1. Predigt, 19. Juli 1829
„Da hob Lot nun seine Augen auf und sah, daß die ganze Jordanebene überall wohl bewässert war, ehe der Herr Sodoma und Gomorrha zerstörte, gleich dem Garten Eden und wie Ägypten gegen Segor hin. Und Lot wählte für sich die ganze Jordanebene“ (Gn 13, 10. 11).
Die Lehre, die man aus der Geschichte Abrahams und Lots ziehen kann, ist offensichtlich folgende: nur eine klare Erfassung des Unsichtbaren, ein schlichtes Vertrauen auf Gottes Verheißungen und die daraus erstehende Geistesgröße kann uns zu einem Tun bewegen, das über der Welt ist — gleichgültig nämlich oder fast gleichgültig gegen ihre Behaglichkeiten, Vergnügungen und Freundschaften; mit anderen Worten, der Besitz ihrer Güter befleckt den gewöhnlichen Lebensweg selbst der religiösen Menschen. Lot verließ ebenso wie Abraham sein eigenes Land „im Glauben“, im Gehorsam gegen Gottes Geheiß. Gleichwohl wurde bei einer weiteren Prüfung, in der Gottes Wille nicht so klar hervortrat, der eine „ohne Makel und Runzel“ erfunden, der andere dagegen „wurde gerettet so wie durch Feuer“ (Eph 5, 27; 1 Kor 3,15). Abraham wurde der „Vater aller Gläubigen“ (Röm 4, 1); Lot dagegen trübte die besondere Erwartung des an ihn ergangenen Rufes — er schmälerte die Vorrechte seiner Erwählung — eine Zeitlang nahm er sich, wie man das heute in einem christlichen Land beobachten kann, die Freiheit, es der Menge gleichzutun, die bis zu einem gewissen Grade religiös, aber in ihrem Leben unbeständig ist und nicht nach Vollkommenheit strebt.
Seine Geschichte läßt sich in drei Abschnitte einteilen: — erstens, von der Zeit seines Wegganges aus Haram zusammen mit Abraham bis zu ihrer Trennung; dann von seiner Niederlassung in den (sogenannten) Städten der Ebene, deren eine Sodoma war, bis zu seiner Gefangennahme und Befreiung; endlich von seiner Rückkehr nach Sodoma bis zu seiner Flucht von dort ins Gebirge unter der Führung des Engels, wo die biblische Geschichte ihn aus dem Auge verliert. Wir wollen das nacheinander betrachten: —
1. Bei ihrer ersten Ankunft im Lande Kanaan hat¬ten Abraham und Lot, wie es scheint, keine göttliche Weisung erhalten, wo sie sich niederlassen sollten. Zuerst kamen sie nach Sichern; von dort zo¬gen sie in die Nähe von Bethel; schließlich trieb sie eine Hungersnot hinunter nach Ägypten. Danach beginnt die Geschichte ihrer Prüfung (denn so muß sie genannt werden).
