Das Reich der Heiligen 2. Teil

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21. Predigt, Dienstag in der Pfingstwoche

„Der Stein, der an die Bildsäule gestoßen, ward zu einem großen Berge und erfüllte die ganze Erde“ (Dn 2, 35).

Gestern lenkte ich eure Aufmerksamkeit auf die Umrisse der Kirchengeschichte und deren klare und genaue Vorausschau durch unseren Herrn und Seine Apostel. Die Heilsordnung des Evange­liums ist anerkanntermaßen eine einzigartige Er­scheinung in der Menschheitsgeschichte; einzigartig, ob wir den Umfang betrachten, den sie in der Ge­schichte einnimmt, die Einheitlichkeit ihres Systems, die Folgerichtigkeit ihres Planes, ihre Gegensätz­lichkeit zu dem tatsächlichen Lauf der Dinge und ihren Erfolg trotz dieser Gegensätzlichkeit oder schließlich die ausgesprochene Absicht ihrer ersten Prediger, das Ziel zu verwirklichen, das sie tatsäch­lich erreicht hat. Sie erklärten, daß sie ein Reich gründeten; ein neues Reich, verschieden von irgend­einem der bestehenden, da es die Anwendung der Gewalt verwarf – es war in dieser Welt, jedoch nicht von dieser Welt. Trotz alledem sollte es zu gleicher Zeit einen aggressiven und expansiven Charakter besitzen, sollte ein Reich sein, das auf Eroberung und Ausdehnung ausgeht, das alle früheren Mächte vernichtet und selbst für immer be­steht. Ungläubige halten uns oft vor, daß unsere Auslegungen der biblischen Weissagungen über das Reich Christi letzten Endes nur allegorisch seien und daher ausweichend. Dem ist nicht so; wir sind durchaus gewillt, uns auf ihre buch­stäbliche Erfüllung zu stützen. Christus verkün­dete, „daß das Reich Gottes nahe ist“ (Mt 3, 2; 4,17; 10, 7; Mk 1,15; Lk 10, 9.11). Er grün­dete es, machte nach Seinem Weggang Petrus und die anderen Apostel zu Seinen Stellver­tretern in Seinem Reich und Er verkündete dessen unbegrenzte Ausdehnung und unbeschränkte Dauer. Und tatsächlich besteht es bis auf diesen Tag. Seine Leitung ist der nämlichen Dynastie anvertraut, die Seine Apostel begannen, und sein Gebiet erstreckt sich weiter als auf die den Juden damals bekannte Welt. Der Erfolg wechselt zwar in Zeit und Raum, und es schwankt auch die innere Folgerichtigkeit und Einmütigkeit. Während wir zwar solche teil­weisen Mißerfolge gelten lassen, besteht streng ge­nommen eine sichtbare Macht, mit einem politischen Einfluß, auf unsichtbare Ansprüche gegründet. So ist die Vorausschau seiner Begründer beispiellos in ihrer Neuheit, ihrer Kühnheit und ihrer Richtigkeit. Setzen wir unseren Rückblick fort.

3. Wenn die christliche Kirche ihre Zweige hoch und weit über die Erde hin ausgebreitet hat, so hat sie sich genauso tief unter der Oberfläche festge­wurzelt. Die bereits erörterte Absicht Christi und Seiner Apostel ist an sich nichts anderes als die Er­füllung der alten Weissagung.

