12. Predigt
„Ihr seid das Licht der Welt. Eine Stadt, die auf dem Berge liegt, kann nicht verborgen bleiben“
(Mt 5,14)
Unser Heiland befiehlt uns an dieser Stelle Seiner Bergpredigt, unser religiöses Bekenntnis vor allen Menschen zu offenbaren. „Ihr seid das Licht der Welt“, sagt Er zu Seinen Jüngern; „eine Stadt, die auf dem Berge liegt, kann nicht verborgen bleiben. Noch zündet man ein Licht an und stellt es unter den Scheffel, sondern auf den Leuchter, damit es allen leuchte, die im Hause sind. So leuchte euer Licht vor den Menschen, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater preisen, der im Himmel ist“. Doch gleich darauf sagt Er, „wenn du Almosen gibst… wenn du betest… wenn ihr fastet… zeige dich nicht vor den Menschen, sondern vor deinem Vater, der im Verborgenen ist“ (Mt 6, 2–18). Wie lassen diese Gebote sich miteinander vereinbaren? Wie sollen wir uns gleichzeitig als Christen bekennen und doch unsere christlichen Worte, Werke und Selbstverleugnungen verbergen?
Ich will jetzt versuchen, diese Frage zu beantworten; d. h. erklären, wie wir vor der Welt für Gott Zeugen sein können und doch ohne Anmaßung, Affektiertheit oder grobe und unschickliche Schaustellung.
1. Zum ersten könnte nun viel gesagt werden über jene Art von Zeugenschaft für Christus, die in der Angleichung an Seine Kirche besteht. Wer einfach täte, was die Kirche ihm zu tun gebietet (auch wenn er nicht mehr täte), würde ein gutes Bekenntnis vor der Welt ablegen, und zwar eines, das nicht verborgen werden kann; zugleich tut er es mit ganz geringer oder gar keiner Schaustellung seinerseits. Er tut nur, was man ihm sagt, und nimmt keine Verantwortung auf sich. Die Apostel und Märtyrer, die die Kirche grundlegten, die Heiligen aller Zeiten, die sie geziert haben, ihre jetzt lebenden Vorsteher, alle diese nehmen ihm die Verantwortlichkeit für sein Bekenntnis ab und tragen den Tadel, um das Wort zu gebrauchen, ob seiner scheinbaren Schaustellungen. Ich behaupte nicht, daß unreligiöse Leute einen solchen nicht einen prahlerischen oder finsteren Menschen oder einen Heuchler nennen. Um diese Frage geht es nicht. Die Frage ist, ob er nach Gottes Urteil den Tadel verdient; ob er etwa ist, wie Christus ihn haben wollte, nämlich einer, der wirklich und wahr (was immer die Welt sagen mag) Demut mit einem kühnen äußeren Bekenntnis verbindet; ob er dabei etwa Christus predigt, ohne die Reinheit, Vornehmheit und Bescheidenheit seines Charakters zu verletzen. Wenn dagegen ein Mensch sich auf seine eigene Überzeugung stützt und sich selbst als Einzelperson zum Zeugen für Christus erklärt, dann kränkt und stört er tatsächlich den sanften, uns von Gott verliehenen Geist. Gottes barmherzige Vorsehung aber hat uns bewahrt vor dieser Versuchung und uns verboten, sie zuzulassen. Er gebietet uns, zu einer Einheit uns zu versammeln und unser persönliches Bekenntnis unter der Autorität der Gemeinschaft zu bergen. Während wir uns so der Welt als Licht zeigen – weit wirksamer als wenn