Abraham und Lot hatten diese Welt preisgegeben auf das Wort Gottes hin, aber es wartete ihrer eine noch schwerere Prüfung. Ist es uns auch nicht leicht, unser Herz der Religion zuzuwenden, so ist es doch leichter, wenn nichts anderes es beschäftigt; ist es auch nicht leicht, irgendeinen entscheidenden Schritt zu tun, der uns aus unserer bisherigen Lebensbahn wirft und uns gleichsam das aufzwingt, wovor wir von Natur aus zurückschrecken würden, so ist das doch leichter, als in hohem Maß die Güter dieser Welt zu besitzen und doch Gott über alles zu lieben. Manch einer könnte wohl seinen irdischen Besitz aus innerem Antrieb opfern; und dann, wenn er wenig hat, was ihn wankend macht, kann er treu an seiner Religion festhalten und Gott beharrlich und wohlgefällig dienen. Natürlich beweisen jene, die solche Opfer bringen, oft darin große Charakter¬stärke, was zweifellos bei Lot der Fall war, als er seine Heimat verließ. Es ist aber noch etwas Größeres, es erfordert einen klareren, festeren und gro߬mütigeren Glauben, umgeben von den Gütern dieser Welt sich selbst zu verleugnen, sich nur als Verwalter von Gottes Freigebigkeit zu betrachten und „treu zu sein in allem“, was uns anvertraut ist (1 Tim 3,1). Darin lag sodann die nächste Versuchung, die beide Patriarchen überkam. Gott gab ihnen Reichtum und Ansehen. Als sie nach Ägypten hinunterkamen, wurde Abraham vom König des Landes ehrenvoll empfangen. Bald darauf heißt es von Abraham, daß er „Schafe, Rinder und Esel, Sklaven und Sklavinnen, Eselinnen und Kamele hatte“; und ferner, daß „Abraham sehr reich war an Vieh, Silber und Gold“, und anschließend, daß „auch Lot … Schafe, Rinder und Zelte hatte“ (Gn 12,16; 13, 2. 5). Die Folge davon war, daß bei ihrer Rückkehr nach Kanaan ihr Gesinde und Vieh zu zahlreich geworden waren für einen einzigen Platz: „Das Land konnte sie nicht fassen, so daß sie hätten zusammen wohnen können; denn ihr Be¬sitz war groß und so konnten sie nicht beieinander bleiben“ (Gn 13,6). Ihre Knechte gerieten infolgedessen in Streit. Jeder Teil trachtete beispielsweise danach, sich die besten Weideplätze und die wasser¬reichsten Brunnen zu sichern. Diese Zwietracht in der auserwählten Familie war natürlich sehr peinlich, waren doch Götzendiener, die Kanaaniter und Phereziter, als Nachbarn Zeugen davon. Daraufhin schlug Abraham eine freundschaftliche Trennung vor und überließ Lot die Wahl der Gegend, in der er sich niederlassen wollte. Hier wurde der Glaube Lots geprüft; wir wollen sehen, wie er seine Prüfung bestand. Es traf sich, daß die äußerst fruchtbare Gegend, die Jordanebene, in der Hand eines lasterhaften Volkes, der Bewohner von Sodoma, Gomorrha und der Nachbarstädte, war. Nun aber war dem Lot der Wohlstand, dessen er sich bisher erfreuen durfte, als Unterpfand der göttlichen Huld gegeben worden, und sein Hauptwert bestand darin, daß er von Gott kam. Aber sicher vergaß er dies und schätzte ihn um seiner selbst willen, als er sich von dem Reichtum und der Schönheit einer verkommenen und zum Untergang verurteilten Gegend anziehen ließ. Der Wohlstand eines gottlosen Volkes konnte nicht als Zeichen der göttlichen Liebe betrachtet werden, sondern den Blick gegen Sodoma richten hieß den Weg der Welt gehen und den Reichtum zum Maß aller Dinge und Lebens¬zweck machen. So besagt der Vorspruch: „Da hob Lot seine Augen auf und sah, daß die ganze Jordan¬ebene überall wohl bewässert war,… gleich dem Garten Eden.. .Und er wählte für sich die ganze Jordanebene … und schlug sein Zelt bis Sodoma hin auf. Aber die Leute zu Sodoma waren böse und sehr große Sünder vor dem Herrn“. Ich sehe nicht, wie wir leugnen können, daß dies ein falscher Schritt im Leben des Patriarchen war, tadelnswert an sich und Anlaß zu den ernstesten Folgen. „Viel lieber will ich Türhüter im Hause meines Gottes sein“, sagt der Psalmist, „als wohnen in der Frevler Zelten“ (Ps 84,11). Jene aber, die ihr Herz daran gewöhnt haben, irdisches Wohlergehen als in sich höchst erstrebenswert zu betrachten, nehmen dieses an, wo immer sie es finden, sei es von Gott gegeben, sei es auch nicht von Ihm. Es kommt ihnen nicht in erster Linie darauf an, von wem es gegeben ist, wenigstens nicht in ihrem innersten Herzen, obgleich sie vielleicht überrascht wären, wenn irgendjemand es ihnen offen sagte. Wenn all dies für Lot nicht voll gilt, so erinnert uns seine Geschichte zum mindesten doch an das, was täglich in Fällen vor sich geht, die ihr äußerlich ähnlich sind. Die Menschen betrachten sich immer noch als treue Verehrer des einen wahren Gottes und glauben es zu sein, während sie gerade in die Sünde fallen, die der Apostel „Götzendienst“ nennt, nämlich in die Liebe und Anbetung eines Geschöpfes an Stelle des Schöpfers.
