11. Predigt, 3. Mai 1835
„Ich ersetze an meinem Fleische, was noch mangelt an den Leiden Christi für Seinen Leib, welcher die Kirche ist“ (Kol 1, 24).
Unser Herr und Heiland Jesus Chri¬stus kam durch das Blut wie durch das Wasser, nicht nur als Born der Gnade und Wahrheit – die Quelle geistigen Lichtes, Glückes und Heiles -, sondern auch als ein Kämpfer gegen Sünde und Satan, der durch „Leiden Gott geweiht“ wurde (Hebr 2,10) . Er war, wie der Prophet Ihn gezeichnet hatte, „rot in Sei¬nem Gewand, und Seine Kleider waren wie die der Keltertreter“ (Is 63, 2), oder nach den Worten des Apostels: „Er war angetan mit einem Kleid, das in Blut getaucht war“ (Offb 19,13). Die unsäg¬lichen Leiden des Ewigen Wortes in unserer Natur, Seine verrenkten und zerfetzten Glieder, Sein ver¬gossenes Blut, die gewaltsame Trennung Seiner Seele durch einen schmerzlichen Tod, das alles war es, was uns vom Zorn Dessen befreite, der Ihn in Liebe gerade zu diesem Zweck sandte. Dies allein war unsere Sühne; niemand hatte an dem Werk Anteil. Er „trat die Kelter allein und aus den Völ¬kern war niemand bei Ihm“ (Is 63, 3). Als Er an dem verfluchten Holz erhöht wurde, kämpfte Er mit allen Horden des Bösen und siegte durch Leiden.
So fließt alles in einer überaus geheimnisvollen Weise aus einem Quell von Blut, alles, dessen diese sündige Welt bedarf, das Leben unserer Seelen, die Wiederherstellung unserer Natur, alles, was höchst beglückend und herrlich ist, Hoffnung, Licht, Friede, geistige Freiheit, heilige Einsprechung, religiöse Erkenntnis und Kraft. Ein Werk des Blutes ist un¬sere Erlösung; und wir, die wir gerettet werden möchten, müssen uns Ihm nahen, es im Glauben anblicken und als unseren Weg zum Himmel an¬nehmen. Wir müssen Ihn, der auf diese Weise litt, zu unserem Führer erwählen; wir müssen Seine heiligen Füße umfangen und Ihm folgen. Kein Wunder daher, daß wir einige Tropfen des hei¬ligen Angstschweißes empfangen, der Seine Klei¬der betaute; kein Wunder, daß wir besprengt wer¬den mit den Leiden, die Er zur Sühne für unsere Sünden trug!
So ist es tatsächlich immer gewesen; sich Ihm nahen hieß von Anfang an, mehr oder weniger Teil¬nehmer an Seinen Leiden sein; ich will das nicht von jedem einzelnen behaupten, der an Ihn glaubt, wohl aber von den Hervorragenderen, den Begna¬deteren, Seinen auserlesenen Werkzeugen und eif¬rigsten Dienern; d. h. es ist im großen ganzen das Los der Kirche und derer gewesen, die Ihm am meisten geglichen haben als Hirten, Priester und Lehrer der Kirche. Freilich, Sein Leiden war die alleinige Verdienstursache; sie litten, weil sie Ihm nahestan¬den. So brachte Er unmittelbar nach Seiner Geburt über die gleichaltrigen Kinder zu Bethlehem das Schwert. Selbst Sein Schatten, der auf eine Stadt fiel, wo Er sich nicht mehr aufhielt, trug Spuren des Blutes an sich. Seine gebenedeite Mutter hatte Ihn kaum einige Wochen an ihre Brust gedrückt, als sie an den Preis jenes erhabenen Vorrechtes gemahnt wurde mit den Worten: „Ja, ein Schwert wird deine eigene Seele durchdringen“ (Lk 2, 35). Kraft ging von Ihm aus; aber zugleich mit dem Wasser floß auch das Blut, wie später aus Seiner durchbohr¬ten Seite. Aus den Kindern, die Er auf Seine Arme nahm, um sie zu segnen, soll einer der bedeutend¬sten Märtyrer der folgenden Generation hervor-gegangen sein. Die meisten Seiner Apostel gingen durch ein Leben des Leidens einem gewaltsamen Tod entgegen. Als die bevorzugten Brüder, Jako¬bus und Johannes, mit der Bitte zu Ihm kamen, sie möchten in Seinem Reich an Seiner Seite sitzen, betonte Er besonders klar diesen Zusammenhang zwischen Seiner Nähe und dem Leiden, „Könnt ihr“, sagte Er, „den Kelch trinken, den Ich trinke, oder euch mit der Taufe taufen lassen, womit Ich getauft werde?“ (Mk 10, 38). Damit wollte Er sagen: „Ihr könnt die Sakramente der Gnade nicht empfangen ohne ihre Leidenszeichen. Das Kreuz wird, euch auf die Stirne gezeichnet, Blut ziehen. Ihr werdet zwar die Geistestaufe und den Kelch Meiner Gemein¬schaft empfangen, aber es werden ihnen Mein Lei¬denskelch und Meine Bluttaufe als Unterpfand fol¬gen.“ Anderswo spricht Er dieselbe Sprache allen gegenüber, die an den Segnungen Seines Leidens und Sterbens teilnehmen wollen: „Wer sein Kreuz nicht trägt und Mir nicht nachfolgt, der kann Mein Jünger nicht sein“ (Lk 14, 27).
