Die Gefahr des Reichtums

Veröffentlicht in: Predigten | 0

28. Predigt, 1. Februar 1835

Fest des heiligen Apostels Matthäus

„Wehe euch, ihr Reichen, denn ihr habt euren Trost“ (Lk 6, 24)

Wären wir nicht von Kindheit an daran ge­wöhnt, das Neue Testament zu lesen, dann wären wir, glaube ich, gar sehr betroffen über die War­nungen, die darin ausgesprochen sind, nicht nur vor der Anhänglichkeit an den Reichtum, sondern vor dessen bloßem Besitz. Wir würden uns wun­dern mit einem Gutteil jenen Staunens, das die Apostel anfänglich befiel, die mit der Auffassung groß geworden waren, daß der Reichtum haupt­sächlich der Lohn Gottes an Seine Lieblinge sei. Wie es so geht: wir haben die feierlichsten Aus­sprüche so unablässig vernommen, daß wir aufge­hört haben, einen bestimmten Sinn damit zu ver­binden. Oder aber wir tun den Gegenstand schnell ab, wenn je einmal unsere Aufmerksamkeit sich näher mit ihm befaßte, unter der vagen Vorstellung, daß die Worte der Schrift für die besondere Zeit der Ankunft Christi gemeint seien; wir bemühen uns aber nicht, darüber klarzuwerden, was sie genau für uns bedeuten, oder ob sie überhaupt auf uns Anwendung finden; – als ob die Tatsache, daß ihre Deutung eine sorgfältige Überlegung verlangt, davon entschuldigen würde, sich überhaupt Gedanken darüber zu machen oder sich um deren Lösung zu kümmern.

Aber selbst wenn wir uns noch so wenig kümmer­ten um das Wehurteil der Heiligen Schrift über den Reichtum und die Anhänglichkeit an ihn, es müßte schon deren Furchtbarkeit genügt haben, sie vor einer Mißachtung zu schützen; so schenken denn auch heute noch die Christen der Sintflut und dem Gericht über Sodoma und Gomorrha ernste Auf­merksamkeit, obschon wir ein Versprechen haben, daß die eine sich nicht wiederholen werde, und das Vertrauen haben, daß wir nie von Gottes Gnade so verlassen sein werden, um das andere über uns herabzurufen. Und dieser Gedanke mag zu der Vermutung führen, daß die oben erwähnte Miß­achtung nicht gänzlich aus Interesselosigkeit kommt, sondern aus einer Art Befürchtung, das Thema des Reichtums könne heutzutage in der christlichen Welt nicht erörtert werden, ohne daß man bedenklich damit anstoße oder lästig falle, mit anderen Wor­ten: man könne es nicht erörtern, ohne den An­spruch des göttlichen Gesetzes und die Hoffart des Lebens in sichtbaren und beängstigenden Gegen­satz zueinander zu bringen.

So wollen wir denn sehen, was der Wortlaut der Schrift über diesen Gegenstand ist. Beachtet z.B. den Text: „Wehe euch, ihr Reichen, denn ihr habt euren Trost.“ Man kann nicht leugnen, daß die Worte deutlich genug sind, wenn man sie auf die Reichen in den Tagen unseres Heilandes bezieht. Dabei sollte man auf den Vollsinn des Wortes „Trost“ achten. Es steht im Gegensatz zu dem Trost, wie er dem Christen in der Reihe der acht Seligkeiten verheißen ist. Trost in seiner vollen Bedeutung, mit Einschluß von Hilfe, Führung, Ermunterung und Beistand, ist die dem Evangelium eigentümliche Verheißung. Der verheißene Geist, der an die Stelle Christi getreten ist, wurde von Ihm „der Tröster“ genannt. Demnach liegt etwas sehr Bestürzendes in dem, was der Text zu ver­stehen gibt, daß die Reichen an Stelle der himm­lischen Gaben des Evangeliums im Reichtum ihren entsprechenden vollen Lohn empfangen. Die gleiche Lehre ist in den Worten unseres Herrn in der Parabel von dem reichen Prasser und dem armen Lazarus enthalten: „Gedenke, Sohn, daß du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, Lazarus hingegen Übles: jetzt aber wird dieser getröstet; du aber gepeinigt“ (Lk 16,25). Ein andermal sagte Er zu Seinen Jüngern: „Wie schwer werden die, welche Reichtümer besitzen, in das Reich Gottes eingehen! Denn es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als daß ein Reicher in das Reich Gottes eingehe“ (Lk 18,24. 25).