wir abgesondert in einsamer Wildnis ohne Verbindung mit den anderen glimmen, handeln wir zugleich mit weit größerer Verschwiegenheit und Demut. Aus diesem Grund tut die Kirche so viele Dinge für uns. Sie ordnet Fasten und Feste an, Zeiten für das gemeinschaftliche Gebet, vorgeschriebene Formen für die Sakramente, die frommen Gepflogenheiten bei Hochzeit und Tod, und all das ist begleitet von einer festen Form von zuverlässigen Worten. Die Absicht dabei ist, wenn ich so sagen darf, von uns persönlich die Bürde eines erhabenen Bekenntnisses abzuwälzen, die Bürde, unsererseits Großes dazu zu tun, wenn wir feierliche Gebete und Lobgesänge erfinden müßten – eine Aufgabe, die weit über die Kraft der Christen im allgemeinen hinausgeht, um nur ganz wenig zu sagen; eine Aufgabe, vor der demütige Menschen zurückschrecken, weil sie nicht als Heuchler dastehen wollen, und die jenen schadet, die sie tatsächlich in Angriff nehmen, weil sie roh und weltlich gesinnt macht. Ich möchte von diesem Gegenstand sprechen, weil es sich dabei um eine praktische Angelegenheit handelt; denn ich bin sicher, daß wir, wenn wir wirklich und in der Tat die Erkenntnis der Wahrheit verbreiten wollen, es auf diese Weise weit nachhaltiger und auch lauterer tun, wenn wir zusammenhalten, als wenn jeder einzeln zum Zeugen wird. Man kann Menschen beobachten, die alle möglichen sonderbaren Arten anwenden, um Gott, wie sie glauben, die Ehre geben. Wenn sie nur der Kirche folgen wollten, nämlich am Sonntag und an den Heiligenfesten oder besser täglich sich zum Gebet zu versammeln, die liturgischen Vorschriften durch gehorsame Beobachtung zu ehren, die Familien mit dem Geist des Prayer-Book in Einklang zu bringen, dann würden sie nach meiner Meinung in Wirklichkeit weit mehr Gutes tun, als wenn sie sich in neuen religiösen Plänen versuchen, neue religiöse Gesellschaften gründen oder neue religiöse Ideen aussprengen. Dabei ziehe ich nicht in Betracht den größeren Segen, den sie finden dürften auf dem Weg der Pflicht, die an erster Stelle zu berücksichtigen ist.
2. Eine Weise habe ich genannt des Bekenntnisses ohne Schaustellung: Gehorsam gegen die Kirche. Betrachtet nun an zweiter Stelle, wie groß und doch wie unbewußt und bescheiden das Bekenntnis ist, welches der ganz gewöhnlichen Art eines ernsten Christenlebens entspringt! Dieser Gedanke mag bekümmerte Seelen beruhigen, die in Angst sind, Christus nicht zu bekennen, und doch fürchten, damit zu prahlen. Es ist euer Leben, das Christus darstellt, ohne daß ihr es beabsichtigt. Ihr könnt das nicht vermeiden. Eure Worte und Werke werden auf die Dauer (wie es heißt) zeigen, wo euer Schatz und euer Herz ist. Aus der Überfülle des Herzens spricht euer Mund Worte, „gewürzt mit Salz“ (Kol 4, 6). Wir finden manchmal Menschen, die im gewöhnlichen Lauf ihres Lebens bestrebt sind, ihre Pflicht zu tun, und überrascht sind zu hören, daß man sie verlacht und daß unbedachtsame oder weltlich gesinnte Menschen ihnen verletzende Beinamen geben. So