Demgemäß erinnern uns Seine Apostel häufig an diese notwendige, wiewohl geheimnisvolle Anord¬nung und ermahnen uns: „Lasset euch die Feuer¬probe, die euch zur Prüfung widerfährt, nicht be¬fremden, als widerfahre euch etwas Seltsames, son¬dern freuet euch, daß ihr an Christi Leiden teil nehmen dürft“ (1 Petr 4,12.13). St. Paulus erteilt uns die gleiche Lehre im Vorspruch, wenn er darin sagt, was an Christi Leiden noch ausstehe, sollen wir aufnehmen wie einen kostbaren Mantel, der vom Kreuz fiel, und ihn um Seinetwillen tragen. „Ich freue mich in meinen Leiden für euch, und er¬setze an meinem Fleisch, was noch mangelt an den Leiden Christi für Seinen Leib, welcher die Kirche ist“ (cf 2 Kor 4,10). Zwar spricht er von Verfolgung und anderen um des Evangeliums willen ertragenen Leiden, aber es ist unser großes Vorrecht, wie die Schrift uns lehrt, daß jede in Glauben und Geduld ertragene Pein und Drangsal als Merkmal Christi, als Gnadenzeichen des abwesenden Erlösers angesehen und um Seinetwillen am Jüngsten Tag angenom¬men und gelohnt wird. Die Schrift erklärt ganz all¬gemein: „Wenn du durch Gewässer gehst, will Ich bei dir sein, und die Ströme werden dich nicht decken; wenn du im Feuer gehst, wirst du dich nicht verbrennen, und die Flamme wird dich nicht sen¬gen“ (Is 43, 2). „Unsere gegenwärtige Trübsal, die augenblicklich und leicht ist, bewirkt eine über¬schwengliche, ewige, alles überwiegende Herrlich¬keit in uns“ (2 Kor 4,17).
So hat das Evangelium, das in so mancher Hinsicht Licht über die Lage dieser Welt ausgegossen hat, besonders unseren Blick geöffnet für die Leiden, denen die menschliche Natur unterworfen ist. Es verwandelt die Strafe in ein Vorrecht. Das gilt von jeglichem Leiden, besonders aber vom körperlichen, das wohl das geheimnisvollste von allen ist. Kum¬mer, Angst und Verdruß sind mehr oder weniger mit Sünde und Sündern verknüpft; körperliches Leiden aber ist zum größten Teil unfreiwillig, zieht sich nach einem äußeren, unwiderstehlichen Gesetz über die Welt hin, erfaßt Kinder, die nie persönlich gesündigt haben, und die unvernünftigen Tiere, die an der Natur Adams nicht teilhaben, und verur¬sacht zugleich durch seine Erscheinungsformen weit mehr Mitleid und Qual als jedes andere Leiden. Es ist früher oder später unser aller Los; und das viel¬leicht in einem Ausmaß, das sich vorzustellen er¬schreckend und verkehrt wäre, mag es nun von Krankheit oder Unglücksfällen herrühren. Und wir alle müssen schließlich sterben; der Tod wird aber gewöhnlich durch eine Krankheit eingeleitet und endet in jener Trennung von Seele und Leib, die in sich bisweilen einen besonderen Schmerz mit sich bringen mag.