Nun tut man gewöhnlich derlei Stellen mit der Be­merkung ab, sie seien nicht gegen jene gerichtet, die Reichtum besitzen, sondern gegen jene, die sich auf den Reichtum verlassen; als ob damit fürwahr nichts gesagt wäre von einem Zusammenhang zwischen dem Besitz und der Sicherheit, nichts von einer Warnung, daß der Besitz des Reichtums zu einem abgöttischen Vertrauen darauf führen könnte, nichts von einer zwangsläufig für den Besitzenden sich ergebenden Furcht und Besorgtheit, er könnte ein Verworfener werden. Und für jene sinnlose Unter­scheidung glaubt man sogar eine Ermutigung zu finden in den Worten unseres Herrn bei einem der oben erwähnten Anlässe, da Er zuerst sagt: „Wie schwer werden jene, die Reichtum haben“, dann aber, „wie schwer werden jene, die sich auf den Reichtum verlassen, in das Reich Gottes eingehen“. Hingegen ist es sicher, daß Er damit nur die falsche Vorstellung Seiner Jünger, daß schon der bloße Besitz des Reichtums unverträglich sei mit dem Zustand des Heils, beseitigt; auch will Er nicht Besitz und Vertrauen auf Besitz einander gleich­setzen, noch viel weniger das Vertrauen als We­senszug des Besitzes bezeichnen. Er bringt beide in Verbindung, ohne sie einander gleichzustellen, ohne etwas daran abzuschwächen. Die einfache Frage, die uns zur Bestimmung vorliegt, heißt: wenn jene, die zu Christi Zeiten Reichtum besaßen, Seinem Urteil nach wahrscheinlich dazu neigten, auf denselben wie auf einen Gott zu vertrauen, gibt es dann einen Grund anzunehmen, daß diese Wahrschein­lichkeit sich in den verschiedenen Zeitaltern wesent­lich ändert? Und entsprechend der Lösung dieser Frage müssen wir die Anwendung des im Text aus­gesprochenen „Wehe“ auf unsere Zeiten bestim­men. Auf alle Fälle ist zu beachten, daß jene, die nachweisen möchten, dieser Text finde keine An­wendung auf unsere Zeiten, gehalten sind, ihre Ansicht zu begründen. Ihnen obliegt die Last des Beweises. Solange sie die klare und einleuchtende Unterscheidungslinie zwischen dem ersten und dem neunzehnten Jahrhundert nicht gezogen haben, hängt das Wehurteil drohend über der Welt – nämlich so drohend wie zur Zeit der Ankunft Christi über den Pharisäern und den Sadduzäern. Aber, daß unser Herr den Reichtum in Seinen Reden als ein gewisses Unheil für den Christen bezeichnen wollte, geht wahrhaftig klar hervor nicht allein aus solchen Texten wie den obigen, sondern aus dem Lob und der Empfehlung, die Er anderseits für die Armut hat. Zum Beispiel: „Verkaufet, was ihr habt und gebet Almosen; machet euch Beutel, die nicht veralten“ (Lk 12, 33). „Willst du vollkommen sein, so geh hin, verkaufe alles, was du hast und gib es den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben“ (Mt19, 21). „Selig seid ihr Armen, denn euer ist das Reich Gottes“ (Lk 6,20). „Wenn du ein Mittag- oder Abendmahl gibst, so lade nicht deine Freunde, noch deine Brü­der, noch Verwandte, noch reiche Nachbarn …, sondern … lade Arme, Krüppel, Lahme und Blinde“ (Lk 14,12.13). Ähnlich sagt der heilige Jakobus: „Hat nicht Gott die Armen in dieser Welt auserwählt zu Reichen an Glauben und zu Erben des Reiches, welches Gott denen, die Ihn lieben, verheißen hat“ (Jak 2,5). Ich führe diese Texte an als Lehrgut, nicht als Vorschriften. Was immer die Lebensregel sein mag, die sie für diesen oder jenen einzelnen vorschreiben (was mich im Augenblick nicht beschäftigt), soweit herrscht Klarheit, daß nach der Lehre des Evangeliums der Mangel an Reich­tum an sich als Zustand gesegneter und christlicher ist als der Besitz.