sollte es sein; es ist ganz in Ordnung, daß sie überrascht sind. Wenn ein gewöhnlicher Christ mit der Erwartung auftritt, in der Welt Unruhe zu stiften, so muß man fürchten, daß er nicht so demütigen Sinnes ist, wie er sein sollte. Zu Christi Herde gehören alle, die ruhig auf dem Weg des Gehorsams weiter gehen, jedoch von dem scharfen Auge der eifersüchtigen, sich selbst richtenden, und doch stolzen Welt entdeckt werden, und bei der Entdeckung ihrer Lage zuerst davor zurückschrecken und sich deshalb unbehaglich fühlen. Dabei nun prüfen sie, ob sie irgendwie fehlerhaft gehandelt haben, und wenn sich dies ergäbe, täte es ihnen leid. Nur langsam und sehr schüchtern (wenn überhaupt) fangen sie an sich zu freuen. Diese sind es, die Dem folgen, der sanftmütig und demütig von Herzen war, sie sind Seine Auserwählten, in denen Er Sein eigenes Bild widergespiegelt sieht. Beachtet, wie solche Menschen in einer schlechten Welt ihr Licht leuchten lassen, jedoch unbewußt. Moses kam vom Berg herab und „wußte nicht, daß sein Angesicht strahlte“, wie das eines Menschen, der mit Gott geredet hatte. Aber „als Aaron und alle Kinder Israels Moses erblickten und sahen, wie sein Angesicht strahlte, fürchteten sie sich, ihm nahezukommen“ (Ex 34, 29. 30). Wer kann die Gewalt unserer einzelnen Worte abschätzen, wenn sie gesprochen sind zur rechten Zeit! Wie manche dieser von uns vergessenen Worte werden aufgenommen und gehegt von diesem oder jenem und tragen Frucht! Wie regen unsere guten Taten andere zum Wetteifer im Guten an, was zwar die Engel wahrnehmen, aber nicht wir! Wie kommt es, daß Menschen, von denen wir nie hörten oder die wir nur einmal sahen, und zwar in weiten, unbekannten Ländern, an uns denken! Laßt uns für einen Augenblick diese erfreuliche Seite unserer Taten ansehen und nicht nur den traurigen Ausblick unseres schlimmen Einflusses. Ohne Zweifel steigen unsere Gebete und Almosen wie ein liebliches, Gott wohlgefälliges Opfer empor (Apg 10,4); es ist Ihm wohlgefällig nicht allein als eine Übung der Frömmigkeit, sondern als eine Liebestat gegen alle Menschen. Unsere Arbeit und Erholung, unsere Freuden und Leiden, unsere Meinungen, Liebhabereien, Studien, Gesichtspunkte und Grundsätze werden nach einer Richtung gelenkt: himmelwärts. Ob hoch oder niedrig, an unserem Platz können wir Dem dienen und Den dadurch verherrlichen, der für uns starb. „Ein kleines Mädchen, das gefangen auf dem Lande Israel weggeführt wurde und im Dienste bei der Frau Naamans war“ (2Kön 5, 2), nannte dem großen Befehlshaber über das Heer des syrischen Königs das Mittel, von seinem Aussatz zu genesen, und „seine Sklaven“ redeten ihm nachher gut zu und brachten ihn zur Vernunft, als er die vom Propheten geforderte Art der Heilung zurückweisen wollte. Das kann ungeduldige Gemüter beruhigen und das überängstliche Gewissen trösten. „Harret auf den Herrn und tut Gutes“ (Ps 36, 3) und ihr müßt, ihr könnt nicht anders, als euer Licht zeigen vor den Menschen wie eine Stadt auf dem Berg.