Weltlich gesinnte Menschen tun solche Gedanken als düster beiseite; sie können das, was ihnen bevor-steht, weder leugnen noch abwenden; und nach ihren eigenen Grundsätzen handeln sie weise, wenn sie sich die Gegenwart nicht durch die Gedanken an die Zukunft verbittern lassen. Christen jedoch kön¬nen ohne ungebührliche Furcht den Blick darauf ertragen; denn gerade diese Züchtigung, die das Herz und die Vorstellung am meisten berührt, hat Gott (wie ich sagte) in ein neues und tröstliches Licht gekleidet, da sie uns Seine erlesensten Gna¬den vermittelt. Das Leiden ist nicht mehr ein Fluch, ein notwendiges Übel, dem man sich mit stummer Unterwerfung oder mit blinder Ergebung unter¬ziehen muß. Es kann sogar als eine Segnung des Evangeliums betrachtet werden, und weil es eine Segnung ist, kann man es gut oder verkehrt auf sich nehmen. Seiner Natur nach scheint es aller¬dings den Begriff einer Verpflichtung auszuschließen, wie wenn eine so durch äußere Gewalt auferlegte Züchtigung von der Notwendigkeit oder Nützlich¬keit der Selbstbeherrschung absehen könnte. Nun aber, „da Christus im Fleische gelitten hat“, sind wir gehalten, „uns mit demselben Sinn zu wapp¬nen“ (1 Petr 4,1) , und inmitten der Leiden zu ge-horchen wie Er.
Im folgenden will ich kurz sprechen, erstens über die natürliche Wirkung des Leidens auf den Men¬schen; dann über die Heil- und Besserungsmittel gegen diese Wirkung, welche die Kenntnis des Evangeliums an die Hand gibt.
1. Was die Wirkung des Leidens auf den Menschen angeht, so besitzt es wohlverstanden in sich keinen heiligenden Einfluß. Schlechte Menschen werden dadurch noch schlechter. Dessen müssen wir uns be-wußt sein, damit wir uns nicht selbst täuschen; denn manchmal sprechen wir so (wenigstens tun es die Armen oft), als wären gegenwärtige Mühsale und Leiden in sich gewissermaßen ein Grund des Ver¬trauens auf das, was uns im Jenseits erwartet, sei es, daß sie unsere Sünden sühnen oder unsere Her¬zen näher zu Gott bringen. Ja, selbst die Frömme¬ren unter uns lassen sich leicht zu der Meinung ver¬leiten, das Leiden mache sie besser, als es wirklich der Fall ist; denn seine Wirkung besteht überall, ausgenommen bei sehr stolzen und unbeugsamen Naturen, schließlich darin, daß es eine geistige Er¬schlaffung und Müdigkeit verursacht, die wie Er¬gebung aussieht, während es doch unsere Vernunft auf den besonderen Gedanken an Gott hinlenken müßte, unseren einzigen Halt in solchen Zeiten der Prüfung. Zweifellos ist es für den Christen ein wahrer Segen und das in nicht geringem Maß; und er mag Gott danken, der es so zum Segen macht. Nur möge er sich davor hüten, zu solchen Zeiten seinen geistlichen Zustand an der besonderen Übung von Glaube und Liebe in seinem Innern zu messen, vor allem wenn diese Übung auf Gefühle be-schränkt ist und keine Möglichkeit hat, sich in Wer¬ken zu zeigen. Der heilige Paulus spricht von der Züchtigung, „die in der Folge eine friedensreiche Frucht der Gerechtigkeit bringt“ (Hebr 12,11), eine Frucht, die zwar in diesem Augenblick sich bildet und heranreift, aber erst zu ihrer Zeit sichtbar wird. Hierin besteht wohl die wirkliche Frucht der Leiden auf dem Sterbebett, wenngleich die Zeit nicht rei¬chen mag, sich anderen zu offenbaren, bevor der Christ von hinnen scheidet. Denn sicher dürfen wir demütig hoffen, daß das Leiden Tugenden vervoll¬kommnet, die bisher nur teilweise geformt waren, und die verschiedenen Gaben des Geistes zu größe¬rer Einheit verschmelzt. Dieser Art ist seine Wir¬kung bei gefestigten Christen; — aber es ist auch möglich, daß seine Wirkung nicht so segensvoll ist. Ja, bei solchen, die Christus nur mit halbem Herzen gefolgt sind, kann es für ihre Schwachheit eine zu starke Probe sein, und sie überwältigen. Das ist ein furchtbarer Gedanke für jene, die den Tag der Buße hinausschieben. Unsere Kirche tut gut daran, für uns zu beten: „Laß nicht zu, daß wir in unserer letzten Stunde aus Todesschmerzen von Dir ab¬fallen!“ Wie das Leiden auf Ungläubige einwirkt, wissen wir aus solch ernsten Schriftstellen, wie den folgenden: „Sie zerbissen ihre Zungen vor Schmer¬zen und lästerten den Gott des Himmels über ihren Schmerzen und ihren Wunden, und taten nicht Buße von ihren Werken“ (Offb 16,10.11).