Die nächstliegende Gefahr, die weltliche Güter für das Seelenheil bilden, besteht darin, daß sie prak­tisch in unseren Herzen ein Ersatz werden für „jenen Einzigen“, dem wir unsere höchste Ver­ehrung schulden. Diese liegen offen da; Gott ist unsichtbar. Sie sind Mittel, um ans Ziel unserer Wünsche zu kommen; ob Gott unsere Bitten für diese unsere Wünsche erhören will, ist unsicher; oder vielmehr, ich möchte fast sagen, es ist sicher, daß Er es nicht tut. So dienen sie den verderbten Neigungen unserer Natur. Sie sind vielverheißend und können uns zu Götzen werden; ja zu Götzen, die keinen Dienst verlangen, sondern gleich stummen Abgöttern den Anbeter emporheben und ihm den Dünkel seiner eigenen Macht und Sicherheit einprägen. Hierin besteht ihr erstes und äußerst verstecktes Unheil. Religiöse Menschen können ihre sündhaften Begierden unterdrücken, ja austilgen: Fleischeslust, Augenlust, Gaumenlust, Trunksucht und ähnliches, Vergnügungssucht, leichtsinnige Freuden und Prahlsucht, Schwelgerei jeglicher Art; dagegen können sie dem Reichtum gegenüber kaum das geheime Gefühl loswerden, daß sie da­durch einen festen Untergrund, Gewichtigkeit und Überlegenheit gewinnen; infolgedessen verlieben sie sich in die Welt und verlieren den Blick für die Pflicht des Kreuztragens; sie werden, was die religiösen Interessen und Hoffnungen angeht, stumpf und trüb und verlieren die Feinheit und Schärfe ihres Empfindens, sind verkrampft sozu­sagen bis in die Fingerspitzen. Alles zu wagen auf Christi Wort hin kommt ihnen irgendwie unnatür­lich und übertrieben vor und als ein Zeichen krank­haften Gefühls; und der Tod, anstatt ihnen eine gnädige, wenn auch schauererregende Erlösung zu sein, ist für sie ein unwillkommener Gedanke. Sie sind mit ihrem gegenwärtigen Zustand zufrieden und denken an keinen Wechsel. Sie wünschen und glauben, Gott zu dienen, ja tatsächlich dienen sie Ihm auf ihre Weise, jedoch nicht mit dem lebhaften Gefühl, der edlen Begeisterung, der Größe und Hochherzigkeit der Seele, dem Pflichteifer und der Hingabe an Christus, wie es einem Christen zu­kommt, sondern mit dem Gehorsam eines Juden, der kein Bild Gottes kannte außer dem der sicht­baren Schöpfung, der „sein Brot mit Fröhlichkeit ißt und seinen Wein mit Freude trinkt“, der acht gibt, daß „seine Kleider allezeit weiß sind und seinem Haupt nie das öl fehlt, der das Leben mit seinem Weibe genießt, das er liebt all die Tage seiner Eitelkeit“, und „der Frucht seiner Arbeit sich freut“ (Prd 9,7-9; 5,18). Nicht als ob es verkehrt wäre, von den zeitlichen Gütern den rechten Ge­brauch zu machen, aber es hieße das Evangelium mit dem Judentum verwechseln, wollte man sie zum Gegenstand der Liebe machen und es geschehen lassen, daß sie uns von dem „Einen Mann“ ab­ziehen, dem wir verlobt sind (2 Kor 11, 2).

