30. Predigt, 18. Oktober 1831
Fest des heiligen Evangelisten Lukas
„In die Herzen aller Verständigen habe Ich Weisheit gelegt“ (Ex 31, 6).
Der Heilige Lukas unterschied sich von seinen Mitevangelisten und Mitjüngern dadurch, daß er den Vorzug einer (sogenannten) klassischen Bildung empfangen hatte. Hierin ähnelt er dem heiligen Paulus, der bei gleicher Bildung, wie es scheint, sogar eine höhere Gelehrsamkeit besaß. Es heißt, daß er aus Antiochien gebürtig war, einer Stadt, die sich der feinen Sitten und der Geistesbildung ihrer Bewohner rühmte; und sein Beruf war der eines Arztes oder Chirurgen, was von selbst beweist, daß er hinsichtlich seiner Bildung etwas über dem Durchschnitt der Menschen stand. Das findet sich bestätigt durch den Charakter seiner Schriften, die in ihrer Form jeden anderen Teil des Neuen Testamentes, einige Briefe des heiligen Paulus ausgenommen, überragen.
Manche bezweifeln, ob eine sogenannte „feinere Bildung“, sei es in der Literatur oder in den schönen Künsten, mit einer tiefen und praktischen Ernsthaftigkeit des Geistes vereinbar ist. Sie glauben, daß die Pflege derselben eine Oberflächlichkeit des Geistes bekundet und wenigstens Zeit beansprucht, die man besser für etwas anderes verwenden könnte; und ich gestehe, sie sind scheinbar in der Lage, auf den ersten Blick vieles zur Verteidigung ihrer Ansicht vorzubringen. Und doch, St. Lukas und St. Paulus waren gebildete Männer und freuten sich offensichtlich ihrer Bildung.
Ich spreche nicht von menschlicher Gelehrsamkeit; auch sie wird von vielen als unvereinbar mit einem einfachen, unverdorbenen Glauben bezeichnet. Sie setzen voraus, daß Gelehrsamkeit stolz machen müsse. Dies ist natürlich ein großer Irrtum, aber davon rede ich nicht, sondern von einem Übereifer für feinere Bildung, für die schönen Künste und Studien, wie Dichtkunst, literarische Tätigkeit, Malerei, Musik und ähnliches, die einen Menschen (nicht gerade zum Stolz, aber) zur Tändelei führen können. Davon möchte ich jetzt reden, wie weit diese Ansicht zutreffend ist oder nicht; denn mich führte zu dieser Überlegung die bekannte Tatsache, daß der heilige Lukas ein gebildeter Schriftsteller und doch ein Evangelist war.
Daß aber nun die feinere Bildung, von der ich spreche, dazu neigt, uns zur Tändelei und Unmännlichkeit zu verleiten und deshalb von jedem unter uns, soweit er selbst in Frage kommt, mit Argwohn zu betrachten ist, will ich gern zugestehen und sogleich erklären. Ich gebe tatsächlich zu, daß Kultur und Genußsucht, Eleganz und Verweichlichung Hand in Hand gehen. Antiochien, die kultivierteste Stadt, war auch Asiens wollüstigste Stadt. Der Mißbrauch einer guten Sache aber ist kein Beweis gegen die Sache als solche; Geistesbildung kann trotz des Mißbrauches eine göttliche Gabe sein. Alle Gaben Gottes werden vom Menschen verkehrt; Gesundheit, Kraft, Geistesstärke werden von den Sündern zu schlechten Zielen mißbraucht; aber in sich sind sie nicht schlecht. Somit ist die Vertrautheit mit den feineren Künsten eine Gabe und ein Gut und in ihrem Endzweck ein Werkzeug zu Gottes Ehre, wenngleich manche, die sie besitzen, dabei weichlich, vergnügungssüchtig und energielos werden.
