Für die Inschrift auf seinem Grabstein wählte der Heilige John Henry Newman (1801-1890) die Worte: „ex umbris et imaginibus in veritatem“ („Aus Schatten und Bildern zur Wahrheit“). Diese Worte charakterisieren sein jahrzehntelanges Suchen und Ringen, aber auch sein stets tieferes Eindringen und überzeugtes Verkünden der objektiven Wahrheit. Im Folgenden möchte ich kurz auf drei Punkte eingehen: auf Newmans persönliches Ringen um objektive Wahrheitserkenntnis, auf die Existenz objektiver Wahrheit und auf den Weg zur objektiven Wahrheitserkenntnis. Es geht in diesem Beitrag nicht um eine erschöpfende Darstellung dieser komplexen Thematik, sondern nur um einige wichtige Grundlinien.
1. Newmans persönliches Ringen um objektive Wahrheitserkenntnis
Aus dem spannenden Leben Newmans möchte ich kurze zwei Episoden herausgreifen, die für das genannte Thema von großer Bedeutung sind. Newman wuchs in einer durchschnittlichen anglikanischen Familie seiner Zeit auf. Seine Mutter war eine fromme religiöse Frau, der Vater bekannte sich zur „Church of England“, hielt sich aber von einem besonderen religiösen Engagement fern. In der Familie Newman begegnete man der Religion mit Ehrfurcht, dogmatische Grundsätze aber kannte man nicht. Entsprechend den religiösen Gewohnheiten der Zeit beschäftigte man sich im häuslichen Rahmen mit der Bibel, aber Religion war mehr eine Sache der Erbaulichkeit als der entschiedenen Suche nach der Wahrheit. Als Jugendlicher geriet Newman durch die Lektüre verschiedener Bücher in den Bannkreis der Aufklärung. So schlitterte er langsam in eine Glaubenskrise. Er begann an der Notwendigkeit von Religion und religiösen Grundeinstellungen zu zweifeln und schrieb später: „Ich erinnere mich (1815 war es, glaube ich) des Gedankens, ich möchte wohl tugendhaft sein, aber nicht fromm. Es lag etwas in der Vorstellung des letzteren, das ich nicht mochte. Auch hatte ich nicht erkannt, was es für einen Sinn hätte, Gott zu lieben“ (Selbstbiographie, 220). Der junge Newman bekannte sich durchaus zu den Idealen der Ehrlichkeit und der Rechtschaffenheit, aber die Bedeutung von religiösen Geboten und Wahrheiten konnte er nicht mehr erkennen. Es trieb ihn in die Richtung eines immanenten Humanismus. In dieser Situation griff Gott durch das Buch eines evangelikalen Autors in sein Leben ein. Newman bezeugte, dass Thomas Scott (1747-1821) und sein Buch Force of Truth eine entscheidende Wende in sein Leben brachte. Die grundlegende Erkenntnis bestand darin, dass es im christlichen Glauben objektive Wahrheit gibt. Der Gewinn dieser Einsicht war für Newman so bedeutsam, dass er sagen konnte: „… sie machte mich eigentlich zum Christen“ (Selbstbiographie, 348). Der Wandel, den der junge Newman vollzog, betraf nicht sein sittliches Leben, sondern sein Denken. Er entdeckte das Dogma. „Von meinem fünfzehnten Lebensjahr an war das Dogma das Fundamentalprinzip meiner Religion, eine andere Religion kann ich mir nicht denken. Religion als bloßes Gefühl ist für mich Traum und Blendwerk“ (Apologia pro vita sua, 71). Wenn Newman hier von „Dogma“ oder „dogmatischen Eindrücken“ spricht, dürfen wir noch nicht sofort an all das denken, was die katholische Tradition darunter versteht. Aber Glaube war von nun an nicht mehr eine bloße Sache von Stimmungen und Gefühlen und ein Impuls zu einem sittlichen Leben, sondern vor allem die Annahme objektiver Wahrheit. Der christliche Glaube beruht auf inhaltlich aussagbarer Wahrheit und nicht nur auf verschiedenen religiösen Meinungen.
