„Schwestern zu sehen, die sich ernsthaft für John Henry Newman interessieren und zugleich eine große Liebe zur Küche haben, diese Kombination fand ich sehr originell!“ Mit diesen Worten beschrieb Benedikt XVI. im Rückblick seine erste Begegnung mit dem Newman-Zentrum am 28. September 1975. Aus dieser Begegnung von Professor Joseph Ratzinger, der damals anlässlich einer Versammlung der Internationalen Theologenkommission in Rom weilte, wurde eine enge jahrzehntelange Freundschaft. Die Schwestern der geistlichen Familie „Das Werk“ hatten damals vom 3. bis 8. April 1975 das erste Newman-Symposium in Rom organisiert. Wenig später wurden sie von Kardinal Luigi Raimondi, dem Präfekten der Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse, gebeten, die Person, das Denken und die Spiritualität Newmans weiter zum Wohl der Kirche bekanntzumachen. So entstand das Internationale Zentrum der Newman-Freunde.
Als Kardinal Joseph Ratzinger 1982 als Präfekt der Glaubenskongregation nach Rom kam, nahm er regelmäßig an Veranstaltungen des Newman-Zentrums teil. Er besuchte das Zentrum immer wieder. Er feierte mit Newman-Freunden Gottesdienste, um für einen guten Fortgang des Seligsprechungsprozesses zu beten. Er referierte bei Kongressen, zum Beispiel im Jahr 1990 anlässlich des 100. Todestages von Newman, bei dem er über seinen eigenen Zugang zu Newman während seines Theologiestudiums sprach und Newman unter die großen Lehrer der Kirche einreihte (➞ link).
Kardinal Ratzinger wurde auf diese Weise auch ein Freund der geistlichen Familie „Das Werk“, begleitete diese von Mutter Julia Verhaeghe (1910-1997) gegründete Gemeinschaft auf dem Weg zur päpstlichen Anerkennung und zelebrierte am 10. November 2001 die Dankmesse für die Approbation als Familie des geweihten Lebens durch Johannes Paul II. In der Homilie sagte er damals: „Nicht zufällig, denke ich, ist das ‚Werk‘ mit Newman befreundet, mit seinem Wappenspruch ‚Cor ad cor loquitur‘. Mutter Julia hat vom Herzen her gedacht und aus dem Herzen heraus das Herz Jesu erkannt – dieses durchbohrte Herz, das die Quelle des Bundes, die Quelle unseres Lebens ist.“
Es war Benedikt XVI. eine große Freude, dass er Newman 2010 zur Ehre der Altäre erheben konnte. Gewöhnlich delegierte er die Feier von Seligsprechungen. Nur zwei Personen sprach er persönlich selig: Johannes Paul II. und John Henry Newman. Allein dieses Faktum zeigt seine Wertschätzung für Newman, für dessen Seligsprechung er im September 2010 eigens nach Großbritannien reiste. Bei einer Gebetsvigil im Londoner Hyde Park (➞ link) und bei der Seligsprechungsmesse in Birmingham (➞ link) erläuterte er einige Aspekte der Aktualität Newmans für unsere Zeit. Bei der Homilie sagte er auch: „Ich spreche allen, die jahrelang hart an der Förderung der Causa von Kardinal Newman gearbeitet haben, meine Anerkennung aus, einschließlich der Väter des Oratoriums von Birmingham und der Mitglieder der geistlichen Familie ‚Das Werk‘“.
Im November 2010 veranstaltete das Newman-Zentrum zusammen mit der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom ein Symposium zum Thema „Der Primat Gottes im Leben und in den Schriften des seligen John Henry Newman“. In einer Grußbotschaft erläuterte Benedikt XVI. die beiden Mottos, die Newman sich bei seiner ersten Bekehrung angeeignet hatte: „Heiligkeit vor Frieden“ und „Wachstum ist der einzige Beweis des Lebens“. Zugleich verwies er darauf, wie Newman uns meisterhaft lehrt, „dass der Primat Gottes der Primat der Wahrheit und der Liebe ist“ (➞ link).
Im Rahmen der Ansprache beim Weihnachtsempfang der Römischen Kurie am 20. Dezember 2010 fasste Benedikt XVI. zusammen, worin er im Besonderen die Bedeutung Newmans für die Gegenwart sah: in seiner Offenheit für die Bekehrung, vor allem hin zum Glauben an den lebendigen Gott, und in seiner Lehre über das Gewissen, das nicht bloße Subjektivität ist, sondern „die Fähigkeit, gerade in den entscheidenden Bereichen seiner Existenz – Religion und Moral – Wahrheit, die Wahrheit zu erkennen“ (➞ link).
Die Heiligsprechung Newmans durch Papst Franziskus am 13. Oktober 2019 erfüllte den emeritierten Papst mit Dankbarkeit und Zuversicht. Denn er wusste sich diesem heiligen Theologen innerlich nahe: durch seine Aufgeschlossenheit für die Fragen der Zeit, durch seine tiefe Verankerung im katholischen Glauben, durch seine Liebe zur Heiligen Schrift, zu den Vätern und zur Liturgie, durch sein Eintreten für die Wahrheit gegen den Relativismus, den Newman prophetisch vorausgesehen und bekämpft hatte, durch seine freundliche, gütige und stets bescheidene Art, durch seine leuchtende Treue zur Kirche und durch sein unerschrockenes Gottvertrauen.
Ohne dem Urteil des regierenden Papstes vorzugreifen, äußerte Benedikt XVI. immer wieder seine Hoffnung, dass Newman zur Stunde Gottes zum Kirchenlehrer erhoben würde. Schon 1990 hatte er anlässlich eines Newman-Symposiums erklärt: „Das Kennzeichen des großen Lehrers in der Kirche scheint mir zu sein, dass er nicht nur durch sein Denken und Reden lehrt, sondern mit seinem Leben, weil Denken und Leben sich in ihm gegenseitig durchdringen und bestimmen. Wenn es so ist, dann gehört Newman zu den großen Lehrern der Kirche, weil er zugleich unser Herz berührt und unser Denken erleuchtet“.
Über den Autor
P. Hermann Geißler FSO
P. Hermann Geißler FSO, geboren am 12. Juni 1965 in Hall in Tirol (Österreich), studierte an der philosophisch-theologischen Hochschule Heiligenkreuz bei Wien und promovierte an der päpstlichen Lateranuniversität in Rom mit einer Studie über „Gewissen und Wahrheit bei John Henry Kardinal Newman“. Seit 1988 gehört er zur geistlichen Familie „Das Werk“, 1991 wurde er zum Priester geweiht. Von 1993 bis 2019 arbeitete er an der Kongregation für die Glaubenslehre, Benedikt XVI. ernannte ihn 2009 zum Leiter der Lehrabteilung. Innerhalb des „Werkes“ erfüllte P. Geißler im Laufe der Jahre verschiedene Aufgaben in der Ausbildung und in der Leitung. Er ist Direktor des vom „Werk“ errichteten internationalen Zentrums der Newman-Freunde, trägt Verantwortung für die Formung der jungen Mitbrüder und unterrichtet Theologie in Rom, Florenz und Heiligenkreuz/Wien.