Mittlerweile ist Abraham ohne jeden irdischen An¬teil geblieben, aber er besaß Gottes Gegenwart als Erbteil; und so bezeugte es Gott. Wie um ihn für seine Selbstlosigkeit zu belohnen, erneuerte Er ihm die schon vorher gemachte Verheißung, ihm einmal das ganze Land verleihen zu wollen, einschließlich sogar des schönen Anteils, den Lot zeitweilig besaß. „Und der Herr sprach zu Abram, nachdem Lot von ihm geschieden war: Heb deine Augen auf und schaue von dem Ort, wo du nun bist, nach Norden, Süden, Osten und Westen. Alles Land, das du siehst, will Ich dir geben und deinem Samen ewig¬lich. Und Ich will deinen Samen machen wie den Staub der Erde. Wenn jemand den Staub der Erde zählen kann, wird er auch deinen Samen zählen können. Mache dich auf und ziehe durch das Land nach seiner Länge und Breite, denn dir will Ich es geben“ (Gn 13,14—17).
2. So endet der erste Abschnitt der Geschichte Abrahams und Lots. — Fahren wir weiter. Gott ist so gnädig, daß Er den Abfall Seiner bevorzugten Diener nicht ohne wiederholte Warnungen zuläßt. Sie können nicht sein „wie die Heiden“, sie werden mit heilsamen Heimsuchungen verfolgt wie Jonas, als er flüchtete. Lot hatte den Wohnplatz von Sündern gewählt, jedoch war er nicht sich selbst überlassen. Ein Unglück wurde ihm gesandt, um ihn zu warnen und zu züchtigen; — wir erfahren allerdings nicht, ob dies die Absicht war, aber wir wissen schon durch die natürliche Einsicht, daß jede Heimsuchung den Sinn hat, uns zu prüfen und zu bessern, und so kann man mit Recht behaupten, daß dies den Zweck der Gewalttat und der Gefangenschaft bildete, denen Lot alsbald ausgesetzt wurde. Sodoma, Gomorrha und die Nachbarstädte, die Chodorlahomor, dem König von Elam, Untertan waren, empörten sich damals gegen ihn. Infolgedessen wurde ihr Land von seinen Streitkräften und denen seiner Verbündeten überrannt. Es kam zu einer Schlacht, in der die Könige dieser Städte besiegt und erschlagen und „ihre Habe und Lebensmittel“ weggeschleppt wurden. Auch Lot fiel mit seinem Besitz in ihre Hände. Ganz unabhängig von religiösen Erwägungen lag so der Nachteil seines Aufenthaltsortes gerade in jener Fruchtbarkeit und in jenem Reichtum, nach denen es ihn gelüstet hatte und die die Aufmerk¬samkeit derer auf sich zogen, die mit Hilfe ihrer Macht auf Raub ausziehen konnten. Abraham wohnte um diese Zeit in der Ebene Mambre. Als er die Nachricht von der Gefangennahme seines Verwandten erfuhr, sammelte er sofort seine eigenen Knechte, über dreihundert an der Zahl, und tat sich mit mehreren Fürsten des Landes zusammen, mit denen er verbündet war. Er verfolgte die Plünde¬rer, überraschte sie bei Nacht, schlug sie in die Flucht und befreite Lot samt seinen Mitgefangenen und all seiner Habe.