Nachdem er mit fünfzehn Jahren erste grundlegende Glaubenswahrheiten angenommen hatte, wie zum Beispiel jene von Gott als dem dreifaltigen, begann eine lange Suche nach der Fülle der Wahrheit. Newman sah die Erneuerungsbedürftigkeit der anglikanischen Kirche. Er bemühte sich ab seinem dritten Lebensjahrzehnt mit anderen theologisch und geistlich gebildeten Mitstreitern um eine wahre Reform der anglikanischen Kirche. Die vom Geist der Kirchenväter inspirierte Erneuerungsbewegung ging unter dem Titel „Oxfordbewegung“ in die Geschichte ein. Dabei kristallisierte sich immer mehr die Frage heraus: In welcher Kirche wird das Erbe der Väter getreu bewahrt? Ab dem Jahre 1839 erfassten Unsicherheit und Zweifel das Herz des gefeierten Führers der Oxfordbewegung. Vier Jahre später legte er zum Erstaunen vieler Menschen in ganz England seine Ämter in der anglikanischen Kirche nieder und zog sich nach Littlemore, einem kleinen Dorf an der Peripherie von Oxford, zurück. Mit Freunden führte er dort eine Art monastisches Leben. Wie schon in all den Jahren zuvor, machte sich Newman das Leben nicht leicht. Er engagierte sich mit ganzer Kraft, um zur inneren Gewissheit zu gelangen. Durch Gebet, Studium und bewusstes periodisches Fasten rang er um die Erkenntnis der Wahrheit. Dieser zum Teil schmerzvolle innere Kampf endete mit der Aufnahme in die katholische Kirche am 9. Oktober 1945. Während ihm die erste Bekehrung im Alter von 15 Jahren die Überzeugung geschenkt hatte, dass es dogmatische Wahrheiten gibt, beinhaltete die Konversion zur katholischen Kirche im Alter von 44 Jahren die ungeteilte Zustimmung zur römisch-katholischen Kirche als der Hüterin der Fülle der Wahrheit. Charakteristisch für Newmans Wahrheitssuche ist die Tatsache, dass sie sich niemals nur als ein intellektueller Prozess vollzog. Sie war stets begleitet von Bekehrung, Gebet, Fasten und der Praxis der christlichen Tugenden.
2. Die Existenz objektiver Wahrheit
Im Jahre 1879 hat Papst Leo XIII das Lebenswerk John Henry Newmans dadurch anerkannt, dass er ihn zum Kardinal kreierte. Anlässlich der Verleihung des Kardinalhutes in Rom hielt Newman berühmt gewordene Biglietto-Rede. In ihr brachte er ein Grundanliegen seiner lebenslangen Bemühungen erneut zur Sprache, nämlich den Kampf gegen den Liberalismus. Was verstand er unter Liberalismus in der Religion? Er erklärte: „Liberalismus in der Religion ist die Lehre, dass es keine positive Wahrheit in der Religion gibt, dass vielmehr ein Glaubensbekenntnis so gut wie das andere ist, und diese Lehre gewinnt täglich an Substanz und Kraft. Er widerspricht der Anerkennung, dass irgendeine Religion wahr ist. Er lehrt, dass alle toleriert werden sollen, aber alle Meinungssache sind. Die geoffenbarte Religion ist nicht eine Wahrheit, sondern ein Gefühl und eine Geschmackssache, keine objektive Tatsache, nicht übernatürlich, und jeder einzelne hat das Recht, sie das sagen zu lassen, was ihm passt“. Newman widersprach mit diesen Worten jener Position, die man heute Relativismus nennen würde. Religion an sich wird nicht abgelehnt, aber jedes religiöse Bekenntnis wird als gleichberechtigt angesehen. Niemand kann und darf behaupten, seine Religion sei wahr. Zugleich hat jeder das Recht, sein „religiöses Menü“ nach eigenem Geschmack zusammenzustellen. Es gibt keine Wahrheit, die für alle Menschen gültig ist, sondern nur eine Wahrheit „für mich persönlich“. Demnach wird auch jedem das Recht zugestanden, im privaten Bereich seine Religion zu praktizieren. Der gesellschaftliche Einfluss religiöser Bekenntnisse oder gar eine Bevorzugung einer Religion vor der anderen im öffentlichen Leben muss vermieden werden. In dieser Spielart des Liberalismus steht die Wahrheit nicht über dem Menschen, sondern der Mensch beurteilt, was Wahrheit ist, auch im Bereich der Religion. Diesem Konzept des religiösen Liberalismus setzte Newman das dogmatische Prinzip entgegen. Er beschrieb es mit folgenden Worten: „Dass es als eine Wahrheit gibt; dass es nur eine Wahrheit gibt; dass religiöser Irrtum an sich unmoralischer Natur ist; dass, wer ihn vertritt – es sei denn unfreiwillig -, sich dadurch schuldig macht; dass das Forschen nach der Wahrheit keine bloße Befriedigung der Neugier ist; dass ihre Erlangung nichts von der Erregung einer Entdeckung hat; dass der menschliche Geist der Wahrheit unterworfen ist, nicht über sie herrscht; dass er verpflichtet ist, statt großspurig über sie zu reden, ihr in Ehrfurcht zu begegnen; dass Wahrheit und Falschheit uns zur Prüfung unseres Herzens vorgesetzt werden… das ist das dogmatische Prinzip, ein Prinzip voller Kraft“ (Entwicklung der Glaubenslehre, 309).
