit und Wahrheit wird Missetat versöhnt« (Spr 16, 6); und bei Daniel heißt es: »Barmherzigkeit gegen die Armen tilgt die Sünde und heilt vom Irrtum« (Dn 4,24). Nehemias bittet Gott, »sei­ner zu gedenken und seine guten Taten für das Haus Gottes nicht auszutilgen« (Neh 13, 14); Habakuk aber sagt: »Der Gerechte lebt aus seinem Glauben« (Hab 2, 4).

Wie sehr unser Heiland den Glauben ehrt, daran brauche ich euch kaum zu erinnern. Er pries das Bekenntnis des Petrus selig und im voraus jene, die dennoch glauben, obwohl sie Ihn nicht wie Thomas auf Erden sehen. Bei Seinen Krankenheilungen war der Glaube die Bedingung, die er zur Ausübung seiner heilenden und erneuernden Kraft forderte. Er sagt bei einer Gelegenheit: »Alle Dinge sind dem möglich, der glaubt« (Mk 9, 22). Später jedoch, in Seiner feierlichen Rede über das Endgericht, läßt er uns wissen, daß es der Gehorsam gegen Seinen Willen ist, der dann Seinen Segen erhalten wird: »Weil ihr das, was ihr einem Meiner geringsten Brüder getan habt, Mir getan habt« (Mt 25, 40). Ferner sprach der Engel zu Kornelius: »Deine Gebete und Almosen sind emporgestiegen zum Ge­dächtnis vor Gott«; und Kornelius wird beschrieben als »ein from­mer Mann, der Gott fürchtete mit seinem ganzen Hause, viel Almosen dem Volke gab und immerdar zu Gott betete« (Apg 10, 2.4). Doch gerade in dem gleichen Buch der Apostelgeschichte lesen wir die Worte des heiligen Paulus: »Glaube, so wirst du selig werden« (Apg 16, 31). Seine Briefe liefern uns noch schlagendere Beweise für den innigen Zusammenhang zwischen Glauben und Gehorchen im Denken des Apostels, gleichsam als die Äußerungen ein und derselben Geisteshaltung. Er sagt z. B., daß Abraham nicht durch die Beobachtung von Zeremonien, sondern durch den Glau­ben Aufnahme fand; während er nach den Worten des heiligen Jako­bus durch Werke des Gehorsams aufgenommen wurde. Der Sinn ist klar, Abraham fand Gnade in Gottes Augen, weil er sich Ihm hingab: das ist Glaube oder Gehorsam, wie immer wir es nennen wollen. Es macht keinen Unterschied, ob wir sagen, Abraham fand Gnade, weil sein Glaube die Verheißungen Gottes umfaßte, oder weil sein Gehor­sam Gottes Gebote liebte; denn Gottes Gebote sind Verheißungen und seine Verheißungen Gebote für ein ihm ergebenes Herz. Wie kein we­sentlicher Unterschied zwischen Gebot und Verheißung besteht, so gibt es gleicherweise keinen zwischen Gehorsam und Glauben. Selbst zu sagen, der Glaube komme zuerst, und der Gehorsam folge wie ein untrennbarer zweiter Schritt, und der Glaube finde eben als erster Schritt Aufnahme bei Gott, ist wohl kaum richtig. Denn es kann kein einziger Glaubensakt namhaft gemacht werden, der nicht in sich das Wesen des Gehorsams besäße, d. h. nicht eine Anstrengung und einen nach­folgenden Sieg besagte. Was anderes ist der Glaube, der die Taufe erlangt – wirklich der Glaube, der sich die freie Gabe der Gnade zu eigen macht – als die Zustimmung der Vernunft zu den Geheimnissen des Evangeliums? Selbst der Schächer am Kreuze hatte, wie es scheint, seine Vernunft zu unterwerfen, gegen den Eindruck der Sinne zu kämpfen, Stolz und Trotz zu überwinden, als er sich Dem als seinem Heiland zuwandte, der seinen sterblichen Augen nur als sein Leidensgenosse erschien. Ein bloßes Bekenntnis oder Gebet, das bei uns noch kein wirklicher Akt des Gehorsams wäre, konnte bei ihm einer sein. Anderseits hört der Glaube nicht mit dem ersten Akt auf, sondern dauert an. Er wirkt im Verein mit dem Gehorsam. In dem Maße, wie einer glaubt, gehorcht er; beide entstehen miteinander, wachsen miteinander und dauern das ganze Leben hin­durch. Keiner von beiden ist vollkommen; beide sind auf der gleichen Ebene der Unvollkommenheit; sie halten miteinander Schritt; in dem Maße wie der eine unvollkommen ist, ist es auch der andere; und wie der eine fortschreitet, so auch der andere.

Ich habe nun die Geisteshaltung, die zu allen Zeiten Gott wohlgefällig gewesen ist, in ihrer zweifachen Seite als Glaube und Gehorsam beschrie­ben. Zu allen Zeiten »wird der Gerechte aus dem Glauben leben«. Es ist bemerkenswert, daß diese Worte des Propheten Habakuk, die der heilige Paulus an drei verschiedenen Stellen anführt, um die Gleichheit der wahren Religion unter jeder Heilsordnungen zu zeigen, diese Gei­steshaltung gerade auch unter diesen beiden Kennzeichen darstellen: Gerechtigkeit und Glaube.