Zuerst darf ich darauf hinweisen, daß zur Zeit der Entstehung der Kirche unter den Heiden der Glaube bestand, daß vom Osten ein neues Reich ausgehen sollte.[1] Dieses Gerücht, wie immer auch sein Ur­sprung gewesen sein mag, war in Rom, dem da­maligen Sitz der Herrschaft, bekannt und wird von einem römischen Geschichtsschreiber mitgeteilt. Dann wurde es (wie es scheint) Gegenstand der heidnischen Dichtung. Der berühmteste römische Dichter hat das Kommen eines neuen Reiches des Friedens und der Gerechtigkeit vorausgesagt unter der Leitung eines göttlichen und gottbegnadeten Königs, der der Welt geboren werden sollte. Könnte man behaupten, daß er aus seiner eigenen Vor­stellungswelt, nicht aus der bestehenden Überlie­ferung heraus schrieb, so würde diese Tatsache durchaus nicht das Wunderbare daran vermindern, da es damit nicht hinreichend begründet werden kann. In diesem Fall würde der Dichter eben seinen Platz unter den Propheten einnehmen. Wenn wir ferner das Zeugnis des heiligen Matthäus anneh­men, das zu bezweifeln wir keine Entschuldigung haben, müssen wir glauben, daß gerade zur Zeit der Geburt Christi gewisse Weise aus dem Osten nach Jerusalem kamen, um nach einem Kind zu forschen, von dem sie Großes erwarteten und das sie in Seiner Wiege anbeten wollten. Und endlich, ein anderer östlicher Weiser, obwohl Heide und an dem Ereignis unbeteiligt, hat vierhundert Jahre zu­vor verkündet, daß „ein Stern aus Jakob aufgehen und ein Zepter in Israel erstehen sollte, . . . daß aus Jakob, Der kommen soll, der die Herrschaft inne hat“ (Nm 24, 17.19). Mögen wir nun annehmen oder nicht, Moses habe diese letztere Weissagung getreu berichtet, soviel ist klar und nicht wenig be­deutsam, daß die jüdischen Überlieferungen über das erwartete Reich erklärten, sie stammten aus heidnischen Quellen[2]. Eine offenkundige Überein­stimmung mit der eben erwähnten Tatsache be­steht darin, daß solche Weissagungen unter den Heiden zur Zeit der Ankunft Christi gang und gäbe waren.

Während schon das Zeugnis der Feinde und Fremd­linge für diese vorausbestimmte Entstehung eines blühenden Reiches aus Judäa so bedeutsam ist, sind die Weissagungen, die uns von den Bewohnern des Landes selbst darüber vermittelt werden, noch weit umfassender und mannigfacher. Diese sind enthalten in unseren heiligen Büchern und immer wieder von christlichen Schriftstellern erläutert worden; ihre Aufzählung ist hier weder nötig noch tunlich. Ich will nur die eine oder andere Stelle an­führen, um sie euch ins Gedächtnis zu rufen. „Be­gehre von Mir, so will Ich Dir geben die Heiden zu Deinem Erbe und zu Deinem Eigentum die Enden der Erde. Du wirst sie zerschmettern mit eisernem Zepter und wie Töpfergefäße sie zer­trümmern“ (Ps 2, 8. 9). „Gürte Dein Schwert um Deine Hüfte, Allmächtiger, in Deiner Herrlichkeit und Majestät. In Deiner Majestät fahre fort in Deinem Glück, um der Wahrheit, Sanftmut und Gerechtigkeit willen: So wird Dich wunderbar füh­ren Deine Rechte. Deine Pfeile sind scharf im Her­zen der Feinde des Königs, so daß unter Dir Völker fallen. … Anstatt Deiner Väter werden Dir Söhne geboren; Du wirst sie zu Fürsten setzen auf der ganzen Erde“ (Ps 44, 4-6,17). „Das Zepter Dei­ner Macht wird der Herr ausgehen lassen aus Sion. Herrsche inmitten Deiner Feinde . . . Der Herr zu Deiner Rechten wird Könige zerschmettern am Tage Seines Zornes“ (Ps 109, 2. 5). „Und in der letzten Zeit wird der Berg des Hauses des Herrn auf dem Gipfel der Berge stehen und sich erheben über die Hügel und strömen werden zu ihm alle Völker … Von Sion wird das Gesetz ausgehen und das Wort des Herrn von Jerusalem. Dann wird Er die Völker richten und viele Nationen strafen; und sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden und ihre Spieße zu Sicheln; nicht mehr wird Volk wider Volk das Schwert erheben und sie werden nicht mehr den Krieg erlernen“ (Is 2, 24). „Es ist ein Geringes, daß Du Mein Knecht bist, die Stämme Jakobs auf­zurichten und den Rest Israels wiederherzustellen. Ich mache Dich zum Licht der Heiden, daß Du Mein Heil bis an der Erde Grenzen seiest“ (Is 49, 6). Und beinahe mit denselben Worten anerkennt der greise Simeon in dem Jesusknaben das verheißene „Heil des Herrn, ein Licht zur Erleuchtung der Heiden und zum Ruhm Seines Volkes Israel“ (Lk 2,3032). In diesen Stellen wie auch in der Beschreibung un­seres Herrn, die Er von Seinem Reiche gibt, ist die Vorhersage von einer blutigen Revolution seltsam vermischt mit der des Friedens, so daß sie gleich­zeitig Zuflucht und Trost, aber auch Schwert be­deutet. Es könnte jemand behaupten, daß sie bisher in seiner Geschichte nicht so in Erfüllung gegangen ist, wie es denkbar wäre. Ist aber tatsächlich dieser zwiefache Charakter des Heilswerkes nicht in einem so hohen Maße verwirklicht worden, wie es im we­sentlichen den Worten der Weissagung entspricht? Denkt nur an die Kriege und Wirren des Mittel­alters, die um der Kirche willen entstanden, und an ihren gleichzeitigen heilsamen Einfluß auf die wilden und zügellosen Soldatennaturen, die damals die Throne Europas innehatten. Nehmt die Weissagung, nehmt die Geschichte und dann sagt ehr­lich, ob wir nicht tatsächlich im Einklang mit dem biblischen Zukunftsbild in den Jahrhunderten, von denen ich spreche, eine politische Macht finden, die die Könige der Erde zu Vasallen macht, sie unter ihren Einfluß beugt, Stoff zu endlosem Hader lie­fert, jedoch auch als das eigentliche Friedensband auftritt, soweit ein Friede wirklich erreicht wurde. Wahrhaftig, „die Kinder derer, die“ die Kirche „demütigten, kommen gebückt zu ihr; und jene, die sie lästerten, werfen sich nieder zu den Tritten ihrer Füße“ (Is 60,14), und „die Feinde Christi wurden der Schemel Seiner Füße“(Ps 109)!

