Zurechtweisung ob der Sünde

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24. Predigt, Fest der Geburt des heiligen Johannes des Täufers

24. Juni 1831 (neugeschrieben)

„Johannes hatte zu Herodes gesagt: Es ist dir nicht erlaubt, deines Bruders Weib zu haben“ (Mk 6,18).

Im Kirchengebet des heutigen Tages bitten wir Gott um die Kraft, „freimütig dem Laster ent­gegenzutreten“ nach dem Beispiel des heiligen Johannes des Täufers, der in der treuen Erfüllung seiner Pflicht als Märtyrer starb.

Der Vierfürst Herodes hatte das Weib seines Bru­ders genommen. Johannes der Täufer erhob Ein­spruch gegen eine so häßliche Sünde; und obgleich der schuldige König sich nicht entschließen konnte, sie aufzugeben, achtete er doch den Propheten und versuchte, ihm auf andere Art gefällig zu sein. He­rodias aber, das stolze und grausame Weib, das er geheiratet hatte, grollte jenem wegen seines Ein­spruches und bewirkte schließlich seinen Tod. Ich brauche nicht die Einzelheiten dieser grausamen, jedem Leser der Evangelien wohlbekannten Be­gebenheit durchzugehen.

Der heilige Johannes der Täufer hatte eine sehr schwierige Aufgabe zu erfüllen, nämlich die, einen König zurechtzuweisen. Das soll nicht heißen, daß es einem gemeinen, anmaßenden Menschen schwer­fällt, Hochgestellten etwas Hartes zu sagen, nein, für einen solchen ist es vielmehr eine Befriedigung; aber es ist schwer, gut zurechtzuweisen, d. h. zur rechten Zeit, im rechten Geist und auf rechte Art. Der heilige Täufer wies Herodes zurecht, ohne ihn zum Zorn zu reizen; er mußte ihn daher mit Ernst, Maß, Aufrichtigkeit und einem offenkundigen guten Willen ihm gegenüber zurechtgewiesen haben. An­derseits sprach er so entschieden, eindringlich und wahr, daß seine Zurechtweisung ihm das Leben kostete.

Von uns wird heutzutage nicht jenes Höchstmaß an Pflicht verlangt, das dem heiligen Johannes auf­erlegt war; doch jeder aus uns hat Anteil an seiner Aufgabe, insofern wir alle verpflichtet sind, „dem Laster freimütig entgegenzutreten“, wenn wir pas­sende Gelegenheiten dazu haben. Ich möchte nun einige Ausführungen über die Pflicht machen, die uns durch den heutigen Festtag nahegelegt wird. Es gibt offenkundig zwei Arten von Menschen in der Welt; solche, die sich vordrängen und viel reden, und solche, die sich zurückziehen und aus Bequem­lichkeit, Furchtsamkeit oder Überheblichkeit keine Ansicht über das auszudrücken wagen, was ihnen begegnet. Keine dieser beiden Klassen spielt die Rolle des heiligen Johannes des Täufers in ihrem Umgang mit anderen: die sich zurückziehen, treten dem Laster überhaupt nicht entgegen; die Vor­lauten und Groben machen sich ein Vergnügen dar­aus, ihr Urteil abzugeben, ob sie geeignete Richter sind oder nicht, ob sie reden sollten oder nicht, und zwar jederzeit, gelegen oder ungelegen.

Diese, die sich selbst zu Richtern über das Laster bestellen, sollten von keinem ernsten Christen be­günstigt oder geduldet werden. Was sie angreifen, ist oft tadelnswert, das ist wahr, und sollte auch getadelt werden, aber nicht von ihnen. Doch sie maßen es sich aus eigener Vollmacht an, sie zu tadeln, oft weil jene ihre Pflicht vernachlässigen, die dies tun müßten, und dann schmeicheln sich solche mit der Vorstellung, sie seien tatkräftige Verteidiger der Tugend, eifrige und nützliche Wächter der öffentlichen Moral oder der herr­schenden Rechte. Es gibt heute eine große Anzahl solcher Leute, die um so mehr Erfolg haben, weil sie ihre Namen verheimlichen. Damit sind sie der Mühe enthoben, den feinen Ton in ihrer Art des Tadeins zu wahren, entgehen der Wiedervergel­tung, mit der der Angegriffene dem offenen An­greifer heimzahlen kann, und können solche Erfor­dernisse des persönlichen Charakters und Wandels entbehren, die man gewöhnlich von denen erwartet, die die Aufgabe des Täufers auf sich nehmen. In­dem sie gegen Männer von Ruf sprechen, befriedi­gen sie die schlimmen Leidenschaften der Masse, die ja immer begierig ist nach Schauermärchen und böswillig gegen die Großen; und so steigern sie ihren Einfluß und erreichen es, bewundert und ge­fürchtet zu werden.