Bevor ich das Thema abschließe, mag es indes erforderlich sein, in kur­zen Worten zu erklären, warum an einigen Stellen der paulinischen Briefe ein besonderes Gewicht in der Frage unserer Rechtfertigung auf den Glauben gelegt wird, weit mehr als auf die anderen Teile einer religiösen Sinnesart. Der Grund scheint folgender zu sein: da das Evangelium vorzüglich ein Gnadenbund ist, ist der Glaube des­halb hervorragender als andere Tugenden, weil er dies mehr als alle anderen Tugenden zum Ausdruck bringt. Die Werke des Gehorsams bezeugen Gottes gerechte Ansprüche auf uns, nicht seine Barmherzig­keit; der Glaube aber kommt mit leeren Händen, verbirgt seinen eige­nen Wert und weist nur auf jenen kostbaren Erlösungsplan hin, den die göttliche Liebe für die Sünder ersonnen hat. Daher ist er die uns besonders angemessene Geistesverfassung, und es heißt, daß er uns in einer besonderen Weise rechtfertige, weil er Gott verherrlicht und bezeugt, daß Er jene und nur jene aufnimmt, die bekennen, daß sie nicht würdig sind, aufgenommen zu werden.

Aus diesem Grund hat der Glaube im Evangelium einen Ehrenplatz. Zugleich dürfen wir nie vergessen, daß die gewöhnlichere Lehrweise Christi wie auch die Seiner Apostel unsere wohlgefällige Aufnahme mit dem Gehorsam gegen die Gebote, nicht mit dem Glauben in Beziehung setzt; und diese ihre Lehre hatte, wie es scheint, ihren Grund in einer barmherzigen Besorgtheit, wir möchten ob der Betrachtung göttlichen Gnade unsere Pflichten vergessen.

Kommen wir zum Schluß. Wenn nach all dem Glauben und Gehorchen nur verschiedene Merkmale ein und derselben Geisteshaltung sind, in welch höchst bedenklichen Irrtum sind heute ganze Massen von Menschen verstrickt, die gemeinhin als religiös gelten! Man kann nicht leugnen, daß es viele gibt, die mit Zuversicht und Freude zu­gestehen würden, daß sie dem Gehorsam in ihrem religiösen System nur den zweiten Platz anweisen, als wäre er zu sehr die notwendige Folge des Glaubens, als daß er eine unmittelbare Beachtung um seiner selbst willen erforderte; zu sehr etwas, das jenem untergeordnet ist als ein Ding, das gleichen Wesens ist und gleichzeitig mit ihm. Es ist sicher – so bestürzend es sein mag, darüber nachzudenken -, daß sehr viele in keinem wahren Sinn an das kommende Gericht glauben; sie glauben an ein kommendes Gericht hinsichtlich der Bösen; aber sie glauben nicht, daß alle Menschen, daß sie persönlich sich ihm unterziehen müssen. Ich wünschte von ganzem Herzen, daß die Be­treffenden dazu überredet werden könnten, die Heilige Schrift mit ihren eigenen Augen zu lesen und sie in einem einfachen und natürli­chen Sinn zu nehmen, anstatt sich in ihre menschlichen Systeme zu ver­wickeln und die inspirierten Aussagen nach einer ausgeklügelten Regel zu messen und zu ordnen. Sind sie ganz sicher, daß sie in der nächsten Welt in ihrer größten Not sich all dieser erzwungenen Auslegungen erinnern können? Während wir auf das Urteil warten, werden dann gewiß die leuchtenden Aussprüche der göttlichen Wahrheit über uns hereinbrechen, einer nach dem anderen, und wir werden uns wundern, daß wir sie je mißverstanden! Dann werden sie uns in ihrer Einfachheit und Ganzheit gegenübertreten und wir werden begreifen, daß ihnen nichts hinzugefügt und nichts weggenommen werden kann. Dann endlich, wenn nicht schon vorher, werden wir die Versiche­rung unseres Herrn verstehen: »Er wird jedem nach seinen Werken vergelten « (Mt 16, 27); die des heiligen Paulus: »Wir müssen alle vor dem Richterstuhl Christi erscheinen, daß ein jeder, je nachdem er in seinem Leibe Gutes oder Böses getan hat, danach empfange« (2 Kor 5,10); die des heiligen Petrus: »Er ist von Gott bestimmt, der Richter über Lebendige und Tote zu sein« (Apg 10, 42); die des heili­gen Jakobus: »Der Mensch wird durch Werke und nicht durch den Glauben allein gerechtfertigt« (Jak 2, 24); die des heiligen Johannes: »Selig sind, die Seine Gebote halten, daß sie Macht erhalten zum Baum des Lebens und durch die Tore eingehen in die Stadt« (Offb 22, 14). Was immer sonst noch wahr sein mag, diese Erklärungen, die so feierlich, so wiederholt gegeben worden sind, müssen in ihrem klaren, offen­kundigen Sinn gelten und dürfen nicht beeinträchtigt oder ausgeschaltet werden. So viele Zeugnisse zusammengenommen sind »ein Anker der Seele, sicher und fest« (Hebr 6, 19), und wenn sie etwas anderes be­deuten, als was sie alle sagen, welchem Teil der Schrift dürfen wir künftig als unserem Wegweiser und Tröster trauen?

»In Ewigkeit bleibt Dein Wort, o Herr, im Himmel!« (Ps 118, 89), aber der Menschen Erklärungen sind in den Ufersand geschrieben, und noch vor Abend werden sie verwischt sein.

John Henry Newman, Deutsche Predigten Bd III, 6, 89-101