Ja, ich möchte so weit gehen und behaupten, daß Leiden uns gewöhnlich nicht nur nicht bessert, son¬dern daß es, wenn man nicht auf der Hut ist, stark darauf hindrängt, unseren Seelen zu schaden, weil es uns selbstsüchtig macht; das ist eine Wirkung, die sich einstellt, auch wenn es uns in anderer Hinsicht fördert. So macht z. B. schwächliche Gesundheit, an¬statt das Herz zu weiten, den Menschen äußerst be¬sorgt um sein leibliches Befinden und Wohlergehen. Die Menschen finden in ihrer Krankheit eine Ent¬schuldigung dafür, daß sie außergewöhnlich auf ihr Behagen bedacht sind; sie glauben, bei allen Ge¬legenheiten berechtigterweise das eigene Wohl¬befinden eher als das anderer berücksichtigen zu dürfen. Sie geben ihren launischen Wünschen nach, sie überlassen sich der Trägheit, wenn sie sich wirk¬lich anstrengen könnten, und glauben, sie dürften reizbar sein, weil sie kränklich sind. Sie werden mürrisch, eigenwillig, überdrüssig und selbstsüch¬tig. Die Umgebung sollte freilich sehr vorsichtig sein mit dem Gedanken, jeder einzelne Kranke sei so gesinnt, denn Kranke haben schließlich viele Ge¬fühle, die sie keinem anderen klarmachen können, und oft haben sie recht in den Dingen, in denen sie anderen sehr wunderlich und unvernünftig erschei¬nen. Doch tut das im großen ganzen der Richtigkeit meiner Ausführungen keinen Eintrag.
Nehmen wir einen weiteren, ganz anders gelager¬ten Fall. Wenn man körperliches Leiden unter verschiedenen Gesichtspunkten darstellen kann, so mag dies zutreffen für die Mattigkeit des Kranken-bettes und für die Strapazen des Soldatenlebens. Beim letzteren begegnet uns eine Selbstsucht, die nahezu sprichwörtlich geworden ist. Sicher ist der Soldatendienst eine wirkliche Schule der Hoch¬herzigkeit und Selbstlosigkeit, wenn er richtig auf¬gefaßt wird, und als solcher wird er auch von edlen und hochgesinnten Naturen ausgeführt; doch wird ein niedriger und irdischer Geist, anstatt diese Vor¬teile zu nützen, hier der Versuchung nachgeben, alles, was ihm begegnet, auf sein Wohlbefinden und seinen Nutzen zu beziehen. Das Bestreben, seine persönlichen Interessen zu sichern, wird zur Hauptsache gemacht, und das mit um so größerer Selbstverständlichkeit, weil es eine Lebensauffas¬sung gibt, die dem entspricht. Diese Auffassung gibt zu verstehen, daß andere für sich selbst sorgen müssen; daß es Torheit und Schwäche ist, an sie zu denken; daß es nur wenige Möglichkeiten gibt sich zu retten; daß die meisten leiden müssen, manche bis zum Tod; daß es Klugheit verrät, um Leben und Wohlergehen zu kämpfen und den Gedanken an andere auszuschlagen. Ach, es kommen dann und wann Fälle im praktischen Leben vor, die beweisen, daß solche Gedanken und Gefühle nicht einer be¬sonderen Klasse von Menschen eigen, sondern das Leitmotiv der Menge sind. Wenn inmitten einer Menge ein Warnungszeichen gegeben wird, so treibt das allgemeine Verlangen nach Sicherheit die Menschen dazu an, gegeneinander mit aller Rück¬sichtslosigkeit vorzugehen, wenn nicht gar mit wil¬der Grausamkeit. Es gibt Erzählungen von Schiffs¬besatzungen, die sich mit kargen Vorräten auf See befanden, und von den Schreckenstaten, die folg¬ten, wenn jeder darum kämpfte, sein Leben zu er¬halten.