Newman war tief davon durchdrungen, dass die Wahrheit objektiven Charakter hat. In der Auseinandersetzung mit dem Liberalismus, dem Ästhetizismus und dem Rationalismus seiner Zeit bekräftigte er die Objektivität der religiösen Wahrheit. Er wusste, dass die Wahrheit unwandelbar ist. Was wahr ist, bleibt wahr. Es gibt nur eine Wahrheit. Die Wahrheit kann der Wahrheit nicht widersprechen. Welchen Wahrheitsbegriff hatte Newman? Bei den Philosophen des Realismus bedeutet „Wahrheit“ die Wirklichkeit, so wie sie ist. Im Akt des Erkennens überschreitet der Mensch sich selbst und tritt geistig in Berührung mit dem Seienden. In Strömungen der neueren Philosophie, die besonders mit der kopernikanischen Wende Kants hervortritt, wird der Begriff der Wahrheit anders bestimmt. Der Mensch nimmt die Dinge nicht rezeptiv in sich auf, sondern ist im Erkennen ein spontan-tätiges, künstlerisch schaffendes Subjekt. Das Erkennen wird nicht von den Sachen selbst geformt, sondern formt und bestimmt diese. Wahrheit ist nicht eine objektive transzendente, sondern eine subjektiv immanente Größe. Sie ist eine durch die Anschauungsformen und Kategorien geschaffene Wirklichkeit. Welchen Wahrheitsbegriff hatte Newman? Newman gab nie eine Definition, die er immer wieder aufgreifen würde. In den Dubliner Universitätsvorträgen bot es aber eine Art Beschreibung von Wahrheit, die einer Definition sehr nahe kommt: „Wenn wir fragen, was mit Wahrheit gemeint ist, so muss man wohl antworten, dass die Wahrheit Tatsachen und deren Beziehungen meint, die sich ganz ähnlich zueinander verhalten wie Subjekt und Prädikat in der Logik. Alles Bestehende, wie es vom menschlichen Geist erschaut wird, bildet zusammen ein einziges großes System oder eine komplexe Tatsache“ (Idee der Universität, 46). Die Wahrheit meint Tatsachen und deren Beziehungen; die Wahrheit meint das Bestehende, die Wirklichkeit in ihrer Vielfalt und Komplexität, wie der menschliche Geist sie schaut. Damit kommt Newman dem scholastischen Begriff der Urteilswahrheit als „Anpassung des Verstandes an die Wirklichkeit“ sehr nahe. Im Unterschied zur Scholastik meint er aber mit Wirklichkeit nicht so sehr das statische, sondern auch und vor allem das dynamische Moment – eben die Tatsachen und deren Beziehungen. Den Ausdruck „Anpassung des Verstandes“ gebraucht er nicht; die Erfassung der Wirklichkeit ist für ihn ein sehr komplexer Vorgang, bei dem der ganze Mensch mit allen seinen Kräften, nicht nur den intellektuellen, beteiligt ist. Doch auch für Newman ist dieser Vorgang wesentlich rezeptiv: Er spricht vom Schauen des Bestehenden, vom Sehen und Nahen der Dinge, „wie sie sind“ (Idee der Universität, 7). Der Mensch erfindet die Wahrheit nicht, er findet sie. Was für die Wahrheit im allgemeinen gilt, trifft auch auf die übernatürliche Wahrheit zu: Sie ist objektiv und unveränderlich. Das schließt jedoch Entwicklung im Sinn eines tieferen Eindringens in die damit gemeinte Wirklichkeit nicht aus.
Zum Wesen der Offenbarungswahrheit gehört im Unterschied zur natürlichen Wahrheit, dass sie ein unmittelbares Eingreifen von oben voraussetzt, da sie die menschliche Erkenntnisfähigkeit übersteigt. Sie liegt „jenseits menschlicher Entdeckung“ (Zustimmungslehre, 302) und stellt ein überaus wertvolles Gut dar, das vom Menschen Ehrfurcht und Gehorsam fordert.