Dies also war, wenn man so sagen darf, in etwa der Sinn der Worte unseres Heilandes, als Er den Besitz von Reichtum mit dem Vertrauen darauf in Zusammenhang brachte. Besonders heute ist dieser Gedanke angebracht, am Gedenktag eines Apostels und Evangelisten, dessen Lebenslauf ein Beispiel und eine Ermunterung für jene ist, die Reichtum besitzen, aber befürchten, daß sie sich darauf ver­lassen. Der heilige Matthäus war jedoch einer wei­teren Gefahr ausgesetzt, die ich im folgenden be­trachten will. Denn er war nicht nur im Besitz von Reichtum, sondern es war sein Beruf, Reichtum zu erwerben. Unser Heiland scheint uns in der Parabel des Sämannes vor dieser weiteren Gefahr zu war­nen mit Seiner Schilderung der Dornen, welche „die Sorge dieser Welt und der Betrug des Reichtums“ sind (Mt 13, 22); und noch deutlicher im Gleichnis vom Großen Gastmahl, wo sich die Gäste entschul­digen, einer, weil er „ein Stück Land, ein anderer, weil er fünf Paar Ochsen gekauft hatte“ (Lk 14, 18.19). Noch viel deutlicher spricht der heilige Pau­lus in seinem ersten Brief an Timotheus: „Denn die reich werden wollen, fallen in Versuchung und Fallstricke des Teufels und in viele unnütze und schädliche Begierden, welche die Menschen in Untergang und Verderben stürzen. Denn die Wurzel aller Übel ist die Geldgier; einige, die sich ihr er­gaben, sind vom Glauben abgefallen und haben sich in viel Schmerzen verwickelt“ (1 Tim 6, 9.10). Die Gefahr, die im Besitz des Reichtums liegt, ist die fleischliche Sicherheit, wozu er verleitet. Das Verlangen und Streben danach bedeutet nämlich, daß uns auf diese Weise ein Gegenstand dieser Welt als Ziel und Lebenszweck vorschwebt. Es scheint aber der Wille Christi zu sein, daß Seine Jünger kein Endziel, kein Streben und Unterneh­men rein von dieser Welt haben sollten. Hier wie­derum spreche ich wie oben, nicht um eine Vor­schrift zu geben, sondern um eine Lehre darzutun. Ich blicke auf Seine heilige Religion wie von wei­tem und erkläre ihren allgemeinen Charakter und Geist, nicht aber die Pflicht, die diesem oder jenem Einzelmenschen, der sie annahm, obliegen mag. Es ist Sein Wille, daß all unser Tun nicht um der Menschen oder der Welt oder des eigenen Selbstwillen geschehe, sondern zu Seiner Ehre; und je einfacher wir das zu tun vermögen, um so wohl­gefälliger werden wir Ihm. Sooft wir um eines Gutes dieser Welt willen, und sei es auch noch so lauter, handeln, sind wir der Versuchung ausge­setzt – (nicht unüberwindbar, Gott bewahre) aber doch einer Versuchung, unser ganzes Herz daran­zusetzen, es zu erwerben. Und deshalb heißen wir solche Gegenstände Reize, da sie uns ungebühr­lich erregen, uns aus der Heiterkeit und Ruhe des himmlischen Glaubens drängen, uns durch ihre Nähe dem harmonischen Pflichtenkreis entziehen und unsere Gedanken auf etwas hinlenken, das alles ist, nur nicht das Hocherhabene und Ewige. Solche Reize begegnen uns immerfort, und allein schon die Tatsache, daß wir sie zu erleiden haben – einmal ganz abgesehen von einer Schuld oder deren Folgen, die wir uns dabei aufladen -, bildet die große Lebensaufgabe und Züchtigung unseres Her­zens. Oft ist es eine Sünde, sich ihnen zu entziehen, wie es vielleicht der Fall war bei einigen, die ins Kloster gingen, um Gott vollkommener dienen zu können. Anderseits ist es die heilige Pflicht der geist­lichen Vorsteher, für die ihnen anvertraute Herde sich abzumühen, für sie zu leiden und sich für sie einzusetzen. Der heilige Paulus war rings umgeben von den ihm daraus erwachsenden Drangsalen, und seine Schriften zeigen, wie sehr sie seinen Geist auf­wühlten. Er war wie David ein Kämpfer bis aufs Blut; und das um unseretwillen. Und doch gilt, daß der wesenhafte Geist des Evangeliums „Ruhe und Vertrauen“ ist und daß ihr Besitz höchste Gnade und ihr restloser Erwerb unser Hauptziel ist.

