Auszug aus der Predigt: Das Werk des Christen, 23. Januar 1842
Möchten wir doch stets bedenken, daß wir nicht in die Welt gesandt sind, um den ganzen Tag müßig zu stehen, sondern um an unser Geschäft zu gehen und an unser Tagewerk bis zum Abend! Bis zum Abend, nicht erst am Abend unseres Lebens, sondern so, daß wir Gott dienen von Jugend auf und nicht erst warten, bis uns die Jahre schwinden. Bis zum Abend, nicht nur untertags, sonst könnte es geschehen, daß wir gut anlaufen, aber versagen, bevor unser Lauf zu Ende ist. Lasset uns „dem Herrn, unserem Gott, die Ehre geben, bevor es finster wird und ehe unsere Füße sich an den dunklen Bergen stoßen“ (Jr 13,16). Haben wir uns aber Ihm zugewandt, dann wollen wir zusehen, daß unser gutes Wesen nicht sei wie „die Morgenwolke und wie der Frühtau, der dahinschwindet“ (Os 6,4).
Auf das Ende kommt es an. Wenn die Sonne scheint, ist die Erde schön; wir aber wollen nach jenem Abend und nach jener Abendkühle ausschauen, wenn der Hausvater inmitten der Bäume Seines Gartens schreitet und Seinem Verwalter sagt: „Rufe die Arbeiter und gib ihnen ihren Lohn, von den Letzten bis zu den Ersten“ (Mt 20,8). Dieser Abend entscheidet: wenn die Hitze, das Fieber, der Lärm des Mittags vorbei sind, wenn das Licht schwindet und der Ausblick Wehmut weckt, wenn die Schatten wachsen und die geschäftige Welt still wird; wenn „die Türen nach den Straßen geschlossen werden, wenn die Töchter der Musik verstummen und Furcht auf dem Wege ist, wenn der Mandelbaum blüht und die Heuschrecke sich mühevoll schleppt und die Sehnsucht dahinschwindet, wenn der Krug am Brunnen zerbrochen wird und das Schöpfrad des Töpfers an der Zisterne zerschellt“, dann, wenn „alles Eitelkeit der Eitelkeiten“ ist (Prd 12, 4-8); und wenn der Herr kommt, der „auch das im Finstern Verborgene ans Licht bringt und die Absichten der Herzen offenbar macht“ (1 Kor 4, 5): dann werden wir „sehen, was für ein Unterschied ist zwischen den Gerechten und den Ungerechten, zwischen dem, der Gott dient, und dem, der Ihm nicht dient“ (Mal 3,18).
Mögen wir immerfort jenes Tages und jener Stunde eingedenk sein! Wenn wir aufstehen, wenn wir uns niederlegen, wenn wir reden, wenn wir schweigen, wenn wir handeln, wenn wir ruhen: ob wir essen oder trinken, was immer wir tun, wir wollen nie vergessen: „über all das wird uns Gott vor Gericht führen“ (Prd 11, 9). Denn „siehe, Er kommt bald, und Sein Lohn ist mit Ihm, einem jeden zu vergelten nach seinen Werken“ (Offb 22,12). „Selig, die Seine Gebote halten, daß sie Anrecht erhalten zum Baum des Lebens und durch die Tore eingehen in die Stadt“ (Offb 22,14). Selig werden sie dann sein, sie allein, die mit dem Apostel stets die Frage auf ihren Lippen und in ihrem Herzen haben: „Herr, was willst Du, daß ich tue?“ (Apg 9,6); deren Seele „schmachtet und verlangt nach Seinen Satzungen allezeit“ und die „bereit sind und nicht saumselig, Seine Gebote zu halten“ (Ps 118, 20. 60); die nicht erst warteten, bis man sie einstellte, die nicht ins Ungewisse liefen, noch Luftstreiche führten, noch Finsternis für Licht und Licht für Finsternis hielten, die sich nicht damit zufrieden gaben zu wissen, was recht ist, noch sich beruhigten mit dem Empfinden für das, was gut ist, noch sich ihrer Gnadenvorrechte rühmten, sondern sich mit aller Kraft bemühten, den Willen Gottes zu tun. Wir wollen uns abwenden von Schatten aller Art – von Schatten der Sinne, von Schatten des Rechtens und Disputierens, von Schatten, die unsere Vorstellung und unser Empfinden befallen. Wir wollen mit der Gnade Gottes versuchen, den inneren Menschen zu fördern und zu heiligen. Hierin können wir nicht fehlgehen. Was immer recht oder falsch sein mag in den Augen dieser verworrenen Welt, wir müssen darin recht handeln, daß „wir Gerechtigkeit üben, die Barmherzigkeit lieben und demütig vor unserem Gott wandeln“ (Mich 6, 8), daß wir unseren Willen verleugnen, unsere Zunge beherrschen, unser Temperament beruhigen und mildern, die Gelüste abtöten; in die Schule der Geduld gehen, der Sanftmut, der Reinheit, der Versöhnlichkeit bei Unrecht und der Beharrlichkeit in guten Werken.
Aus: Predigt zu Tagesfragen (SSD, 1) Schwabenverlag Stuttgart 1958, 24-25.