Jedoch ausschlaggebend für diese Frage ist der Bericht vom Bau des heiligen Zeltes in der Wüste, aus dem der Vorspruch herstammt. Er ist zu lang, um ihn euch ganz vorzulesen, aber einige Verse werden euch seine Art zeigen. „Und rede mit allen, die weisen Herzens sind, die Ich erfüllt habe mit dem Geiste der Klugheit, daß sie Aarons Kleider machen, darin er als Priester mir diene.“ „Siehe, Ich habe namentlich berufen Bezaleel… und habe ihn erfüllt mit dem Geiste Gottes, mit Weisheit und Verstand und Wissenschaft in allerlei Arbeit, alles zu erdenken, was gemacht werden kann in Gold und Silber und Erz, in Marmor und Edel-gestein und in Holzschnitzerei, damit er alle Art von Handwerk verrichte.“ „Sondert ab bei euch die Erstlinge dem Herrn, ein jeglicher gebe sie freiwillig, mit wohlgeneigtem Herzen dem Herrn: Gold und Silber und Erz, Hyazinth und Purpur und Rot und feine Gewebe und Ziegenhaare und rote Widderfelle und bläuliche Felle und Akazienholz und öl, die Lampen zuzurichten und die Salbe daraus zu bereiten, und das angenehme Räucherwerk, Onyxsteine und andere Edelsteine, das Schulterkleid und das Bruststück zu zieren. Wer unter euch weise ist, der komme und mache, was der Herr geboten hat“ (Ex 28,3; 31,2-5; 35,5-10). Woher aber kommt es dann, daß etwas in sich so Vorzügliches und (ich möchte sagen) Göttliches so allgemein entstellt wird? Im folgenden will ich die Gefahr der feineren Bildung, wie sie sich mir darstellt, aufzeigen und damit die Antwort auf die Frage geben.
Die Gefahr der vornehmen und feinen Bildung liegt nun darin, daß sie Gefühl und Tat trennt; sie lehrt uns, recht zu denken, zu sprechen und zu fühlen, ohne aber uns zu zwingen, das Rechte zu tun. Als freilich ziemlich bekanntes Beispiel hierfür wähle ich mir die seelische Einwirkung der Lektüre einer sogenannten Romanze oder eines Romans, die ja als feinere Literatur, von der ich spreche, bezeichnet werden. Die besseren dieser Art enthalten viele guten Gefühlswerte, es treten auch Gestalten auf, die kraftvoll, vornehm, geduldig im Leiden und zu guter Letzt im Unglück sieghaft sind. Ich will auch annehmen, daß die großen Wahrheiten der Religion darin verfochten und eingeschärft werden und daß unser Gemüt für das Gute und Wahre aufgeweckt und interessiert wird. Aber es ist alles nur Fiktion; es existiert nicht außerhalb des Buches, das dessen Anfang und Ende in sich beschließt. Es gibt für uns nichts zu tun; wir lesen, sind angeregt, gerührt oder aufgewühlt, und das ist alles; wir kühlen wieder ab – nichts kommt dabei heraus. Nun aber beachtet die Folge davon. Gott gab uns das Gefühl, damit wir es zur Auswirkung bringen und dann zur Tat übergehen sollten; lassen wir uns also das Gefühlsleben wecken, ohne danach zu handeln, dann verletzen wir die sittliche Ordnung in uns, gerade so wie wir eine Uhr oder ein mechanisches Werk verderben können, wenn wir mit seinen Rädchen spielen. Wir schwächen dessen Federn, und sie hören auf, richtig zu gehen. Demgemäß kommen wir, wenn wir uns an den Genuß dieser erdachten Werke gewöhnt haben, am Ende dahin, das Gefühl zu erleben ohne den leisesten Gedanken oder die Absicht, danach zu handeln. Und da es sehr schwer ist, mit der Ausübung irgendeiner Pflicht ohne diese oder jene Gefühlsbewegung zu beginnen (d. h. zu beginnen rein aus grundsätzlichen Erwägungen des trockenen Verstandes), so erhebt sich eine schwere Frage: Wie werden wir, nachdem der Zusammenhang von Gefühl und Tat zerstört ist, uns zum Handeln bringen, wo es die Umstände uns zur Pflicht machen? Wir wollen z. B. sagen, wir haben immer wieder von dem Heldenmut gelesen, der sich der Gefahr entgegenwirft, und wir sind erglüht beim Gedanken an seinen Adel. Wir haben gefühlt, was es Großes ist, Schmerz auszuhalten und sich lieber unwürdiger Behandlung auszusetzen, als das Gewissen zu verletzen; und dieses alles immer wieder, ohne daß wir Gelegenheit hatten, unsere guten Gefühle in die Tat umzusetzen. Angenommen aber, wir stünden tatsächlich vor einer Probe und – wollen wir sagen – unsere Gefühle wären, wie schon öfters zuvor, erregt in dem Gedanken, Versuchungen zur Feigheit mutig zu widerstehen: werden wir deshalb unsere Pflicht erfüllen und uns als Männer bewähren? Oder ist es nicht so, daß wir eher große Töne reden und dann der Gefahr davonlaufen? Warum? – Laßt uns lieber fragen: Warum nicht? Was soll uns davon abhalten, nachzugeben? Etwa die Tatsache, daß unser Gefühl in Ordnung ist? Nein, unser Fühlen und Denken war immer wieder in Ordnung, nur haben wir uns nicht daran gewöhnt, recht zu handeln; und obwohl in unserem Geist ein ursprünglicher Zusammenhang zwischen Fühlen und Handeln war, ist jetzt keiner da; die geheimen Fäden in uns, wie wir es nennen können, sind gelockert und kraftlos.