Mag es nun aber noch so sehr Pflicht sein, die Drangsale, wenn sie über uns kommen, zu erdul­den, so ist es einfach unchristlich, ja offene Torheit und Sünde, irgendwie auf sie auszugehen, seien sie weltlich oder religiös. Daher sind Glücksspiele so sündhaft, denn sie sind eine aus Vermessenheit selbst geschaffene, ernste, wenn nicht unüberwindbare Versuchung, unser Herz an ein Ding dieser Welt zu hängen. Daher auch der Übelstand vieler Vergnügungen, der (sogenannten) Tagesmode; denn sie sind gerade zu dem Zweck ersonnen, die Gedanken zu versklaven und die Zeit zu vertrei­ben. Das gerade Gegenteil ist die christliche Hal­tung, die erst dann ihre volle und entsprechende Befriedigung findet, wenn sie sich in jenem ord­nungsmäßigen und regelmäßigen Pflichtenkreis be­wegt, den Gott bestimmt, den die Welt freilich fad und langweilig nennt. Daß wir uns Tag für Tag zur gleichen Beschäftigung erheben und unsere Freude daran haben sollen, ist die große Lehre des Evangeliums; wird diese letztere aber beispielhaft veranschaulicht von jenen, die der Versuchung der Vielgeschäftigkeit gegenüber wach sind, dann ver­langt das ein Herz, das sich der Liebe zum Dies­seits entwöhnt hat. Leibliche Krankheit oder auch Unrast des Geistes mögen wohl da und dort solch ein Leben zur Last werden lassen; mag sein, daß auch Trägheit, Nachgiebigkeit gegen sich selbst, Mutlosigkeit und ähnliche schlechte Gewohnheiten sich mit Vorliebe einer solchen Haltung bedienen, um einen Vorwand zu haben für Pflichtvergessen­heit im praktischen Leben. Männer von Energie und Unternehmungsgeist sind zu einem Leben der Mühsal berufen; sie sind das Gegengewicht gegen die Übel der Welt und setzen sich ihnen zur Wehr. Mögen sie indes nie ihre wahre Stellung verken­nen; sie sind Kämpfer, aber man kämpft nur, um den Frieden zu erlangen. Sie sind nur Kämpfer, gewißlich durch den Ruf Gottes geehrt und in der Tiefe ihres Herzens allen augenblicklichen Er­regungen zum Trotz in der Einen wahren Schau christlichen Glaubens gefestigt; gleichwohl sind sie nur Kämpfer im offenen Felde, aber nicht die Er­bauer des Tempels, noch die Bewohner der „lieb­lichen“ und besonders gesegneten „Zelte“ (Nm 24, 5), wo der Anbeter in Lobpreis und Fürbitte lebt und inmitten der unauffälligen Alltagspflichten seinen Kampf führt. „Martha, Martha, du machst dir Sorge und bekümmerst dich um sehr viele Dinge, Eines nur ist notwendig. Maria hat den be­sten Teil erwählt, der ihr nicht wird genommen werden“ (Lk 10, 41. 42). Das ist das Urteil unseres Herrn, das zeigt, daß unser wahres Glück darin besteht, in aller Muße und ohne Aufregung dem Herrn zu dienen. Um dieses Gnadengeschenk be­ten wir besonders in einem unserer Kirchengebete: „Gib, o Herr, daß der Lauf der Welt unter Deinem Walten eine friedliche Entwicklung für uns nehme und Deine Kirche Dir in aller Gottseligkeit und Ruhe freudig diene“ (vgl. 1 Tim 2, 2). Verfolgung, politische Wandlungen und ähnliches stören die Ruhe der Kirche. Es ist des Christen größtes Gna­dengeschenk, mit weltlicher Politik nichts zu tun zu haben – sich regieren zu lassen und sich in Gehor­sam zu unterwerfen; und obschon hier wiederum die Selbstsucht sich einschleichen und einen Mann zur Vernachlässigung der ihm obliegenden öffent­lichen Aufgaben verleiten kann, so muß gleichwohl die Teilnahme daran als eine Pflicht, kaum jedoch als ein Vorrecht angesehen werden, als die Erfüllung eines Vertrauenspostens zum Wohle der anderen, aber nicht als ein Genuß von Rechten (wie man in diesen Tagen der Verblendung sagt), nicht als ob die politische Macht in sich etwas Gutes wäre.