Dies, habe ich gesagt, war eine gnädige Warnung an Lot; nicht nur eine Warnung, es scheint auch eine günstige Gelegenheit für ihn gewesen zu sein, seine Verbindung mit den Bewohnern Sodomas zu lösen und sich von dem sündigen Land zu entfernen. Er erkannte jedoch die Gelegenheit nicht. Zwar ist nichts von seiner Rückkehr dorthin in diesem Abschnitt der Geschichte gesagt. In der Erzählung aber, die kurz nachher folgt, finden wir ihn immer noch in Sodoma, wenngleich er nicht in das über Sodoma verhängte Strafgericht einbezogen war; — darüber aber gleich mehr.
Wir wollen uns des Kontrastes halber zuerst Abraham zuwenden. Wie viele Entschuldigungen hätte er sich ausdenken können, wenn er es gewollt hätte, um den Verwandten seinem Unglück zu überlassen! Besonders hätte er sich über die Gefahr und die augenscheinliche Aussichtslosigkeit eines Rettungsversuches verbreiten können. Aber es ist ein Haupt¬merkmal des Glaubens, mehr auf andere als auf sich selbst zu achten. Mit einer kleinen Schar von Gefolgsleuten setzte er kühn den Streitkräften der siegreichen Könige nach, und es gelang ihm, seines Bruders Sohn zu befreien. Beachtet auch, mit welch uneigennützigem und fürstlichem Sinn er nach der Schlacht jeden Anteil an der Beute zurückweist. „Vom Faden bis zum Schuhriemen will ich nichts nehmen“, sagte er zum König von Sodoma und Gomorrha, „und ich nehme nichts von allem, was dein ist, damit du nicht sagest: Ich habe Abraham reich ge¬macht“ (Gn 14,23). Außerdem mochte dieses Vorgehen besonders notwendig sein, um seinen Abscheu vor den Leuten Sodomas und Gomorrhas hervorzuheben; auch war es eine Art Protest gegen ihre Sünden. Sein Verhalten legt einen weiteren Hinweis nahe: — Es war ihm das Land verheißen worden, in dem er jetzt als Fremdling lebte; — er hatte tapfere Scharen, die, wenn auch gering an Zahl, ohne Zweifel für ihn einen hinreichenden Teil erobert hätten, wenn er es gewünscht hätte. Aber er versuchte es nicht, denn er wußte, daß Gott Seinen Plan verwirklichen und Seine Verheißung zu Seiner Zeit erfüllen konnte ohne den Gebrauch unerlaubter Mittel. Waffengewalt wäre zwar nicht unerlaubt gewesen, hätte Gott ihren Gebrauch angeordnet, wie es später der Fall war, als die Israeliten aus Ägypten zurückkehrten. Sie war aber unerlaubt ohne ausdrücklichen Befehl, und Abraham hatte vielleicht eine Versuchung zu überwinden, als er nicht zu ihr seine Zuflucht nahm. In der späteren Geschichte liefert uns das Verhalten Davids gegen Saul ein ähnliches Beispiel geduldigen Wartens. Gott Selbst hatte David das Königtum verheißen; Sauls Leben war mehr als einmal in seiner Hand, aber er hatte nicht im Sinn, zu sündigen und ihm ein Leid anzutun. Gott konnte Seine Verheißung ausführen, ohne daß David „Böses tat, damit Gutes daraus entstehe“ (Röm 3, 8). Dies ist der wahre Geist des Glaubens: Gott dienen, nach Seiner Füh¬rung Ausschau halten und ihr folgen, nicht aber versuchen, Ihm zuvorzukommen.