Die natürliche Wirkung von Leiden und Furcht ist die, daß wir nur noch unsere eigene Person im Auge haben, die Gedanken auf uns selbst richten und selbstsüchtig werden. Der Schmerz ist es haupt¬sächlich, der uns der körperlichen Organe bewußt werden läßt; ein Körper ohne Schmerzempfinden ist gleichsam ein Ganzes ohne Teile und versinnbildet jenen künftigen geistigen Leib, welcher der Anteil der Seligen ist. Diesem Zustand nähern wir uns am meisten in der Jugend, in der wir nicht wahrnehmen, daß wir aus grobem, irdischem Stoff gebaut sind, wie uns die fortschreitenden Jahre be¬weisen. Junge Menschen denken kaum über sich selbst nach; sie blicken um sich und verweilen draußen. Sie sagen, sie hätten eine Seele, verstehen aber kaum ihre eigenen Worte: „Sie freuen sich ihrer Jugend.“ Die Wirkung des Leidens besteht also darin, daß es uns Einhalt gebietet, daß es so¬zusagen einen Finger auf uns legt, um uns unsere persönliche Verfassung zum Bewußtsein zu bringen. Aber es bewirkt nicht mehr als das; wenn uns eine solche Warnung durch die Regung des Gewissens nicht himmelwärts führt, so kapselt es uns ein und macht uns selbstsüchtig.
2. Hier also ist der Ort, wo das Evangelium uns be¬gegnet, uns, als den Erben einer Heimsuchung, die früher oder später über uns kommt, unsere Ge¬danken von äußeren Dingen abkehrt und uns zur Selbstvergötterung versucht, zur Mißachtung jenes Gottes, den wir anbeten sollten, und zur Vernach-lässigung des Nebenmenschen, den wir wie uns selbst lieben sollten. So findet es uns, aber es begeg¬net dieser Gefahr nicht dadurch, daß es das Leiden beseitigt, sondern ihm neue Beziehungspunkte gibt. Das Leiden, das uns von Natur lediglich zu uns, selbst führt, trägt den Geist des Christen weiter fort von dem Gedanken an sein Selbst und lenkt ihn hin zur Betrachtung Christi, Seines Leidens,. Seiner Verdienste und Seines Beispiels; und dann weiter zu jener geeinten Schar der Dulder, die Ihm. nachfolgen und das „sind, was Er in dieser Welt war“ (1 Jo 4,17) . Er ist der große Inhalt unseres Glaubens; und während wir auf Ihn hinblicken, lernen wir uns selbst vergessen. Sicher gehört das körperliche Leiden, das Christus freiwillig auf Sich nahm, wie sehr es auch dem Fleische zusetzen mochte, nicht zu den schrecklich¬sten und hassenswertesten unter den Übeln hienieden. Auch wählt niemand das Übel um seiner selbst, sondern um des größeren Gutes willen, das daraus entspringt. So unterzog Er Sich ihm um höherer Ziele als um seiner unmittelbaren Beseitigung wil¬len, „nicht mit Unlust oder aus Zwang“ (2 Kor 9,7), sondern freudig Gottes Willen erfüllend, wie die Evangelien uns berichten. Als Seine Zeit gekom¬men war, heißt es, „richtete Er Sein Angesicht un¬verwandt nach Jerusalem“ (Lk 9, 51). Seine Jünger sagten: „Meister, eben wollten Dich die Juden stei¬nigen, und Du gehst wieder hin?“ (Joh 11, 8), aber Er bestand darauf. Ferner sagte Er zu Judas: „Was du tun willst, das tue bald“ (Joh 13, 27). Er ging zum Garten jenseits des Kedron, obwohl Judas den Ort kannte; und als die Schar der Knechte kam, um Ihn gefangenzunehmen, „trat Er hervor und sprach zu ihnen: Ich bin es“ (Joh 18, 2. 4. 