Solche allzu geschäftigen Ankläger des Lasters soll­ten meines Erachtens von allen, die wirkliche Chri­sten sein wollen, abgelehnt werden. Jeder hat seine Verpflichtung, der eine zu gehorchen, der andere zu befehlen, ein dritter zurechtzuweisen. Es verträgt sich nicht mit Gewissenhaftigkeit, ein Amt ohne einen Auftrag zu übernehmen. Johannes der Täufer wurde auf wunderbare Weise zu den Pflichten eines Reformers und Lehrers berufen. Später wurde ein Stand von Männern für die Durchführung der glei­chen Aufgaben eingesetzt; und dieser Stand besteht in ununterbrochener Reihenfolge bis auf den heutigen Tag fort. Jene, die sich unterfangen, dem Laster entgegenzutreten, ohne eine Beglaubigung ihrer Autorität vorzuzeigen, sind Eindringlinge in das Amt der Diener Gottes. Sie mögen zwar in ihrer Anmaßung Erfolg haben, sie mögen populär werden, von der Menge unterstützt und sogar von den Leuten, die sie angreifen, anerkannt werden, doch das Richteramt kommt von Gott, dessen End­gericht es vorwegnimmt und andeutet; und nicht einmal eine ganze Generation eigenwilliger Men­schen kann ihrem Sprecher die Gewalt eines gött­lichen Gesandten verleihen. Es ist also unsere Sache, uns gewissenhaft zu hüten vor der Schuld, den Ansprüchen solch falscher Propheten nachzu­geben, damit wir nicht unter die Strenge der An­kündigung unseres Herrn fallen: „Ich bin im Na­men Meines Vaters gekommen“, sagt Er, „und ihr nehmt Mich nicht auf. Wenn ein anderer in seinem eigenen Namen kommen wird, den werdet ihr auf­nehmen“ (Joh 5, 43).

Ich hebe diese Eigenheit an dem Amt des Tadlers, nämlich seine Gründung auf göttlichen Auftrag und die sich ergebende Sünde, wenn man es ohne Berufung übernimmt, aber noch aus einem anderen Grunde hervor. Außer diesen üblen Menschen, die gegen das Laster um des Gewinnes willen und aus Mißgunst laut protestieren, kenne ich andere von besserer Prägung, die sich einbilden, daß sie tadeln sollten, wenn sie es in Wirklichkeit nicht sollten. Wenn sie daher entdecken, daß sie die Aufgabe nicht gut ausführen können, oder wenn sie bei dem Versuch in Schwierigkeit geraten, dann sind sie entweder betroffen oder entmutigt oder sie glau­ben, daß sie um der Gerechtigkeit willen leiden. Aber unsere Pflicht ist gewöhnlich weit einfacher, als erregte und überempfindliche Gemüter gern an­nehmen möchten, d. h. insofern es um unser Wissen darum geht; und fühlen wir uns bei der Feststel­lung dieser Pflicht unsicher, dann sollten wir uns fragen, ob wir nicht durch unser unnötiges und eigenwilliges Benehmen uns Hindernisse in den Weg gelegt haben. Wenn z. B. Leute sich einbilden, es sei ihre Pflicht, ihre Vorgesetzten zurechtzuwei­sen, so geraten sie in Schwierigkeiten, aus dem ein­fachen Grund, weil es schwierig ist und sein wird, die Aufgabe eines anderen zu übernehmen. Wenn Jüngere sich anmaßen, Ältere zurechtzuweisen, Laien gegen Kleriker sprechen, die Kleriker versu­chen, ihren Bischöfen etwas vorzuschreiben, oder Diener ihren Herren, machen sie die Entdeckung, daß im allgemeinen der Versuch nicht gelingt. Viel­leicht schreiben sie den Fehlschlag gewissen Um­ständen zu – der wirkliche Grund liegt aber darin, daß sie keine Pflicht hatten, überhaupt zurechtzu­weisen. Immer zwar sind sie verpflichtet, sich in allen Dingen der Sünde zu enthalten, was in sich einen schweigenden Protest bedeutet gegen alles, was ungerecht ist bei Höhergestellten -, und dies können sie nicht vermeiden, noch haben sie es nötig, es vermeiden zu wollen. Sehr selten aber, nur in äußersten Fällen, z. B. dann, wenn der Glaube in Gefahr ist oder um die Arglosen zu beschützen oder zu retten, ist es jemandes Pflicht, direkt seine Vor­gesetzten zu tadeln oder anzuzeigen.