3. Es ist jedoch ganz wahr, daß es Umstände gibt, unter denen ein Christ verpflichtet ist, offen seine Überzeugung in Fragen der Religion auszudrücken. Und hier liegt die wirkliche Schwierigkeit, solches ohne Schaustellung zu tun. Je nachdem die Stellung eines Mannes in der Gesellschaft da oder dort ist, hat er mehr oder weniger die Pflicht, seine Ansicht frei zu äußern. Wir dürfen nie Sünde oder Irrtum begünstigen. Die einfachste und bescheidenste Art der Mißbilligung des Bösen ist das Schweigen und die Absonderung von ihm. Wir sind z. B. verpflichtet, uns von vorsätzlichen und öffentlichen Sündern fern zu halten. Der heilige Paulus verbietet uns ausdrücklich, „Gemeinschaft zu haben, wenn einer, der Bruder heißt (das heißt ein Christ), ein Ehebrecher oder Wucherer oder Götzendiener oder Lästerer oder Säufer oder Erpresser ist; mit einem solchen sollt ihr nicht einmal essen“ (1 Kor 5, 11). Der heilige Johannes gibt uns hinsichtlich der Irrlehrer die gleiche Weisung. „Wenn jemand zu euch kommt und diese Lehre nicht mitbringt (das heißt die wahre Lehre Christi), so nehmt ihn nicht ins Haus auf und grüßt ihn auch nicht; denn wer ihn grüßt, macht sich seiner bösen Werke teilhaftig“ (2 Joh 10. 11). Es ist klar, daß ein solches Benehmen unsererseits keine große Auffälligkeit fordert, denn es paßt sich nur den Vorschriften der Kirche an; obgleich es tatsächlich eine andere und oft schwierigere Frage ist zu wissen, bei welchen Gelegenheiten wir es anwenden sollen. Es ist noch eine schwerere Pflicht (wozu ein Christ oft angehalten ist), ein Urteil über Tagesereignisse und Männer in öffentlicher Stellung zu fällen. Das wird nämlich entsprechend der Stellung und dem Einfluß in dem Gemeinwesen seine (des Christen) Pflicht werden, damit er andere von seiner Ansicht überzeugen kann. Vor allem sind Geistliche verpflichtet, sich eine Ansicht zu bilden und sie zu äußern. Man sagt manchmal in vertraulicher Unterhaltung, ein Geistlicher soll nichts mit Politik zu tun haben. Das ist wahr, wenn das heißt, daß er nicht nach weltlichen Dingen streben, es mit keiner politischen Partei als solcher halten, nicht nach dem Beifall der Menge noch nach der Gunst hochgestellter Menschen haschen, nicht dem Vergnügen nachgehen und die Zeit in rein weltlichen Geschäften verlieren und nicht habsüchtig sein darf. Wenn es aber bedeuten sollte, daß er keine Ansicht ausdrücken noch einen Einfluß in der einen Richtung eher als in der anderen ausüben dürfe, dann ist es offensichtlich unbiblisch. Brandmarkten nicht die Apostel bei all ihrer Ehrfurcht vor der weltlichen Gewalt, der jüdischen wie der römischen, und bei aller Absonderung von weltlichem Ehrgeiz, dennoch deren Vorsteher als Bösewichte, welche den Gesalbten des Herrn gekreuzigt und getötet hatten? (Apg 2,23; 3,13-17; 27; 13,27) Und wären sie wie eine Stadt auf dem Berge gewesen, wenn sie nicht so gehandelt hätten? Wenn wirklich die Interessen dieser Welt völlig von jenen des Reiches Christi getrennt werden könnten, dann sollten tatsächlich alle Christen (Laien so gut wie Geistliche) sich des Gedankens an zeitliche Angelegenheiten enthalten und die wertlose Welt den Strom der Geschehnisse hinabtreiben lassen, bis sie zugrunde geht. Wenn aber (wie es der Fall ist) die nationalen Ereignisse