3. Der Weg zur Erkenntnis der objektiven Wahrheit
Newman wird nicht müde, in seinen vielen Predigten und Abhandlungen die wesentlichen Grundkonstanten biblischer Anthropologie aufzuzeigen und bewusst zu machen. Durch die Sünde Adams, die den Verlust der übernatürlichen Gnadenwirklichkeit für die ganze Menschheit mit sich brachte, wurde die menschliche Natur tief erschüttert und verletzt. Im Blick auf das geistige Erkennen bedeutet dies: Der Mensch wurde in religiösen Dingen in große Unwissenheit getaucht. Wenn er auch mit seinem Verstand die Existenz Gottes noch erkennen kann (vgl. Rom 1,20), so tappt er doch oft im Dunkeln, in Unwissenheit und geistiger Blindheit. Nicht selten erliegt er dem Irrtum, der ihn auf falsche Wege führt. Der Mensch ist in religiösen Dingen weitgehend ein „Analphabet“ geworden, er muss aufs neue die Wahrheiten von Gott und seinem Wirken empfangen. Das aber ist nicht möglich ohne bewusstes Mittun des Menschen. „Das Auge des Körpers, das Organ zum Erfassen der stofflichen Dinge, ist ein Geschenk der Natur; das Auge des Geistes, das zum Schauen der Wahrheit dient, ist ein Werk geistiger Zucht und Gewöhnung“ (Zustimmungslehre, 219).
Ein ganz entscheidendes Grundprinzip der Wahrheitssuche ist für Newman die Bereitschaft des Menschen, sich der Wahrheit nicht nur auf intellektuellem, sondern auch vor allem auch auf sittlichem Weg zu nähern. Er spricht davon, dass die Strahlen der Wahrheit „auf uns einströmen ebenso durch das Medium unseres sittlichen wie auch unseres intellektuellen Wesens“ (Zustimmungslehre, 219). Der Schlüssel zum Verständnis Newman’scher Erkenntnislehre besteht darin, dass Erkenntnisgewinn im Bereich der natürlichen und vor allem der übernatürlichen Wahrheit durch intellektuelle und auch moralische Prozesse hindurch geschieht. Die intellektuelle Annäherung an die Wahrheit vollzieht sich, wenn der einzelne die Anstrengung des Geistes nicht scheut, die Heilige Schrift aufmerksam liest, das Wort der Wahrheit in der Verkündigung empfängt, gute Bücher liest, sich mit verschiedenen Meinungen auseinandersetzt oder Gespräche führt. Entgegen irrationalistischen Strömungen seiner Zeit beharrt Newman auf einer angestrengten und ehrlichen intellektuellen Wahrheitssuche. Die intellektuelle Suche der Wahrheit aber genügt nicht. Es gibt intellektuell hochbegabte Menschen, die nicht zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Dies ist dann der Fall, wenn sich der menschliche Stolz in unser Denken einschleicht, denn nicht die Vernunft widerspricht dem Glauben oder der gläubigen Annahme der Wahrheit, sondern der Stolz. „Wenn es einen Weg gibt, religiöse Wahrheit zu finden, so liegt sie nicht in Vernunftbetätigungen des Intellekts, sondern dicht bei Pflicht, Gewissen, der Beobachtung des Sittengesetzes“ (Briefe und Tagebücher, 532). Deshalb gibt es für Newman auch ein schuldhaftes Verharren im Irrtum.
Die übernatürliche Wahrheit ist ein freies Geschenk Gottes an den Menschen. Ohne Gebet und Hinwendung zum Heiligen Geist, der den Menschen in alle Wahrheit einführt (vgl. Joh 16,13), bleibt der Zugang zur Glaubenswahrheit versperrt. Ohne demütiges Gebet gibt es kein Eindringen in die Wahrheit. Die Zustimmung zur Wahrheit vollzieht sich in einem Akt des Glaubens. Für Newman ist der Glaubensakt eine lebendige Zustimmung des ganzen Menschen zur Offenbarung. Dieser „real assent“ ist von intellektueller Natur, aber geht darüber hinaus. Er beansprucht den ganzen Menschen mit allen seinen seelischen Kräften.