Und wir haben wirklich vollauf damit zu tun, dem Laster entgegenzutreten, wenn wir unseren Tadel auf jene beschränken, die wir von Rechts wegen zu tadeln haben. Dies sind die uns Gleichgestellten und unsere Untergebenen. Hier wieder kommt es leicht vor, daß man verletzende Worte gebraucht, anmaßend und herrschsüchtig ist gegen jene, die im Rang unter uns stehen; aber das war nicht die Weise des heiligen Johannes des Täufers. Er wies zurecht auf die Gefahr hin, für seine Aufrichtigkeit zu lei­den; und wir sollten nie ein hartes Wort in den Mund nehmen, so gerechtfertigt es auch sein mag, ohne bereit zu sein, die eine oder andere zufällige Einbuße auf uns zu nehmen als das Siegel unserer Gewissenhaftigkeit. Wir dürfen nicht annehmen, daß unsere Untergebenen nicht die Macht besitzen, uns lästig zu fallen, weil sie Untergebene sind. Wir sind ebenso von den Armen wie von den Reichen abhängig. Als Untergebene sehe ich nicht einfach jene an, die in einer niedrigeren Gesellschaftsklasse sind. Herodes stand unter dem heiligen Johannes; der größte König steht in einem gewissen Sinn unter den Dienern Gottes, und sie sollten sich zwar ihm nahen in aller Ehrerbietung und Ergebenheit, aber ohne innere Angst und Feigheit und ohne zu vergessen, daß sie Diener der Kirche sind, durch eine göttliche Anordnung mit ihrer Gewalt aus­gestattet. Und was selbst im Falle des Königs gilt, ist noch viel mehr anwendbar auf Leute, die nur gerade reich oder adelig sind. Ist es aber ein Leich­tes, solche Menschen zurechtzuweisen? Und können wir es ohne die Gefahr, dafür leiden zu müssen? Wer ist diesen Dingen gewachsen ohne die Füh­rung und Kraft Dessen, der starb, um für Seine Kirche diese hohe Autorität zu erkaufen?

Ferner sind Eltern verpflichtet, ihre Kinder zurecht­zuweisen; aber hier ist die Pflicht aus einem an­deren Grunde lästig. Es ist die Liebe am falschen Platz, nicht Furcht, die hier der Erfüllung unserer Aufgabe sich widersetzt. Außerdem sind Eltern sowohl lässig wie auch überzärtlich. Sie schauen auf ihr Heim als auf einen Ort, wo sie von weltlichen Sorgen befreit sind, und können sich nicht entschlie­ßen, Pflichten an einem Ort zu erfüllen, wo sie ihre Entspannung haben möchten. Sie haben ihre Lieb­lingskinder und sind parteiisch. Und da sie bald hart, bald aus Schwäche nachgiebig sind, werden sie von den Kindern nicht geachtet, selbst wenn sie diese im passenden Augenblick zurechtweisen.

Wie die Zurechtweisung derer, die nach Anord­nung der Vorsehung in zeitlichen Dingen uns unter­stellt sind, eine ernste Aufgabe ist, ähnlich erfor­dert es auch noch mehr Reife an christlicher Heilig­keit, unseresgleichen entsprechend zurechtzuweisen; – und dies erstens, weil wir ihren Spott und Tadel fürchten; dann, weil die Verfehlungen von unseres­gleichen gewöhnlich auf derselben Linie liegen wie unsere eigenen, und weil jeder vorsichtige Mensch sich dessen bewußt ist, daß er durch die Zurecht­weisung eines anderen sich selbst zu einem strengen und gewissenhaften Leben verpflichtet, wovor wir natürlich zurückschrecken. Demgemäß ist es Sitte geworden, daß Christen durch eine Art stillschwei­genden Übereinkommens ihre gegenseitigen Fehler übersehen und dazu schweigen; wenn dagegen jeder von uns sich zwänge, den Nächsten auf sein Unrecht aufmerksam zu machen, würde er sowohl einem anderen eine Wohltat erweisen wie auch mit Gottes Segen sich selbst zu einem folgerichtigeren Bekenntnis verpflichten. Wer kann sagen, wieviel Schaden dadurch verursacht wird, daß wir so die Unvollkommenheiten unserer Freunde und Gleich­gestellten fördern? Auf diese Weise wird das Maß christlicher Sittlichkeit herabgedrückt; die Hingabe an Gott vermengt sich mit Mammonsdienst; und so strebt die Gesellschaft beständig zu einem heidnischen Zustand hin. Diese schuldhafte Duldung des Lasters wird gutgeheißen durch die Haltung der heutigen Zeit, die es als ein Anzeichen guter Er­ziehung zu betrachten scheint, wenn wir uns nicht um den Glauben oder den Wandel unserer Umge­bung kümmern, als ob deren persönliche Ansichten und Gewohnheiten uns nichts angingen. Diese Ein­stellung würde mehr den Anschein der Wahrheit an sich tragen, wenn diese Menschen nur unsere Mitgeschöpfe wären, aber sie ist eine offensichtlich falsche Auffassung gegenüber jenen, die sich gleich­zeitig als Christen bekennen, die sich einbilden, sie gewännen durch ihr Bekenntnis die Vorrechte des Evangeliums, während sie es doch durch ihr Leben in Verruf bringen.