Kehrte Abraham nun an seinen Ort zurück ohne Belohnung für sein großmütiges und selbstloses Verhalten? Ganz im Gegenteil. Gott erneuerte ihm gnädig als Antwort auf diesen neuen Beweis seines Glaubens das Unterpfand Seiner Huld. Wie Er den Segen erneuert hatte, als Lot zuerst das fruchtbare Land erwählte, so segnete Er ihn jetzt durch den Mund eines großen Priesters und Königs. Lot ging in aller Stille nach Sodoma zurück; — aber Gott sprach zu Abraham durch Melchisedek. „Und Melchisedek, der König von Salem, brachte Brot und Wein; denn er war der Priester des Höchsten Gottes. Er segnete ihn und sprach: Gesegnet sei Abram vom Höchsten Gott, dem Herrn des Himmels und der Erde“ (der Königreiche und Länder verschenken kann, wie Er will), „und gepriesen sei der Höchste Gott, der deine Feinde in die Hände dir gegeben hat“ (Gn 14, 18—20). Wer Melchisedek war, wird uns nicht gesagt. Die Schrift spricht von ihm als einem Vorbild Christi. Auch können wir nicht sagen, wie weit Abraham dies wußte, oder welch besondere Heiligkeit sich mit seiner Person und welche Kraft sich mit seinem Segen verband. Offensichtlich aber war es ein besonderer Huld¬erweis, der Abraham verliehen wurde; und das Brot und der Wein, die nach der Schlacht als Stärkung gebracht wurden, hatten vielleicht etwas vom Wesen eines Sakramentes und vermittelten das Unterpfand der Barmherzigkeit.
3. Wir wollen nun zu den abschließenden Ereignissen in Lots Geschichte übergehen. Der Gewinn dieser Welt ist nur vorübergehend, der Glaube erntet eine späte, aber dauernde Belohnung. Bald darauf stiegen die Engel Gottes hernieder, um in ein und derselben Sendung einen doppelten Zweck zu erfüllen, nämlich Lot seinen irdischen Besitz wegzunehmen und die Vorbereitung zu treffen für die Erfüllung der immerwährenden Segnungen, die Abraham verheißen waren, d. h. Sodoma zu zerstören und zugleich die nahe Geburt Isaaks vorauszusagen. Die Zerstörung der sündigen Städte stand bevor. „Der Herr sprach also: Weil die Klage über Sodoma und Gomorrha groß und ihre Sünde sehr schwer ist, darum will Ich jetzt hinabgehen und sehen, ob sie alle so gehandelt haben, wie die Klage, die zu Mir gedrungen ist, von ihnen meldet oder nicht. Ich will es wissen“ (Gn 18, 20. 21). Und nun wurde die größte Ehrung Abraham zuteil. Gott vertraute ihm die Kenntnis Seines geheimen Planes an und machte ihn dadurch ein zweites Mal zum Befreier Lots aus dem Untergang. Deutlich hob er den Gegensatz zwischen den beiden dadurch heraus, daß der schwache Bruder seine Errettung der Fürsprache dessen verdankte, der sich der Huld Gottes erfreute und sich damit zufrieden gab, ohne irdischen Besitz zu sein. „Und Gott sagte: Soll Ich Abraham verbergen, was Ich tun will? Sehe Ich doch, daß Abraham wahrlich zu einem großen und mächtigen Volk werden soll, und daß alle Völker der Erde in ihm gesegnet werden sollen? Denn Ich weiß, daß er seinen Kindern und seinem Hause nach ihm gebieten wird, den Weg des Herrn zu halten, Recht und Gerechtigkeit zu tun, damit der Herr über Abraham alles kommen lasse, was Er ihm gesagt hat“ (Gn 18,17—19). So durfte Abraham für Sodoma und alle seine Bewohner Fürsprache einlegen. Ich brauche kaum diese feierliche Erzählung durchzugehen, die zweifellos uns allen wohlbekannt ist. Abraham begann mit der Frage, ob nicht fünfzig Gerechte in der Stadt übriggeblieben seien. Er sah sich gezwungen, schrittweise den in ihr vermuteten Rest der Guten zu verringern, bis er auf zehn herunterkam; aber nicht einmal zehn fanden sich, um Gottes Strafgericht aufzu¬schieben. Hier ließ er von seiner Fürsprache ab, vielleicht in Verzweiflung und aus Furcht, gegenüber dieser anbetungswürdigen Barmherzigkeit anmaßend zu sein, deren Tiefe er durchforscht, aber nicht ergründet hatte. Er erwähnte Lots Namen nicht; bei all dem verstand Gott das unausgespro¬chene Verlangen seines Herzens und beantwortete es; denn sofort heißt es: „Es geschah, als Gott die Städte der Ebene zerstörte, daß Gott Abrahams gedachte, und Er ließ Lot aus dem Untergang entkommen, da Er die Städte zerstörte, in denen Lot wohnte“ (Gn 19,29).