Bei tieferer Würdigung der Sachlage kann uns die folgende Erwägung behilflich sein: Wie wären wir überrascht, würden wir im Verlauf unserer ge­schichtlichen Forschungen irgendeine Ähnlichkeit mit dieser prophetischen Vorhersagung in den Annalen eines anderen Reiches finden. Selbst schon eine unwichtige Übereinstimmung in der Geschichte Roms, nämlich der geahnten und tatsächlichen Dauer seiner Größe, verfehlt nicht, unsere Auf­merksamkeit zu bannen. Wir wissen, daß die rö­mischen Auguren auch vor der christlichen Ära der Ansicht waren, die zwölf Geier, die Romulus vor der Gründung der Stadt gesehen hatte, stellten die zwölf Jahrhunderte dar, die ihm als die Grenze seiner Macht zugewiesen waren; eine Vorschau, die einzigartig durch die Geschichte erfüllt wurde[3]. Doch was bedeutet diese vereinzelte Tatsache gegenüber der großen Zahl der mannigfaltigen und eingehenden Weissagungen, die auf das Christen­tum hinwiesen und in ihm in Erfüllung gingen? Verlängere die zwölf Jahrhunderte der römischen Herrschaft um eine weitere Hälfte jener Periode, laß Roms monarchische Form von Anfang bis zum Ende weiterbestehen, unberührt, sei es von aristo­kratischer oder demokratischer Neuerung, und ver­folge die diesbezüglichen Vorhersagen zurück durch eine vorausgehende nahezu ebensolange Periode, dann hast du eine Geschichte vor Augen, die – nicht völlig, aber doch in dem einen oder anderen seiner Züge ähnlich wäre den Merkmalen des neu-testamentlichen Heilsplanes. Wie dem auch sein mag, ein solches römisches Wunder dient gerade dazu, der Vorstellungskraft behilflich zu sein, wenn sie die Unglaublichkeit jener systematischen Weis­sagungen über das Reich Christi erfassen will, die wegen ihrer Zahl, Mannigfaltigkeit, Geschlossen­heit und ihres Einflusses auf die Zeitlage beinahe in sich selbst und ohne Bezug auf ihre Erfüllung als ein vollständiger und unabhängiger Heilsplan an­gesehen werden können.