Was aber hier am Beispiel des Starkmuts veranschaulicht wurde, das trifft auf jeden Pflichtfall zu. Die Bildung, welche die Literatur vermittelt, ist die des rechten Denkens, Fühlens, Wissens und Sprechens, nicht aber des rechten Tuns; und indes sie das Benehmen gefällig und die Unterhaltung geziemend und angenehm macht, zielt sie nicht darauf ab, den Menschen in seinem Verhalten und Handeln tugendhaft zu machen. Beachtet, ich ging von der Voraussetzung aus, daß die Werke der Dichtung, von denen ich spreche, das rechte Gefühlsleben fördern wollen, obwohl Werke dieser Art (z. B. Theaterbücher) oft* schlecht und unsittlich sind. Aber selbst den besten Fall angenommen, daß sie gute Grundsätze vertreten, sie sind gleichwohl zum mindesten in sich gefährlich; nämlich dann, wenn wir einen zähen, schwierigen Gehorsam durch Bildung ersetzen wollen. Daraus ergibt sich, daß ich sehr gegen gewisse religiöse Romane bin, die manch einem so nützlich vorkommen; daß sie manchmal Gutes stiften, will ich bei weitem nicht leugnen; – aber sie schaden mehr als sie nützen. Auf das Ganze gesehen stiften sie Unheil; sie verleiten die Menschen dazu, die religiöse Gefühlswelt ohne Beziehung zum religiösen Handeln zu pflegen. Und hier ist der Ort, wo ich reden könnte von jenem ganzen religiösen System (fälschlich Religion genannt), das behauptet, der christliche Glaube bestehe nicht in der ehrlichen und schlichten Übung dessen, was recht ist, sondern im Genuß des gehobenen religiösen Gefühls, in der bloßen Betrachtung unseres Herrn und in der schwärmerischen Versenkung in das, was Er für Betrachtungsweise wird einen Menschen in Wirklichkeit ebensowenig heiligen, wie wenn er ein Gedicht liest oder einem Kirchenlied oder der Psalmodie zuhorcht.
Das gleiche ist der Fall bei den Künsten, auf die ich zuletzt angespielt habe: bei Dichtung und Musik. Diese haben es besonders an sich, uns unmännlich zu machen, wenn wir nicht auf der Hut sind, da sie die Gefühle wecken, ohne die entsprechende Übung der Tat zu sichern, und so den Zusammenhang zwischen Fühlen und Handeln zerstören; denn ich meine hier mit Unmännlichkeit das Unvermögen, uns getan hat; – denn eine solch unbeteiligte nach unserem Willen zu handeln – daß wir schöne Dinge aufsagen, aber dabei trag auf unserem Ruhebett liegen, als ob wir trotz besten Wollens uns nicht zu erheben vermöchten.
Und hier muß ich bezüglich der feineren Bildung noch etwas weiteres anführen, das uns zu Überfeinerung, Verwöhnung und Überempfindlichkeit verleiten kann. In den Büchern wird alles in seiner Art aufgeputzt. Man zeichnet Bilder von vollkommener Tugend, man spricht da wenig von den Schwächen, und wenig oder gar nichts von der Plackerei des gewöhnlichen, täglichen Gehorsams, der weder poetisch noch interessant ist. Der wahre Glaube lehrt uns, unzählige Unannehmlichkeiten um Christi willen zu ertragen, kleine Verdrießlichkeiten, die wir in keinem Buch verzeichnet finden, auf uns zu nehmen. In den meisten Büchern wird das christliche Leben als etwas Großes, Erhabenes und Herrliches dargestellt; die Folge ist, daß jeder, der die wahre Religion nur aus Büchern kennt, aber nicht aus der tatsächlichen Bemühung um das Religiöse, mit Sicherheit Anstoß nehmen wird an der Religion, wenn er sich ihr tatsächlich unterzieht, wegen der Härte und Niedrigkeit seiner Pflichten sowie wegen seines notwendig damit gegebenen Versagens bei der Ausführung. Im Bilde ist es schön, den Jüngern die Füße zu waschen, aber der Sand der wahren Wüste hat keinen Glanz in sich, um das Niedrige dieser Verrichtung zu belohnen.