Doch zurück zu unserem unmittelbaren Gegenstand. Ich behaupte also, es gehört mit zur christlichen Vorsicht, unsere Verpflichtungen nicht zur Ge­schäftssache werden zu lassen. Verpflichtungen sind unser Anteil, aber Geschäft ist meist des Menschen freie Wahl. Wir können in weltlichen Berufen stehen, ohne das Weltliche zu verfolgen; „nicht träge im Geschäft“, aber doch „dem Herrn dienend“ (Röm 12,11). Darin also besteht, wie z. B. beim Handel und ähnlichem, die Gefahr der Gewinn­sucht. Dies ist die allgemeinste und gewöhnlichste Form aller Reize. Es ist eine, der fast ein jeder sich überlassen kann, ja sogar sich überläßt unter dem Beifall der Welt. Und sie währt das ganze Leben hindurch und unterscheidet sich hierin von den Freuden und Vergnügungen der Welt, die kurz­lebig und von schnellem Wechsel sind. Die aus die­sen Freuden sprießende Zerstreuung des Geistes ist an sich schon erbärmlich genug, aber viel schlim­mer als diese Zerstreuung ist die Inanspruchnahme des Geistes durch ein weltliches Objekt, dem man beständig nachjagen kann – und das ist bei der Gewinnsucht der Fall. Es erschwert aber das Übel nicht unerheblich, daß es fast mit Sicherheit von Besorgnis begleitet ist. Ein Leben des Gelderwer­bes ist ein Leben voll Sorge. Am Anfang schon steht die schreckerfüllte Ahnung eines vielgestalti­gen Verlustes, die den Geist niederdrückt und aus der Ruhe bringt, nein, die ihn jagt, bis der Mensch an nichts anderes mehr denken zu können glaubt und ob des ständigen Strudels der Geschäfte, in den er hineingerissen ist, nicht mehr die Fähigkeit be­sitzt, seinen Geist dem Religiösen hinzugeben. Man tut gut, das zu verstehen. Hört man doch die Men­schen in einer Weise reden, als ob die Jagd nach Reichtum ihre eigentliche Lebensaufgabe wäre. Ge­wöhnlich führen sie ins Feld, daß der Mensch durch das Naturgesetz gehalten sei, den Unterhalt für seine Familie zu beschaffen, und daß er dabei sich belohnt wisse und eine unschuldige und ehrenhafte Genugtuung empfinde, wenn er eine Summe auf die andere häufen und seine Gewinne zusammenrech­nen könne. Und vielleicht finden sie weitere Gründe darin, daß es seit Adams Fall des Menschen eigent­lichste Pflicht sei, „im Schweiße seines Angesichtes“, unter Anstrengung und Besorgnis „sein Brot zu essen“ (Gn 3,19). Wie merkwürdig, daß sie sich nicht an Christi gnädige Verheißung erinnern können, die jenen ursprünglichen Fluch zurücknimmt und der Notwendigkeit eines irgendwie berechtig­ten Hastens nach „vergänglicher Speise“ entgegen­tritt (Joh 6,27). Um uns von der Fessel der verderb­ten Natur freizumachen, hat Er uns ausdrücklich versichert, daß es dem treuen Jünger nie am Le­bensnotwendigen fehlen werde, so wenig wie das Mehl und Öl der Witwe von Sarepta ausgegangen ist; ferner, daß bei aller Verpflichtung, für die Fa­milie zu sorgen, diese Mühsal ihn nicht völlig be­anspruchen werde und daß er trotz aller Geschäf­tigkeit im Herzen für den Herrn frei sein könne. „Sorget euch also nicht ängstlich und saget nicht: Was werden wir essen, oder was werden wir trin­ken, oder womit werden wir uns bekleiden? Denn nach allem diesem trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, daß ihr alles dessen be­dürfet. Suchet also zuerst das Reich Gottes und Seine Gerechtigkeit, so wird euch dies alles zuge­geben werden“ (Mt 6, 3133). Hier wird uns unser Vorrecht und unsere Pflicht zugleich geoffenbart: des Christen Los, daß er Verpflichtungen für die Welt hat, ohne den Dingen jedoch nachjagen zu dürfen. Ganz im Einklang mit diesen Worten un­seres göttlichen Lehrmeisters stehen die Worte des Apostels, die die Einleitung zu einem bereits an­geführten Text bilden: „Denn wir haben nichts in diese Welt hereingebracht und können ohne Zwei­fel auch nichts mitnehmen. Wenn wir aber Nah­rung und Kleidung haben, so lasset uns damit zu­frieden sein“ (1 Tim 6, 7. 8). So gibt es also keine Entschuldigung für jene alles beanspruchende Jagd nach Reichtum, der viele sich hingeben, wie wenn sie eine Tugend wäre, und über die sie sich ver­breiten, als ob sie eine Wissenschaft wäre. „Nach allem diesem trachten die Heiden.“ Beachtet, wie verschieden dagegen die uns von den Aposteln hinterlassene Lebensregel ist. „Das sage ich zu eurem Besten“, sagt der heilige Paulus, „auf daß ihr dem Herrn ohne Hindernis anhangen könnt“ (1 Kor 7, 35). „Das jedoch sage ich, Brüder: Die Zeit ist kurz, es übrigt nur, daß die, welche Weiber haben, seien, als hätten sie keine; und die, welche weinen, als weinten sie nicht; und die, welche sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die, welche kaufen, als besäßen sie nicht; und die, welche die Welt brau­chen, als mißbrauchten sie dieselbe nicht, denn die Gestalt dieser Welt vergeht“ (1 Kor 7,29-31). „Seid nicht ängstlich besorgt, sondern in allen Din­gen lasset euer Anliegen im Gebete und Flehen mit Danksagung vor Gott kundwerden“ (Phil 4, 6). Der heilige Petrus aber sagt: „Alle eure Sorgen werfet auf Ihn, denn Er sorgt für euch“ (1 Petr 5, 7).