Wenn man nun fragt, welche Regeln können für die Zurechtweisung des Lasters aufgestellt werden, so gebe ich zur Antwort: wie auf der einen Seite die Ausübung des Zurechtweisens die Reife und Folgerichtigkeit eines klaren und anerkannten Grundsatzes erfordert, so ist es auch die notwen­dige Folge seines Besitzes. Jene, die mit der größ­ten Schicklichkeit, aus der Gewichtigkeit ihres Cha­rakters heraus, tadeln, sind im allgemeinen gerade die Menschen, die auch am besten für das Tadeln geeignet sind. Gut zurechtweisen ist eine Gabe, die mit der Notwendigkeit der Ausübung wächst. Nicht als ob jeder ohne eigene Anstrengung sie erlangte; er muß falsche Scham, Furchtsamkeit und über­triebene Rücksichtnahme überwinden und lernen, schlagfertig und gefaßt zu sein im Widerstand gegen das Böse; aber schließlich wird seine Hand­lungsweise hauptsächlich von seinem Gesamtcha­rakter abhängen. Je mehr seine allgemeine Hal­tung nach dem Gesetz Christi geformt ist, um so abgewogener, einwandfreier und angenehmer sind seine Zurechtweisungen, um so schwieriger ist es, ihnen zu entrinnen oder zu widerstehen.

Was ich sagen will ist folgendes: pfleget in eurem gewöhnlichen Betragen eine frohe, aufrichtige, männliche Haltung; ihr werdet dann richtig tadeln, weil ihr es auf eine natürliche Art tut. Strebet da­nach, alle Dinge in einem klaren und hellen Licht zu sehen und sie bei ihrem rechten Namen zu nen­nen. Seid offen, haltet mit euren Begriffen von Recht und Unrecht nicht zurück, noch duldet die Sünde in Wort oder Tat, ohne zurechtzuweisen, etwa weil ihr fälschlich erachtet, die Welt sei zu schlecht, um über die Wahrheit belehrt zu werden. Gestattet weder dem Freund noch dem Fremden, im vertrauten, gesellschaftlichen Verkehr falsche Meinungen vorzubringen, noch schrecket davor zurück, eure eigene zu äußern, und tut dies in der Einfalt des Geistes und der Liebe. Man kann Men­schen finden, die in einer seltsam feierlichen Art ihren Nächsten die Fehler vorhalten, mit einer gro­ßen Aufmachung, als ob sie etwas Außerordent­liches täten; und diese verletzen nicht nur jene, die sie zurechtweisen wollen, sondern sie nähren auch in sich einen Geist der Selbstgefälligkeit. Eine solche Art zu tadeln ist unzertrennlich mit der Vor­stellung verknüpft, daß sie selbst weit besser sind als jene, die sie zurechtweisen. Dagegen tadelt der aufrichtig gesinnte Christ nicht streng oder finster, sondern in Liebe; nicht steif, sondern natürlich, sanft und selbstverständlich, genauso, wie er seinen Freund auf ein Weghindernis hinwiese, das ihn wahrscheinlich zu Fall brächte, eben ohne irgendein albernes Gefühl der Überlegenheit darum, daß er ihm diesen Hinweis geben konnte. Sein Gefühl dabei ist vielmehr: „Ich habe dir einen guten Dienst erwiesen und du mußt es mir gegenüber auch tun.“ Obwohl sein Rat nicht immer so aufgenommen wird, wie er ihn gemeint hat, so hält er sich doch nicht auf bei der peinlichen Enttäuschung, die ihm durch eine derartige Folge seines Dazwischentretens verursacht wurde; er wird sich bewußt sein, daß es tatsächlich immer viel zu verbessern gibt an der Art seiner Pflichterfüllung. Er weiß, daß seine Absicht gut war, und ist auf jeden Fall entschlossen, sich wenig aus seinem Mißerfolg zu machen, nur wird er in Zukunft vorsichtiger sein sogar gegen den Anschein der Unhöflichkeit oder Unbeherrscht­heit in seinem Verhalten.

Dies sind ein paar Hinweise auf einen wichtigen Gegenstand. Täglich beeinflussen wir uns gegen­seitig zum Guten oder Bösen; wir wollen nicht der Anlaß sein, andere durch unser Schweigen irre­zuführen, wenn wir reden sollten. Denkt an die Worte des heiligen Paulus: „Mache dich nicht frem­der Sünden mitschuldig: halte dich selbst rein“ (1 Tim 5, 22).+

aus: DP II, 24. Schwabenverlag 1950, pp. 322-331.