die Belange der Religion in diesen Ländern beeinflussen müssen, weil die Kirche durch die Welt verführt und verdorben werden kann, und wenn es in der Welt Myriaden von Seelen gibt, die bekehrt und gerettet werden müssen, und eine christliche Nation notwendig ein Teil der Kirche werden muß, dann ist es unsere Pflicht, wie ein Leuchtturm auf dem Berge zu stehen, laut zu rufen und nicht abzulassen, unsere Stimme wie eine Trompete zu erheben, dem Volk seine Sünden vorzuhalten und dem Hause Jakob seine Frevel (Js 58,1). All das können wir unbeschadet unserer christlichen Sanftmut und Demut tun, obwohl es schwierig ist. Wir brauchen dabei nicht aufgebracht zu sein, noch zänkische Worte zu benützen, und doch können wir fest unsere Ansicht darlegen in dem Maß, wie wir die Mittel haben, eine solche zu bilden, gleichzeitig Gott gegenüber voll Eifer sein in jeglichem werktätigen Dienst und gewissenhaft und unmißverständlich uns von den schlechten Menschen fernhalten, deren üble Künste wir fürchten. Eine andere und noch schwierigere Aufgabe besteht darin, jene persönlich zurechtzuweisen, mit denen wir im täglichen Verkehr zusammentreffen, die in Wort oder Tat sündigen, und dadurch in Christi Namen Zeugnis vor ihnen abzulegen; d. h. es ist schwierig, in solchen Fällen Eifer zu zeigen, ohne dabei anmaßend zu werden. Wir wissen, es ist ein klarer und wiederholter Befehl Christi, um der Liebe willen andere auf ihre Fehler aufmerksam zu machen. Wie aber soll man das tun, ohne anmaßend und hart zu scheinen, ja sogar ohne es zu sein? Es gibt Menschen, die ängstlich ihre Pflicht bis zum Vollmaß tun, die aber fürchten, in diesem besonderen Punkt zu versagen, und zwar zu versagen wegen ihrer tadelnswerten Scheu und ihrer Furcht, Anstoß zu erregen! Doch andererseits fühlen sie auch das Peinliche, einen anderen zurechtzuweisen und (um einen gewöhnlichen Ausdruck zu gebrauchen) das Leidige daran. Solche Menschen müssen bedenken, daß die Zurechtweisung wohl eine Pflicht ist, doch nicht eine Pflicht, die alle Menschen gleichermaßen bindet. Die Verlegenheit, welche man dabei fühlt, entsteht oft infolge der tatsächlichen Unschicklichkeit, es in dem besonderen Fall zu wagen. Nach allgemeiner Regel ist es gegen den Anstand für einen Jungen, vor einem Betagten anders als durch sein Schweigen Zeugnis abzulegen. Noch unschicklicher ist es, wenn Untergebene ihre Vorgesetzten zurechtweisen; wie z. B. ein Kind seine Eltern oder eine Privatperson seine natürlichen und gottgesetzten Obern. Wenn wir eine Rolle übernehmen, die nicht zu uns paßt, empfinden wir es natürlich unangenehm; und obwohl wir so in Ehrbarkeit und Eifer gehandelt haben (wenn auch übel belehrt) und Gott daher in Barmherzigkeit unseren Dienst annehmen kann, weist Er uns immerhin zu gleicher Zeit durch unser tatsächliches Gefühl der Verwirrung und Scham zurecht. Wenn es sich um solche handelt, die in grober Weise einen anderen tadeln, und zwar einen Vorgesetzten und darob nicht schmerzlich berührt sind, so habe ich derartigen Menschen nichts zu sagen als meinen ernsten Wunsch auszudrücken, daß sie zu einer christlichen Geisteshaltung geführt werden möchten. Die Schwierigkeit, wie man für Gott ohne Schaustellung Zeugnis ablegen kann, kommt bei ihnen nicht einmal in Betracht.