Zur Abendzeit kamen zwei Engel nach Sodoma, um aus ihm den anscheinend einzigen Mann zu retten, der in seinem Herzen jenes Empfinden für Recht und Unrecht, das uns von Natur aus gegeben ist, bewahrt hatte, der fortfuhr, auch weiterhin den wahren Gott anzuerkennen, der sich im Glauben und Gehorsam geübt und den gütigen Geist nicht verachtet hatte. Zweifellos gab es eine große Zahl von Kindern in jener Stadt, die nicht mit persönlicher Sünde befleckt waren. Sie wurden in den Untergang ihrer Eltern hineingezogen, wie es heu¬tigentags bei Erdbeben, Feuersbrünsten oder bei Schiffbruch geschieht. Aber von jenen, die „zwischen ihrer rechten und linken Hand unterscheiden“ konnten (Jona 4,11), besaßen nicht zehn (wir wissen es bestimmt), und (wie gefolgert werden darf) nicht einer eine solche Rechtschaffenheit wie Lot. „Alt und jung, das ganze Volk“, „in jedem Bezirk“ (Gn 19, 4), war vor Gott verdorben und deshalb werden sie „als ein Beispiel hingestellt“ dafür, was der Allbarmherzige Gott tun kann, wenn die Sünder Ihn zum Zorn reizen (2 Petr 2,6). „Wir werden diese Stätte vertilgen“, sagten die Engel, „denn die Klage über sie ist groß geworden vor dem Herrn, und der Herr hat uns gesandt, sie zu zer-stören“ (Gn 19,13), „Da es nun Morgen war, drängten die Engel Lot,… führten ihn hinaus und ließen ihn außerhalb der Stadt und sagten: Rette dich, es gilt dein Leben, schau dich nicht um und bleibe nirgends in der ganzen Ebene stehen, fliehe ins Gebirge, damit nicht auch du umkommst“ (Gn 19, 15—17), So wurde Lot ein zweites Mal gewarnt und gerettet. Ob er dadurch zu einer beharrlicheren Rechtschaffenheit gelangte oder zu einem erleuchteteren Glauben, wissen wir nicht. Was nach diesem Ereignis aus ihm wurde, wissen wir nicht. Von seinem weiteren Leben und seinem Sterben wird uns nichts erzählt, die heilige Geschichte bricht plötzlich ab. Das allein wissen wir, daß seine Nachkommen, die Moabiter und Ammoniter, die Feinde der Nachkommenschaft Abrahams, seines Freundes und Ver¬wandten, des auserwählten Dieners Gottes, waren; besonders da jene sie zu der Art des Götzendienstes und der Sinnlichkeit verleiteten, der zu widerstehen die auserwählte Familie abgesondert war. Hätte Gott nicht in Barmherzigkeit durch den Mund des heiligen Petrus den Ausspruch des Weisen in den Apokryphen bestätigt, daß Lot „gerecht“ war (2 Petr 2, 7. 8), wir hätten Grund gehabt zu zweifeln, ob er nicht abgefallen sei.