Ich habe nun den Hauptgrund angeführt, weshalb die Gewinnsucht, groß oder klein, ein Hindernis für unser geistliches Wohl ist, weil sie nämlich un­ser Herz an weltliche Dinge fesselt; andere Gründe jedoch bleiben noch zu erwähnen. Geld ist eine Art Schöpfung und verleiht dem, der es erwirbt, fast mehr noch als dem, der es bloß in Besitz hat, eine Einbildung von seiner Macht; es verleitet zur Selbst­vergötterung. Ferner: von dem, was wir nur mühsam erworben haben, trennen wir uns schwer; infolge­dessen wird einer, der sich seinen Reichtum erarbei­tet hat, für gewöhnlich knauserig sein oder wenig­stens nur dann sich von ihm trennen, wenn er ihn eintauschen kann gegen etwas, das ihm Ehre ein­bringt oder sein Ansehen hebt. Selbst wo er in sei­nem Benehmen höchst selbstlos und liebenswürdig ist (wie z. B. bei Ausgaben zum Wohl der ihm Unterstellten), wird doch diese Nachgiebigkeit gegen Selbstsucht, Stolz und Weltlichkeit sich einschleichen wollen. So ist es sehr unwahrscheinlich, daß er Gott gegenüber sehr freigebig ist; denn was man für re­ligiöse Zwecke opfert, ist eine Ausgabe ohne greif­baren Gewinn, dazu noch für Dinge, gegen die man gerade infolge der Gewinnsucht einen Widerwillen verspürt. Außerdem, wenn ich fortfahren darf, bringen es die auf Gewinn abzielenden Berufe mit sich, daß sie den Menschen zur Unredlichkeit in seinen Geschäften verleiten, d. h. ihn abgefeimt machen. In den Einzelabwicklungen der Geschäfts­welt liegt so viel herkömmliche Betrügerei und Ver­drehungskunst, so viel Verschleierungsmöglichkeit in der Aufstellung der Rechnungsbücher, so viel Verworrenheit in Fragen des Rechtes und der Bil­ligkeit, so viel an verlockenden Ausflüchten und Rechtsfiktionen, so viel Verschwommenheit zwi­schen den annähernd genauen Grenzen der Ehr­lichkeit und der Gesetzesverordnung, daß es einer großen Charakterfestigkeit bedarf, um sich fest an die Begriffe von Gewissenhaftigkeit, Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit zu klammern und die Inter­essen, die es zu wahren gilt, mit dem Blick eines Fremden zu betrachten, der, nehmen wir an, plötz­lich ihnen gegenübertritt.