Aber noch mehr. Es ist zu beachten, daß die Schriftstellerei, die das Höchste der Bildung darstellt, in sich selbst die Gefahr birgt, verkünstelt und unwahr zu machen. Denn stets auf das Angebrachte und Schickliche unserer Worte zu achten, ist eine Art Schauspielkunst (oder birgt mindestens die Gefahr dazu in sich) – und das Wissen um das, was man über einen Gegenstand von beiden Seiten her sagen kann, ist meistens der Schritt dazu, die eine Seite für gleich gut wie die andere anzusehen. Deshalb bezeichnete man im Altertum die Männer, die sich mit der feineren Bildung abgaben, als „Sophisten“, d. h. Männer, die über jeden Gegenstand, recht oder unrecht, mit Eleganz schrieben und mit Beredsamkeit sprachen. Der heilige Lukas hätte leicht solch ein Sophist werden können, wäre er nicht Christ gewesen.
Dies sind einige der Gefahren der feineren Bildung; und mehr oder weniger sind ihnen alle Gebildeten ausgesetzt, unter diesen jedoch wohl nicht zuletzt solche Frauen, die zufällig keine eigentlichen Pflichten haben, der Plackerei des gewöhnlichen Lebens enthoben sind und deswegen gern wählerisch und verzärtelt werden – eine genießerische Ruhe lieben und sich nur mit feineren Beschäftigungen abgeben; die indessen alles bewundern, was religiös und tugendhaft ist, sich dazu bekennen und glauben, daß sie wirklich die Geistesverfassung besitzen, die sie schätzen.
Im Lichte dieser Gedanken müssen wir nun auf die einleitend angeführten Beispiele der Schrift zurückblicken, um der Schlußfolgerung zu entgehen, als ob die feinere Bildung unmittelbar gefährlich und eines Christen unwürdig wäre. Aber St. Lukas und St. Paulus beweisen uns, daß wir wackere Arbeiter und mannhafte Kreuzträger im Dienste des Herrn sein können, auch wenn uns alle Gelehrsamkeit der Ägypter zierte; oder besser, daß die Schätze der Literatur und die Segnungen eines gebildeten Geistes für den, der sie besitzt, einesteils eine erlaubte Freudenquelle und andernteils ein Mittel sind, der Wahrheit den Weg zu bahnen und sie anderen zu empfehlen. Auch die Geschichte des Heiligen Zeltes zeigt, daß alle Kunstfertigkeit und alle Kostbarkeit dieser Welt dem heiligen Dienst geweiht sein und zu Kündern der künftigen Welt werden können.
So schließe ich denn mit den folgenden Warnungen, zu denen die vorhergehenden Ausführungen Anlaß geben. Einmal müssen wir es vermeiden, den leichteren Beschäftigungen zuviel Zeit zu widmen; sodann sollen wir uns niemals gestatten, die Werke der Romanliteratur und Dichtung zu lesen oder uns für die schönen Künste zu interessieren rein um ihrer selbst willen; sondern wir wollen uns immerfort bewußt sein, daß wir Christen und verantwortliche Wesen sind, feste Grundsätze über Gut und Bös besitzen, nach denen alles zu beurteilen ist, und religiöse Anlagen haben, die wir in uns zur Reife bringen müssen und denen alles andere sich unterzuordnen hat. Bei Leuten von Bildung herrscht nicht selten die Gewohnheit, Bücher zu lesen so ganz um des Lesens willen, die leichthin beschriebenen Handlungen und Personen nach Gutdünken zu loben oder zu tadeln, ohne zu überlegen, ob sie wirklich nach dem Maßstab der sittlichen Wahrheit gut oder böse sind. Ich möchte nicht zu streng sein, aber macht man sich daraus eine Gewohnheit, dann ist es gewiß gefährlich. Genauso verhält es sich mit dem Mißbrauch der dichterischen Begabung, dieses heiligen Geschenkes. Nichts ist herkömmlicher, als daß man sich feiner Gefühle zu bedienen pflegt, besonders beim Brief schreiben, und dies aus Selbstverständlichkeit oder aus dem Drang nach zierlicher Aufmachung. Nichts ist beim Singen herkömmlicher, als daß man Worte leichten oder schlechten Inhaltes gebraucht. All diese Dinge schaden der Charakterreife. Aus diesem Grunde (um andere zu übergehen) ist der Beruf eines Theaterspielers und auch eines Redners gefährlich. Sie üben sich darin, Schönes zu reden und heiße Gefühle in sich zu wecken: um ein Nichts.