4. Endlich deckte sich der Weg der Vorsehung mit diesem Plan der Prophetie; Gottes Wort und Hand wirkten zusammen. Die Lage der Juden war in den letzten vierhundert Jahren vor Christus eine Vor­bereitung, die planmäßig zu dem hinführte, was folgen sollte; genauso wie die Wanderungen Abra­hams und seiner Erben, ihr Wegzug nach Ägypten und die dortige gleichlange Gefangenschaft eine einleitende Entwicklung für die Errichtung der jü­dischen Kirche bildeten. Beachtet die Art und Weise dieser Vorbereitung: – die Überwältigung des Volkes durch die Chaldäer; sie hatte die Zerstreuung seiner Glieder über die ganze zivilisierte Welt zur Folge, so daß in allen bedeutenden Städten jüdische Gemeinden vorhanden waren, die allmäh-Sich ihrem Glauben Konvertiten aus dem Heiden­tum gewannen und in der einen oder anderen Weise den Kern der christlichen Kirche bildeten, als das Evangelium schließlich verkündet wurde. Hier möchte ich eure Aufmerksamkeit zuerst hin­lenken auf diesen überraschenden Zusammenhang, der schon auf den ersten Blick sichtbar ist, zwischen der Zerstreuung der Juden und der Ausbreitung des Christentums. Sieht nicht ein solches offenkun­diges Auftreten von Ursache und Wirkung gar sehr wie ein Hinweis auf einen Plan aus? Ferner möchte ich darauf hinweisen, daß diese Zerstreuung später erfolgte als die in den jüdischen Schriften enthal­tenen Vorhersagen über die christliche Kirche. Folg­lich kann man nicht den Vorwurf erheben, der Gedanke an sie sei einer tatsächlichen Begebenheit entlehnt. Und weiter darf ich bemerken, daß der Heilsplan aus der augenscheinlichen Vereitelung aller ihrer Hoffnungen erwuchs. Es war ein un­mißverständliches Beispiel, wie es scheinen möchte, einer allgewaltigen Vorsehung, die in ihrem Ziel unbesiegbar ist, trotz des Versagens jener Werk­zeuge, in denen allein ein menschliches Auge die Mittel zu ihrer Erfüllung sehen mag.

Bevor ich schließe, muß ich mich über einen Punkt erklären, den ich in den vorausgehenden Ausfüh­rungen mehr als einmal beiläufig erwähnt habe, nämlich den Zusammenhang zwischen dem zeit­lichen Schicksal der Kirche im Mittelalter und den darüber ergangenen inspirierten Weissagungen. Es kann den Anschein erwecken, bevor man der Frage die schuldige Aufmerksamkeit geschenkt hat, als ob einzig Glieder der römischen Gemeinschaft sich als Glieder des göttlichen Heilsplanes betrachten könnten; daher bemerke ich dazu folgendes: –

Es besteht eine beachtliche Analogie zwischen der Geschichte des sogenannten Mittelalters und jener der israelitischen Monarchie. Diese Monarchie war zu Unrecht gefordert und vom Volk anmaßend ver­wirklicht worden, obgleich Gott den Weg nicht ge­ebnet hatte; sie endigte in der Auflösung der Bun­deseinheit der Stämme, der Verderbnis des Volkes und dem Untergang ihrer zeitlichen Macht. Trotz­dem kann man nicht leugnen, daß jenes Königreich in einem gewissen Sinn das Ziel der mosaischen Einrichtungen und eine Erfüllung der Prophezeiung war [4]. Viele seiner Könige waren hochbegnadet und Vorbilder des verheißenen Erlösers; und ihre Re­gierung und ihre Untertanen waren einzigartig gesegnet. Beachtet die Umstände, die den Bau des Tempels begleiteten. Diese Tatsache kann als das ruhmreichste Ereignis in ihrer Geschichte angesehen werden: die Frucht der Sorgen des Moses und der Mühen Davids, die Vollendung und der Ruheort des ganzen Heilsplanes und das Unterpfand der größeren geistigen Segnung, die noch kommen sollte. Bringt das in Zusammenhang mit Salomons Herrschaft, ihrem Frieden und Glück – anderseits mit ihrer Wollust, ihrem Abfall von der Schlicht­heit des mosaischen Gesetzes, mit Salomons per­sönlichem Charakter, der von Glaube und Reinheit zu uns unbegreiflichen Sünden entartete. Sind wir in der Lage, das Verhältnis zwischen den für Is­rael bestimmten Segnungen und dem tatsächlichen Wohlstand und der Größe dieses Königreiches, das in Auflehnung gegen Gottes Willen erstand, richtig in Einklang zu bringen, so daß wir sagen könnten, wie weit es in Seinen Ratschlüssen anerkannt war, wie weit nicht? Können wir die Linie ziehen zwi­schen Gotteswerk und Menschenwerk?