Ist aber die Wirkung der Gewinnsucht auf einen einzelnen so groß, dann wird sie ohne Zweifel gleich groß sein auf eine Nation. Und ist die Ge­fahr im einen Fall so groß, warum sollte sie gerin­ger sein im anderen Fall? Im Gegenteil: wenn man bedenkt, daß die den Dingen innewohnenden Triebkräfte sich mit Sicherheit auswirken werden, wo Zeit und Menge der Geschäftsgelegenheit sie begünstigen, ist es dann nicht sicher, daß jede Körperschaft, jedes menschliche Gemeinwesen, das sich mit Geldgewinn abgibt, durch die oben beschriebe­nen Gefühle im großen ganzen beeinflußt und zu jener Charakterhaltung gestempelt wird? Mit die­sem Gedanken vor Augen ist es eine sehr beängsti­gende Überlegung, daß wir einer Nation angehö­ren, die zu einem guten Teil vom Gelderwerb lebt. Ich will dem nicht weiter nachspüren noch untersu­chen, ob die besonderen politischen Übelstände von heute nicht ihre Wurzel haben in jener Ursache, die der heilige Paulus als die Wurzel allen Übels be­zeichnet: in der Geldgier. Wir wollen wenigstens auf die Tatsache schauen, daß wir ein Volk sind, das auf Gelderwerb aus ist; dabei aber unseres Hei­landes Wort gegen den Reichtum und gegen das Vertrauen auf Reichtum im Auge behalten; das gibt uns genug Stoff zu ernster Überlegung. Zu guter Letzt aber ist uns das Beispiel des heiligen Matthäus ein Trost in dem düsteren Ausblick, den uns der Gedanke an unsere Lage und unsere Zu­kunft als Nation aufdrängt. Denn es legt uns den Gedanken nahe, daß wir als Christi Diener mit gro­ßem Freimut reden und rückhaltlos die Gefahr des Reichtums und der Gewinnsucht darlegen sollen, freilich ohne jede Härte oder Lieblosigkeit dem ein­zelnen gegenüber, der ihr ausgesetzt ist. Vielleicht sind sie Mitbrüder des Evangelisten, der um Christi willen alles verlassen hat. Ja solche hat es (Gott sei dafür gepriesen!) in allen Zeitaltern gegeben. Der Schwere aber ihrer Versuchung, die sie umgab, ent­spricht die Seligkeit ihres Lobpreises, wenn sie in­mitten „der Handelswaren aus den Meeren“ und „ihrer großen Geschäftskundigkeit“ (Ez 27, 33; 28, 5)] die Gnade haben, Christi Stimme zu hören, ihr Kreuz auf sich zu nehmen und Ihm nachzufolgen.

Newman John Henry, Pfarr- und Volkspredigten, DP II, 28, Schwabenverlag, Stuttgart 1950, 378-393.