Ohne harte Urteile zu fällen über einen, den die Schrift so ehrt, können wir doch wenigstens aus dieser Geschichte eine nützliche Lehre für uns ziehen. Bedauernswert wird das Los der Zwiespältigen sein, jener, die diese Welt so sehr lieben, daß sie dieselbe nicht aufgeben wollen, obwohl sie glauben und anerkennen, daß Gott es ihnen gebietet. Nicht als gestünden sie sich ein, daß ihr Herz an ihr hängt. Sie verstehen es, diese Tatsache durch blendende Entschuldigungen vor sich zu verbergen, und betrachten sich als religiöse Menschen. Meine Brüder, nehmt es nicht für ausgemacht, daß eure Geisteshaltung viel besser ist als die, welche ich eben beschrieben und verurteilt habe; ja, daß sie nicht schlimmer ist als sie. Ihr seid zwar in ein Zeitalter gestellt, das durch äußeren Anstand sich auszeichnet, in dem es keine Versuchungen zu den häßlicheren Arten der Sünde gibt, sondern das euch vielmehr davon abschreckt. Aber beantwortet diese eine Frage und entscheidet dann, ob diese Zeit nicht Lots Beispiel folgt. Es möchte scheinen, daß er mehr an den Reichtum als an die Sünden der Städte in der Ebene dachte. Betrachtet einmal ohne Voreingenommenheit die Einstellung dieses Landes. Gibt es da einen Platz, gibt es Personen oder ein Werk, mit denen unsere Landsleute nicht Handels- oder Geschäftsverbindungen eingingen? Mißachten wir nicht um des Gewinnes willen alles grundsätzliche Denken als unzeitgemäß und fast widersinnig? Es ist mir nicht möglich, auf diese Frage näher einzugehen, ohne Einzelheiten zu berühren, die für diesen heiligen Ort unpassend sind. Versuchet aber selbst, weiter zu verfolgen, worauf ich in allgemeinen Worten hinweise. Gibt es im Handel eine Spekulation, bei der die Religion hemmend dazwischentreten dürfte? Schreckt es uns im geringsten ab, ob ein Jude, ein Heide oder ein Irrgläubiger unser Ge¬schäftspartner ist? Kümmert es uns, welche Stellung wir einnehmen bei einem Streit, mag er bürgerlicher, politischer oder internationaler Art sein, wenn wir nur dabei gewinnen? Führen wir nicht Krieg, werden wir nicht geschickte Verteidiger und Anwälte, bilden wir nicht Gesellschaften und Parteien mit dem einen höchsten Ziel, Eigentum zu erhalten oder zu erwerben? Unterstützen wir nicht die Religion um den Friedens und der guten Ordnung willen? Bemessen wir nicht ihre Bedeutung nach der Wirksamkeit, mit der sie diese Güter sichert? Unterstützen wir sie nicht nur soweit, als sie dieselben sichert? Beschneiden wir nicht alle Ausgaben für ihren Unterhalt, die nicht notwendig sind, um jene zu sichern? Würden wir uns nicht sehr lau gegen die geltende Religion verhalten, wenn wir nicht dächten, daß die Sicherheit des Besitzes eng mit ihrer Wohlfahrt verknüpft sei? Würden wir nicht leichthin ihren Sturz zulassen, könnte uns bewiesen werden, daß sie den Staat gefährde, die Gefahr bürgerlicher Wirren nach sich ziehe oder der Regierung im Wege stünde? Ja, würden wir nicht geradezu ihrem Sturz beistimmen, um den Preis der Vereinigung aller Parteien im Volk, der Befriedung unruhiger Gegenden und der Festigung unseres öffentlichen Ansehens? Ja noch mehr, würden wir uns nicht leicht dazu verstehen, eher den Antichrist zu