Man muß ebenso bedenken, daß Teilnahme am Zeugnis für die Wahrheit, Warnung und Zurechtweisung, nicht eine allgemeine Christenpflicht bilden. Ich bin der Ansicht, daß unsere Pflichten in einer bestimmten Ordnung stehen, die einen vor den andern, und daß diese nicht eine von den ersten unter ihnen ist. Unsere ersten Pflichten sind Buße und Glauben. Es wäre wirklich sonderbar, wenn ein Anfänger im Religiösen sich „für einen Großen“ ausgäbe, annähme, er sei ein Heiliger und ein Zeuge und andere ermahnte, sich zu Gott zu wenden. Das ist klar. Sobald aber im Verlauf der Zeit sein religiöser Charakter gebildet wird und in allen seinen Pflichten zur Vollkommenheit fortschreitet, dann kann er es wagen, in Erfüllung einer derselben, durch das Wort seines Mundes Zeugnis abzulegen. Es ist schwer zu sagen, wann einer offen andere zurechtweisen darf; sicher nicht, bevor er ein hohes Maß von Demut hat. Ein Zeichen dafür wäre das Fehlen jeglichen Triumphgefühls, das Bewußtsein, daß er von Natur aus nicht besser ist als die Person, vor der er Zeugnis ablegt, und seine tatsächlichen Sünden derart sind, daß sie strenge Zurechtweisung verdienten, wären sie der Welt bekannt; dann auch Liebe zu der getadelten Person und Bereitwilligkeit, sich dem verdienten Tadel seinerseits zu unterwerfen. In all dem spreche ich von den Laien. Die Geistlichen haben die Pflicht der Zurechtweisung kraft des Amtes. Vorausgesetzt schließlich, daß es eindeutig unsere Pflicht ist, unser religiöses Bekenntnis in dieser deutlichen Art vor anderen zu offenbaren, müssen wir, um so bescheiden zu handeln, es dann so freundlich, liebenswürdig und milde als möglich tun; und wir dürfen nicht mehr tun als notwendig. Wir dürfen die Dinge nicht schlimmer machen als sie sind oder unsere ganze (vielleicht eingebildete) christliche Größe zeigen, wenn wir sozusagen nur eine Hand auszustrecken oder einen flüchtigen Blick zu geben brauchen. Vor allem, wie ich bereits gesagt habe, müssen wir so handeln, als ob wir dächten, ja wirklich in dem Gedanken, daß eines Tages die Reihe an dem Schuldigen sein könnte, uns zurechtzuweisen. Im Bewußtsein unserer großen Unvollkommenheiten dürfen wir uns nicht über ihn stellen und müssen den Wunsch hegen, daß er uns zurechtweist, sollte eine Gelegenheit es fordern, und zum voraus ihm danken. Wir müssen mit anderen Worten in dem Geist handeln, mit dem ihr einen Menschen warnen würdet, wenn er auf einem holprigen Boden dahingeht, der ihn zu Fall bringen könnte. Durch euer freundliches Benehmen würdet ihr ihn für verpflichtet halten, die gleiche Gunst euch zu erweisen. Gewichtige Gelegenheiten, für Christus Zeugnis zu geben, werden selten vorkommen, außer es drängte sich einer in eine Umgebung ein, in welcher er nie hätte sein sollen, und hätte darüber die Lebensregel vernachlässigt: Tretet heraus und sondert euch ab (vgl. 2 Ko. 6,17). In diesem Fall jedoch hat er kaum das Recht zu einem Tadel, da er den ersten Fehler selbst begangen hat. Dies ist eine andere Ursache unserer Verlegenheit, wenn wir Christus vor der Welt bezeugen sollen. Wir befreunden uns mit den Sündern, und damit sind sie uns schon voraus.
Kommen wir zum Schluß. – Oft erhebt sich die Frage, ob einer einfach und gelassen seine Pflicht tun kann, ohne daß die Welt sein Benehmen für auffällig hält. Es hat keine große Bedeutung für ihn, ob er dafür gehalten wird oder nicht, wenn er nicht das Urteil herausgefordert hat. Ich möchte es als allgemeine Regel bezeichnen, daß die Kirche selbst immer von der Welt gehaßt und geschmäht wird, weil sie kraft ihres Amtes dazu verpflichtet ist, ein kühnes Bekenntnis abzulegen. Ob aber die einzelnen Glieder der Kirche davon betroffen werden, hängt im besonderen Fall von verschiedenen Umständen ab. Es gibt Menschen, die