5). Und mit welcher Gelassenheit und Majestät ertrug Er Seine Leiden, als sie über Ihn hereinbrachen, obwohl Er bei Seiner Todesangst im Garten bewies, daß Er ihre Bitterkeit durchaus fühlte! Der Psalmist sagt sie voraus mit den Worten: „Wie Wasser bin ich aus¬gegossen, und aufgelöst sind alle meine Gebeine; mein Herz ist wie geschmolzenes Wachs“ (Ps 21, 15); er beschreibt, wie es scheinen möchte, jenes Sinken des Mutes und jene Nervenschwäche, die heftiger Schmerz verursacht. Doch inmitten der Be¬trübnis, welche die Möglichkeit eines Gehorsams auszuschließen schien, war Er „in dem, was Seines Vaters ist“ (Lk 2, 49) sogar eifriger als zu jener Zeit, da Er in Seiner Jugend an die Lehrer im Tem¬pel Fragen stellte; Er dachte nicht daran, Sich nur passiv in der Prüfung zu verhalten, sondern Er be¬trachtete sie als eine größere Gelegenheit zu einer edlen und schmerzvollen Selbsthingabe an den Wil¬len Seines Vaters. So „lernte Er Gehorsam in der Schule des Leidens“ (Hebr 5, 8). Beachtet das tiefe und gelassene Mitleid, das Ihn bewog, für die zu beten, die Ihn kreuzigten; Seine rührende Sorge um Seine Mutter und Seine verzeihenden Worte an den Schacher, der mit Ihm litt. Und so bewies Er bei den Worten „es ist vollbracht“, daß Er immer noch klaren Geistes „Seine Seelenpein betrachtete und satt geworden ist“ (Is 53,11). In der feier¬lichen Hingabe Seiner Selbst in die Hände des Vaters zeigte Er, wo Sein Geist ruhte inmitten Seiner Dunkelheit. Selbst als Er an Sich zu denken schien und sagte: „Mich dürstet“, berücksichtigte Er in Wirklichkeit die Worte der Prophezeiung und war entschlossen, die Ihn betreffenden göttlichen Ankündigungen bis auf den Buchstaben für Sich zu beanspruchen. So sehen wir selbst am Kreuz in Ihm die Barmherzigkeit eines Boten vom Himmel, die Liebe und Gnade eines Heilandes, die Pflicht¬treue eines Sohnes, den Glauben eines geschaffenen Wesens und den Eifer eines Dieners Gottes. Sein Geist vertraute auf den allbeherrschenden Willen und die unendlichen Vollkommenheiten Seines Va¬ters, konnte jedoch mühelos zu der Forderung der Sohnespflicht oder zu der Not eines einzelnen Sün¬ders übergehen. Sechs Seiner sieben letzten Worte waren Worte des Glaubens und der Liebe. Für einen Augenblick aber überwältigte Ihn eine ent¬setzliche Angst, als Er zu fragen schien, warum Gott Ihn verlassen habe. Zweifellos „ist diese Stimme um unseretwillen gekommen“ (Jo 12, 30), wie da, als Er von Seinem Durst sprach, und sie war wie jene der inspirierten Prophezeiung entnommen. Vielleicht sollte sie uns ein Beispiel der besonderen Prüfung vor Augen stellen, der die menschliche Na¬tur unterliegt, was auch immer der wirkliche und unerforschliche Sinn dieser Prüfung in Ihm gewesen sein mochte, der immer schon von der Ihm inne-wohnenden Gottheit getragen wurde; ich meine die Prüfung einer heftigen Todesangst, die den Geist zu bestimmten Schrecken und seltsamen, unerklär¬lichen Gedanken treibt; daher wird sie zu unserem Nutzen in der Leidensgeschichte Dessen huldvoll berichtet, „der in allen Stücken versucht worden ist, ähnlich wie wir, jedoch ohne Sünde war“ (Hebr 4,15).
Derart waren also die Leiden unseres Herrn, die Er freiwillig auf Sich nahm und durch einen leben¬digen Gehorsam adelte; sie sind der Mittelpunkt unserer Hoffnung und Verehrung, sie, die Er ohne selbstischen Gedanken ertrug, einzig Gott und den Menschen zulieb. Und wer von uns verweilt be¬ständig bei ihnen, ohne ganz zwanglos aus inniger Dankbarkeit und anbetender Liebe zu dem Versuch angespornt zu werden, seine eigenen kleineren Prü¬fungen in der nämlichen himmlischen Gesinnung hinzunehmen? Wer sieht nicht, daß Schmerzen gut ertragen soviel heißt wie ihnen mutig begegnen, davor nicht zurückschrecken noch schwanken, son¬dern um Gottes Hilfe bitten, dann ihnen fest ins Auge schauen, alle geistige und körperliche Energie aufbieten, die uns zur Verfügung