unterstützen, ich will nicht sagen daheim, aber wenigstens im Ausland, als daß wir einen Teil der Fracht verlieren würden, die uns „die Schiffe von Tharsis“ bringen? Falls dies irgend¬wie zutrifft, wie vergeblich ist es dann, sich hinter der Vorstellung zu bergen, wie es die Art mancher ist, daß wir ein sittliches, entgegenkommendes, besonnenes und religiöses Volk sind! Lot wird vom heiligen Petrus „gerecht“ genannt, er wird vom heiligen Paulus als „gastfreundlich“ bezeichnet. Zweifellos bekannte er die Wahrheit unter den verkommenen Einwohnern der Städte, in denen er wohnte. Die Lichtstrahlen, die jene Apostel über seine Geschichte ausgössen, sind überaus tröstlich und freundlich, nachdem wir den traurigen Bericht im Buch Genesis gelesen haben. Wer würde trotz all dem noch gern bereit sein, die Sünde Lots auf sich zu nehmen, obwohl es klar ist, daß Gott ihn nicht verlassen hat? Wenn wir gerettet werden sollen, so geschieht es bestimmt nicht dadurch, daß wir uns gerade noch über der Grenze der Verwerfung halten und ohne jede Besorgnis leben und ohne uns zu mühen, Gott mit einem vollkommenen Herzen zu dienen. Wahrhaftig, wenn Christen gerettet wer¬den sollen, so muß mindestens ihre Gerechtigkeit ganz anders sein als jene, die nur einen kleinen Überrest von Gnade zeigte in einem, der kein Christ war. Wenn Christen gerettet werden sollen, so müssen sie gründlich die Liebe zu den Vergnügungen, Bequemlichkeiten, Genüssen und Ehren dieser Welt aufgegeben haben. Sicher kann niemand in Wirk¬lichkeit ein Christ sein, der seine weltlichen Interessen zum Hauptziel seines Handelns macht. Ein Mensch kann in einem bestimmten Maß bösartig, empfindlich, stolz, grausam oder sinnlich und dabei doch ein Christ sein, denn die Leidenschaften gehören zu unserer niederen Natur. Sie sind unberechenbar, erheben sich spontan, müssen von unserer Vernunft beherrscht werden und sie werden schließlich (durch Gottes Gnade), wenn auch nur allmählich, gedämpft. Aber was soll man sagen, wenn das urteilende und leitende Vermögen, die Kraft, die will und regiert, erdwärts gerichtet ist? „Wenn das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie groß ist dann diese Finsternis!“ (Mt 6, 23).
Gott allein weiß, wie weit diese Ausführungen sich auf jeden von uns beziehen. Ich will nicht wagen, sie auf diesen oder jenen Menschen anzuwenden. Wo ich es aber könnte, ziehe ich es vor, meinen Geist von diesem Gegenstand abzuwenden. Der Gedanke ist zu ernst, zu furchtbar, um dabei zu verweilen. Aber ihr, meine Brüder, müßt tun, was ich nicht tun darf. Es ist eure Pflicht, sie auf euch anzuwenden. Ihr alle, die ihr es noch nie getan habt, zögert nicht, euch die schlimme und peinlich überraschende Möglichkeit vorzustellen, daß ihr um¬sonst hofftet, „da ihr die gegenwärtige Welt geliebt habt“ (2 Tim 4,10). Geht in euch und stellt sie euch vor Augen; und zwar in der Gegenwart Christi, eures Erlösers — in jener Gegenwart, die euch zugleich beschämen, aber auch ermutigen wird, auf Verzeihung zu hoffen, wenn ihr euch ernstlich zu Ihm wendet, um sie zu erhalten.
Newman John Henry, Pfarr- und Volkspredigten, DP III, 1, Schwabenverlag, Stuttgart 1951, 9-24.