Die Bekehrung ist ein weiterer hervorragender Weg zur Erkenntnis der Wahrheit. Die Sünde verhindert das Eindringen des Glaubenslichtes in unser Denken und das innere Verkosten der Wahrheit. Die großen Wahrheiten des Glaubens werden nicht mehr in ihrer Lebendigkeit und Frische erfasst, sondern reduzieren sich auch bloße Worthülsen. Solange die übernatürliche Wahrheit als etwas Theoretisches, Abstraktes und Trockenes empfunden wird, hat sich der Einzelne noch zu wenig auf den Weg der Bekehrung und der konkreten Verwirklichung des Glaubens gemacht. Newman predigte oft vor der intellektuell hoch gebildeten Hörerschaft Oxfords. Er scheute nicht davor zurück, zur Treue gegenüber den Geboten Gottes, zur Abkehr von Stolz und Neugier und zur Demut aufzurufen. Einer der hervorragenden Wege zur Erkenntnis der Wahrheit ist der gelebte Gehorsam des Glaubens. Newman predigte: „Mögen wir immer beherzigen, dass die ‚Furcht des Herrn der Anfang der Weisheit‘ ist (Spr 1,7), dass Gehorsam gegen unser Gewissen in allen Dingen, großen und kleinen, der Weg zur Erkenntnis der Wahrheit ist, dass Stolz das Herz verhärtet und Sinnlichkeit es erniedrigt“ (Predigten, I 256). Wenn der Mensch die Wahrheit nicht nur wissen will, sondern auch bereit ist, die Folgen daraus zu ziehen, führt ihn der Heilige Geist zu einem inneren Verständnis der Wahrheit. Wer zum Beispiel im Gehorsam des Glaubens die den Verstand übersteigende Wahrheit von der realen Gegenwart des Herrn im Sakrament des Altars annimmt und als praktische Konsequenz dieser Wahrheit das Sakrament des Altares in Ehrfurcht verehrt, der empfängt als Lohn ein wachsendes inneres Verstehen dieser Wahrheit. „Wir schreiten von einer Stufe der Erkenntnis zur anderen, wir werden von einer unteren Region zu einer höheren geführt, wenn wir auf den Ruf Christi horchen und ihm folgen“ (Predigten, VIII 33). Es gibt ein Verstehen, das Frucht des Denken ist, und ein anderes, oft noch viel tiefer schürfendes, das vom Tun kommt. Newman warnt vor der leichtfertigen Annahme, wir hätten jederzeit Kontrolle über unser Denken. „Uns ist keine Willkür über unsere Verstandeskräfte gegeben, noch können wir sie nach Belieben oder in jedem Augenblick betätigen“ (Predigten, VI 367). Intellektuelle Betätigung, besonders auf dem Gebiet übernatürlicher Wahrheitserkenntnis, bedarf der Praxis der Tugend.
Menschen, die diesen Weg sittlicher Anstrengung zur Wahrheitserkenntnis auf sich nehmen, dürfen erfahren, dass sie von Gott in ihrem Denken und Erkennen geführt werden. Wer aufrichtig und unermüdlich sucht, gelangt – manchmal sogar über Umwegen und Irrwegen – zur Wahrheit. Dankbar blickt Newman auf verschiedene Erzieher zurück, die ihn nicht nur in der Wahrheit unterrichteten, sondern ihn zum Tun der Wahrheit führten. „Sie belehrten mich nicht nur, sie hielten mich zur Tat an; sie sorgten nicht nur, dass ich meine Pflicht erkannte, sondern dass ich sie tat; und dieser Gehorsam gegen Sein Gebot hat mir eine klarere Erkenntnis Seiner Wahrheit gebracht, als irgendeine bloße Belehrung sie je vermitteln könnte. Ich bin nicht nur von außen, sondern auch von innen belehrt worden. Läuterung des Herzens, Wandlung des Willens, Reinerhaltung des Innern, Abtötung des Begehrens, Zügelung der Zunge Beherrschtheit und Zucht des Blickes: das war meine Schule“ (Predigten, VIII 114).
Die Erkenntnis religiöser Wahrheit ist nicht Luxus einiger weniger. Da der Herr Wahrheit in Fülle ist, kann es eine Vereinigung mit ihm ohne Wahrheitserkenntnis nicht geben. In seinem Erbarmen ist der Herr dem Menschen durch die Offenbarung seiner Wahrheit entgegen gekommen. Ohne die freie Unterwerfung seines Verstandes unter die Offenbarung, ohne Überwindung von Sünde und Schuld, bleibt jedoch der Weg zur Wahrheit und damit auch der Weg zu Gott versperrt. Eine Form des Glaubens, die an der Wahrheitsfrage vorbeigeht, bleibt immer an der Oberfläche stehen. Glaube gründet auf Wahrheit, authentisches Glaubensleben wird gespeist von der Wahrheit. Es gehört zur Pflicht der Christen, den dreifaltigen Gott, der ein Gott der Liebe und Wahrheit ist und dadurch die Menschen anzieht, in ihrem Leben zu bezeugen. Dieses Zeugnis erfolgt durch lebenslanges immer umfassenderes Eindringen in die Wahrheit und durch das Leben aus der Wahrheit in Wort und Tat.
P. Hermann Geißler FSO