steht, ihren An¬griff auffangen und ihnen wie einem sichtbaren Feind im Kampf von Mann zu Mann widerstehen (solange uns die Kraft reicht). Wer wird nicht zu¬geben, daß wir, wenn das Leiden uns geschickt wird, sozusagen seine Gegenwart willentlich be¬jahen müssen in der mutigen und entschlossenen Übereinstimmung unseres Willens mit dem Willen Gottes? Ja, wer muß da nicht zugeben, daß mit Christi Leiden vor Augen Schmerz und Trübsal schließlich nicht nur die segensreichsten, sondern sogar die passendsten Begleiter jener bilden, die berufen sind, ihre Früchte zu erben? Die passend¬sten sage ich, nicht weil sie notwendig wären, son¬dern weil sie die höchst natürlichen und geziemen¬den sind, die völlig in Einklang stehen mit der wich¬tigsten unter allen Heilstaten, auf die zu blicken die Kirche berufen ist. Wer nimmt anderseits nicht we¬nigstens wahr, daß all der Flitter und Tand dieser Welt, ihre Aufpeitschungen, ihre erjagten Güter, ihre Erfolge und ihre Triumphe, ihr Pomp und ihre Ausschweifungen nicht zu jener glanzlosen und ernsten Szene passen, die der Glaube immer vor Augen haben muß? Welcher Christ gesteht nicht zu, daß es nicht sein Beruf ist, „wie Könige zu herr¬schen“ und „satt“ zu sein (1 Kor 4,8)? Daher wird er Trost schöpfen in der Stunde der Krankheit, der Trennung oder einer anderen Trübsal, aus dem Gedanken, daß er dann an seinem eigentlichen Platz steht, wenn er Christi ist, in seinem wahren Heim, dem Grab, in das unser Herr gelegt wurde. So tief haben Seine Heiligen das gefühlt, daß sie in Zeiten, da der Kirche Frieden und Sicherheit be¬schieden war, nicht im behaglichen Schoß ausruhen konnten, sondern sich selbst Härten auferlegt haben, damit die Welt sie nicht verderbe. Sie konnten nicht zusehen, wie der vielgeplagte Paulus zu seinen un¬entrinnbaren Trübsalen noch eine selbstauferlegte Züchtigung des Fleisches hinzufügte, und sich den-noch erlauben, behaglich zu leben und jeden Tag kostspielig zu tafeln. Sie sahen das Bild Christi widergespiegelt in Tränen und Blut, in der glor¬reichen Schar der Apostel, dem liebreichen Gefolge der Propheten und dem erlauchten Heer der Mär¬tyrer; sie lasen in der Prophezeiung vom Schicksal der Kirche, „vergleichbar der Frau, die von Gott in der Wüste ernährt wird“ (Offb 12, 6), und von ihren Zeugen, die „in Bußgewänder gehüllt sind“ (Offb 11, 3); und sie konnten nicht glauben, daß sie zu nichts Höherem bestimmt seien, als die Freuden des Lebens zu kosten, mochte deren Genuß noch so unschuldig und mäßig sein. Sie urteilten nicht über ihre Nächsten, sie fühlten sich zu höheren Dingen berufen; ihre eigene Pflichtauffassung wurde ihnen hiefür Bestätigung und Zeugnis. Sie glaubten, daß schließlich Gott in Seiner Liebe sie züchtigen würde, je mehr sie sich selbst schonten. Der Stachel im Fleisch, die Faustschläge Satans, der Verlust ihres Augenlichtes, das war ihr Anteil; und gäbe es auch sonst keinen höheren Gedanken, so mußte ihnen die gewöhnliche Klugheit zeigen, daß sie nicht an dem Zeitpunkt und dem Ausmaß dieser drohenden Heimsuchungen vorbeileben konnten. Nicht aber¬gläubische Furcht oder verzagte Gedanken leiteten sie, noch stürzten sie sich blindlings in schwierige Prüfungen, sondern gelassen und gläubig über¬gaben sie sich in die Hände Dessen, der ihnen in Seinem inspirierten Wort gesagt hatte, daß Trübsal ihre tägliche Nahrung sein sollte, bis sie schließlich einen solchen Widerwillen gegen die Genüsse des Lebens erlangten, daß sie ihnen in ihrer eigenen wirklichen Gnadenfülle unerträglich waren.