Ich behaupte nicht, daß das Papsttum zur jüdischen Monarchie eine Parallele bildet; ja, ich zitiere die letztere überhaupt nicht um der Analogie willen, sei sie stärker oder schwächer, sondern lediglich um zu zeigen, daß bestimmte Ereignisse einigermaßen die Erfüllung einer Weissagung sein können, ohne Rücksicht darauf, ob jeder einzelne Teil, die Art und Weise ihrer Erfüllung, die Umstände, die Werkzeuge und dergleichen als von Gott gebilligt angesehen werden. Das abendländische Kirchen­system des Mittelalters kann wohl die Erfüllung jenes gnadenvollen Planes bilden, der sogar noch genauer ausgeführt worden wäre, hätten die Chri­sten Glauben genug besessen, sich enge an den ge­offenbarten Willen Gottes zu halten. Denn soweit wir wissen, hätten alle Reiche der Erde der geist­lichen Leitung der Kirche unterworfen werden sollen. Menschliche Schwachheit vereitelte diese Absicht; aber sie konnte sie nicht so weit vereiteln, daß nicht doch eine gewisse Erfüllung eintrat. Die Senfstaude, gehemmt in ihrem natürlichen Wachs­tum, trieb Auswüchse empor. Satan konnte das den Heiligen verheißene Reich nicht aufhalten, er konnte es nur schwächen. Er konnte die Christen nur dazu verleiten, auf einen fleischlichen Arm zu vertrauen. Er konnte nur den Samen des Zerfalles unter sie säen, indem er sie dazu brachte, sich zu beugen vor „Astaroth, der Göttin der Sidonier und Melchom, dem Greuel der Ammoniter„ (4 Kgl 23,13). Wäre nicht diese Abweichung zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten gewesen, würde das Christentum sich sicher nicht in seinem jetzi­gen beklagenswerten Zustand der Uneinigkeit und Schwäche befinden; noch hätten die betreffenden Prophezeiungen irgendwie in Niederlage und Ent­täuschung geendet. Trotz der nur teilweisen Er­füllung sind die jetzigen und früheren Gescheh­nisse mehr als hinreichend, um in der Kirche die Gegenwart jener allmächtigen Hand zu bezeugen, deren scheinbare Mißerfolge und Verluste eigent­lich siegreiche und triumphale Taten sind.

Es hilft uns selbst nichts, festzustellen, welches das genaue Maß der Schuld unserer Väter im Glauben war, als sie der christlichen Theokratie überdrüssig wurden und die Kirche mit dem kaiserlichen „Pur­purmantel“ bekleideten. Obwohl wir ihre Sünden nicht ableugnen, so können wir doch angesichts der gleichzeitigen Herrlichkeit des Tempels unseren jetzigen gefallenen Zustand nur beweinen – die Priester und Leviten, und der Fürst der Väter, wir alle wollen „weinen mit lauter Stimme“, während viele ihre Stimme erheben überlaut in Freude -, wir wollen zwar „Lob- und Danklieder dem Herrn singen, weil Er gut ist, denn Seine Barmherzigkeit währet ewiglich über Israel“ (Esr 3, 11, 12) – wir wollen die Segnungen nicht unterschätzen, die wir besitzen, doch wollen wir uns selbst demütigen, als die sündigen Nachkommen sündiger Eltern, die sich von Anfang an der Gnade Gottes widersetzten und sie vereitelten. Sehen wir in der jetzigen Schwäche und Blindheit der Kirche die Zeichen Seiner ge­rechten Gerichte über uns. Doch laßt uns zugleich aus Seinen Erbarmungen, die Er uns fortgesetzt erzeigt, die tröstliche Hoffnung schöpfen, daß Er um Seines Sohnes willen uns in Zukunft nicht ver­lassen wird, und das feste Vertrauen hegen, daß Er, wenn „wir Ihm keine Ruhe geben“ (Is 62, 7) durch Gebet und gute Werke, schließlich auch in unseren Tagen, obwohl zweifellos in einer uns un­verständlichen Weise, „Jerusalem wiederherstellt und zum Ruhm macht auf Erden“.

aus: Deutsche Predigten (DP), Bd II, Schwabenverlag 1950, pp. 270-282.


[1] Siehe Horsley, Dissertation on the Prophecies among the heathen (Prophezeiungen unter den Heiden).

[2] Gn 49, 10 spricht nicht so klar von einer solchen Eroberung oder von einem solchen Reich, daß von einer Ausnahme gesprochen werden könnte. Noch weniger Gn 12, 2. 3 und 28, 14, Stellen, die sich kaum so auslegen lassen, außer mit Hilfe anderer und deutlicherer Weis­sagungen

[3] Siehe Gibbon Kap. 35. Die alte Weissagung über das Geschick Rußlands ist ein ziemlich auffallendes Beispiel. Eine eherne Reiter­statue, die sich ursprünglich in Antiochien befunden hatte, soll nach Geschichtsschreibern des beginnenden 12. Jahrhunderts „eine In­schrift getragen haben mit der Prophezeiung darüber, wie die Russen in den letzten Tagen Herren von Konstantinopel würden“. – Gibbon, Kap. 55

[4] Dt 17, 14-20.