von der Welt gelobt werden, obwohl sie sehr strenge und gewissenhafte Christen sind. Das sind jene, die große Sanftmut und Demut besitzen und in nicht so hervorragender Stellung oder mit der Welt nicht so eng verbunden sind, um sie beleidigen zu können. Manche Leute bewundern die Religion, solange sie diese wie ein Gemälde anschauen können. Sie halten sie für reizvoll in Büchern: und solange sie aus Distanz auf die Christen schauen können, sprechen sie wohlwollend von ihnen. Zur Zeit Christi bauten die Juden die Grabmäler der Propheten, die ihre Väter getötet hatten; dann töteten sie selbst den Gerechten. Sie „ehrten“ den Sohn Gottes, bevor Er kam, als aber ihre Leidenschaften und Interessen und Seine Ankunft aufgestört wurden, sagten sie, „dieser ist der Erbe; kommt, wir wollen ihn töten und das Erbe wird unser sein“ (Mk 12, 7). So machen sich die Christen im tätigen Leben, weil sie dabei den Stolz und die Selbstsucht der Welt durchkreuzen, bei ihr unbeliebt, und alles Böse wird wider sie fälschlich ausgesagt um Christi willen“ (Mt 5, 11). Obwohl sie vor dem Angriff auf eigenes Risiko nicht zurückschrecken dürfen, ist es doch selbst unter diesen Umständen ihre Pflicht, sich zu bergen unter dem Namen und der Autorität der heiligen Kirche, soweit sie das können, sich an ihre Anordnungen und Vorschriften zu halten und, gerufen, für die Kirche zu leiden, sich eher gedrängt zu fühlen, im gewöhnlichen Lauf der Pflicht zu leiden, als kühn die Aufgabe ihrer Verteidigung auf sich zu nehmen. Darin liegt keine Feigheit. Manche Männer sind auf gefährliche Posten gestellt, und diesen begegnet die Gefahr auf dem Weg der Pflicht. Andere aber dürfen sich nicht eindrängen in deren ehrenvolles Amt. So gebot unser Herr für die Anfangszeit des Evangeliums Seinen Nachfolgern, zu fliehen von Stadt zu Stadt, wenn sie verfolgt seien. Sogar die Vorsteher der Kirche taten, anstatt sich der Wut der Heiden auszusetzen, in den ersten Verfolgungen ihr Äußerstes, um diese zu meiden. Von Anbeginn sind wir ein leidendes Volk. Während wir aber einerseits uns nicht auf illegale Weise verteidigen, fordern wir doch andererseits die Leiden nicht heraus. Wir müssen für Gott zeugen und Ihn verherrlichen wie ein Licht auf dem Berg, ob schlecht beleumundet oder gut; aber der schlechte und gute Leumund hängt nicht so sehr von uns ab, sondern ist vielmehr die natürliche Folge unseres christlichen Bekenntnisses.
Wer kann Gottes Willen uns kundtun gegenüber dieser lärmenden Welt oder uns sagen, wie Er über sie verfügen wird? Er schüttelt sie hin und her in Seinem Zorn, und in ihrer Erschütterung beunruhigt Er auch Sein eigenes Volk. Nur dies wissen wir zu unserem Trost. Unser Licht wird nie untergehen. Christus stellte es auf einen Berg und die Hölle wird es nie überwältigen. Die Kirche wird bis zuletzt für die Wahrheit zeugen, gekettet zwar an diese Welt, ihren üblen Partner, aber immer wird sie deren Untergang voraussagen, obwohl man ihr nicht glaubt und ihr am Ende eine weit höhere Vergeltung verheißen ist. Denn am Ende wird der Allmächtige Herr regieren, wenn die Hochzeit des Lammes endlich kommen und Seine Braut sich bereit machen wird. Sie durfte sich „feines, glänzendweißes Linnen anlegen; denn das feine Linnen bedeutet die Gerechtigkeit der Heiligen“ (Offb 19, 6-8). Wahr und gerecht sind Seine Gerichte. Er wird den Tod und die Unterwelt in den Feuerpfuhl schleudern und rächen Seine Auserwählten, die Tag und Nacht zu Ihm rufen!
„Selig, die zum Hochzeitsmahl des Lammes geladen sind“ (Offb 19, 9). Mögen wir alle zu ihrer Zahl gehören, Christus in dieser Welt bekennend, damit Er uns vor Seinem Vater bekennen möge am Jüngsten Tag!
Sel. John Henry Newman, 12. Predigt vom 6. November 1831
in: Deutsche Predigten, I, 13 (pp 171-185)