Selbst in diesen Tagen, da „das feine Gold matt geworden“ (Klg 4,1) , ist dies die Gesinnung derer gewesen, die wir hochschätzen. Aber so war es vor allem in den ersten Zeiten. Auch jene Apostel, die mehr als ihre Brüder den Faustschlägen der Welt entzogen waren, hatten die gleiche Gesinnung, ge¬rade als wollten sie damit kundtun, daß die Aus¬sicht auf spätere Leiden kein Grund sei, sich von einer gegenwärtigen, selbstauferlegten Zucht zu befreien, sondern sie eher fordere. Der heilige Ja¬kobus der Jüngere war Bischof von Jerusalem und wurde von den ungläubigen Juden, unter denen er unbelästigt lebte, wegen seiner Rechtschaffenheit hoch verehrt. Es heißt, daß er weder Wein noch anderes berauschendes Getränk zu sich nahm, noch das Fleisch von Tieren aß, noch sich die Annehm¬lichkeit des Bades gestattete. „So oft lag er im Tem¬pel auf den Knien, daß sie mager und hart waren infolge seines fortgesetzten Flehens“.2 Auf diese Weise hielt er seine „Lenden umgürtet und seine Lampe brennend“ (Lk 12, 35) für das beseligende Martyrium, das seinen Lauf beenden sollte. Konnte es anders sein? Wie konnte der große Apostel, der nach dem Willen Seines Herrn in der Heimat blieb, „sich mästen“, so sagt er, „noch am Schlachttage“? Wie konnte er essen und trinken und leben wie andere Menschen, solange „die Lade und Israel und Juda in Zelten wohnten“ (2 Sam 11,11) , auf offenem Feld lagerten und die auserwählten Krie¬ger Gottes angesichts des kurzen Triumphes Satans einer nach dem andern fielen? Wie konnte er „auf Erden schwelgen und prassen“ (Jak 5,5), da Paulus und Barnabas, auch Petrus und Johannes unter Schlägen und in Gefängnissen, in Mühen und Ge¬fahren, in Hunger und Durst, in Kälte und Blöße lebten! Stephanus hat das Heer der Märtyrer in Jerusalem selbst eröffnet, auf dem Posten also, auf den gerade er gestellt war. Jakobus, der Bruder des Johannes, war ihm in der gleichen Stadt gefolgt; er kostete als erster der Apostel den Kelch unseres Herrn, den zu trinken er unwissentlich verlangt hatte. Wenn nun dies die Haltung der Apostel war, als sie vorübergehender Sicherheit sich erfreuten, warum ist es nicht die unsere, die wir vollkommen ruhig dahinleben, eben weil wir nicht genügend Glauben haben, um uns die Vergangenheit zu ver¬gegenwärtigen? Wenn wir das Kreuz auf Kalvaria sehen könnten und die Reihe der Dulder, die in den darauffolgenden Zeiten bis aufs Blut widerstanden, wäre es uns dann möglich, bestürzt zu sein, wenn uns Leid erfaßt, oder ungeduldig, wenn es an¬dauert? Wäre es seltsam, wenn wir selbst von einer ganz neuen Plage heimgesucht würden? Wäre es hart, wenn das Kreuz noch so viele Jahre auf Nerv oder Glied drückte, bis die Hoffnung auf Erleich¬terung geschwunden wäre? Wäre es uns fürwahr nicht möglich, mit den Aposteln uns zu freuen, „die Wundmale des Herrn Jesus an unserem Leib zu tragen“ (Gal 6,17)? Und noch mehr: können wir es uns ohne Scham leisten, über das, was nur gewöhn¬liches Leid ist, uns aufzuregen oder zu betrüben, düster oder ängstlich zu werden wegen Unzuträg¬lichkeiten, die nie jene überraschen oder aus der Fassung bringen konnten, die ihren Platz als Die¬ner eines gekreuzigten Herrn überdacht und ver¬standen hatten?
Fassen wir daher mit bereitwilligem Herzen den Entschluß, dem Herrn, unserem Gott, unsere Be-haglichkeiten und Freuden zu opfern, mögen sie auch noch so unschuldig sein, wenn Er sie fordert, sei es zum Nutzen Seiner Kirche oder nach Seiner eigenen unerforschlichen Vorsehung. Leihen wir Ihm ein paar kurze Stunden gegenwärtiger An¬nehmlichkeit, und wir werden das Unsrige mit überreichem Zins am Tag Seiner Ankunft zurück¬erhalten. In der himmlischen Schatzkammer sind jene Opfergaben aufgespeichert, die der Mensch von Natur aus verabscheut: Seufzer und Tränen, Wunden und Blut, Qual und Tod. Die Märtyrer leisteten den ersten Beitrag, und wir alle können ihnen folgen; wir alle, denn jedes Leiden, groß oder klein, kann wie das Scherflein der Witwe im Glauben Dem geopfert werden, der es sandte. Christus gab uns die Weiheformel, als Er, uns zum Vorbild, sprach: „Dein Wille geschehe“ (Mt 26,42) . Fortan dürfen wir uns, wie der Apostel sagt, „rüh¬men in der Trübsal“, als dem Samen der künftigen Herrlichkeit (Rom 5, 3).
Mittlerweile lasset uns in all unserem Leiden nie vergessen, daß, genau gesprochen, unsere eigene Sünde die Ursache davon ist und daß wir uns nur durch Christi Erbarmen an Seine Seite stellen dür¬fen. Wir, die wir Kinder des Zornes sind, werden durch Ihn zu Kindern der Gnade gemacht; und un¬sere Schmerzen — die in sich nur ein Vorgeschmack der Hölle sind — werden durch die Besprengung mit Seinem Blut umgewandelt in eine Vorbereitung für den Himmel.
Newman John Henry, Pfarr- und Volkspredigten, DP III, 11, Schwabenverlag, Stuttgart 1951, 154-171.