Ist es uns ernst, dann übergehen wir leichten Sinnes nichts, was uns guttun könnte, noch wagen wir es, mit so heiligen Werten wie Moral und religiöser Pflicht spielerisch umzugehen. Wir werden unsere ganze Lektüre auf uns anwenden, und dies sogar fast absichtslos, rein aus der Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit des Verlangens, Gott zu gefallen. Wir werden gegen alle diese guten Gedanken und Wünsche mißtrauisch sein und werden vor jeder Schaustellung unserer Grundsätze, soweit sie nicht zur Tat werden, zurückschrecken. Unser Ziel wird sein, recht zu handeln und unseren Vater zu verherrlichen, und wir werden andere zu gleichem Handeln ermahnen und nötigen; aber daß wir über: die geeigneten Gegenstände religiöser Besinnung reden, den Frommen zu spielen suchen und in anderen, selbst wenn sie unsere besten Freunde sind, die entsprechenden Gefühle wecken wollen: das sei ferne von uns, das werden wir eher als einen Fallstrick und als ein Unheil ansehen. Gerade das aber halten viele Menschen für den Gipfel der Religion, sie nennen es geistliche Gespräche, den Beweis für ihren religiösen Sinn; ich hingegen nenne, ganz abgesehen von der beginnenden und gelegentlichen Heuchelei sowie auch aller Unbescheidenheit, alle äußerliche und bezweckte Zur-Schau-tragung religiöser Ergriffenheit und alle gesuchten, mit Leidenschaft geführten Gespräche Vergeudung; der Natur nach ganz genau das gleiche, was man gemeiniglich so nennt, wenn auch verschieden im Gegenstand. Denn es ist eine Entleerung und ein Verbrauch unserer religiösen und moralischen Kraft, eine allgemeine Schwächung unserer geistigen Fähigkeiten (wie ich schon nachgewiesen habe); und das alles wofür? – um des Genusses eines momentanen Kitzels willen. Wer kann es leugnen, daß diese Unordnung im Religiösen ein Parallelfall ist zu dem der Sensualisten. Ja, genau derselbe Fall wie bei ihnen, von denen die betreffenden Frömmler sich weit entfernt glauben, jene vornehmen Kreise meine ich, die Romane lesen, öffentliche Schaustellungen besuchen, stets auf der Lauer nach Neuigkeiten sind, überhebliche Gesittung und ein „geziertes“ Wesen an den Tag legen (Is 3,16) und bei jeder Gelegenheit mit allerlei guten Gedanken und hohen Gefühlen aufwarten können.
Was würde wohl der Prophet Gottes zu all diesen sagen, die die Feinheiten und Schönheiten der Moral zu Mitteln für schwärmerische Genüsse mißbrauchen? Vernehmet die Worte eines heiligen Ezechiel, jenes strengen, derben Gottesmannes, eines echten Heiligen inmitten eines zügellosen, eingebildeten Volkes: „Aber, Menschensohn, die Söhne deines Volkes reden von dir an den Mauern und an den Haustüren und sprechen, einer zum andern, der Mann zu seinem Nebenmann: Kommet und lasset uns hören, was das für ein Wort sei, das vom Herrn ausgeht. Und sie werden zu dir kommen wie Volk, das sich versammelt, und werden sich setzen vor dir als Mein Volk und dein Wort anhören, aber nicht danach tun; denn zu einem Spott-liede machen sie’s in ihrem Munde, während ihr Herz ihrem Geize nachjagt; wie ein Lied zu singen bist du ihnen, das mit süßem lieblichem Tone man singt; sie hören deine Worte, aber sie tun nicht danach“ (Ez 33,30-32).
Oder denket an die Worte des heiligen Paulus, die noch eindrucksvoller sind, da er selbst ein Mann von Wissen und Bildung war und bei geeigneter Gelegenheit seine Freude hatte an einer Tätigkeit, wie sie aus Wissen und Bildung entspringt: „Predige das Wort, halt an damit, es sei gelegen oder ungelegen, rüge, bitte, strafe in aller Geduld und Lehrweisheit, denn es wird eine Zeit kommen, da sie die gesunde Lehre nicht ertragen, sondern nach ihren Gelüsten sich Lehrer über Lehrer nehmen werden, welche die Ohren kitzeln, und von der Wahrheit werden sie das Gehör abwenden, zu den Fabeln aber hinwenden“ (2 Tim 4,2–4). „Seid wachsam, steht fest im Glauben, handelt männlich und seid stark“ (1 Kor 16,13).
Newman John Henry, Pfarr- und Volkspredigten, DP II, 30, Schwabenverlag, Stuttgart 1950, 405-416.