Rundbrief 2007 – Beten mit John Henry Newman

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Dr. Philip Boyce O.C.D.
Bischof von Raphoe, Irland

Das Interesse am Gebet hat in den letzten Jahrzehnten wieder zugenommen. In der westlichen Gesellschaft, in der Wissenschaft und Technik enorme Fortschritte gemacht haben, spüren immer mehr Menschen, dass Reichtum und Wohlstand kein letztes Glück vermitteln können, weil sie die Sehnsucht des Herzens nicht zu stillen und die tieferen Probleme des Lebens nicht zu lösen vermögen. Deshalb wenden sich viele von neuem dem Gebet und der Meditation zu. In ihrer Suche nach dem Sinn des Lebens und nach höheren Werten ziehen sie sich oft in die Einsamkeit stiller, abgelegener Orte zurück. In den großen Städten treffen sich Menschen in Gebets- und Studienkreisen und lesen miteinander die Schriften geistlicher Autoren über Gebet und Meditation. Manche von ihnen, die im Westen nicht fündig oder enttäuscht wurden, haben sich auf die Weisheiten und die uralten Techniken östlicher Meister eingelassen. Dieses Suchen verweist auf das Bedürfnis des Menschen nach Gott und auf seinen unstillbaren Hunger nach der Verbundenheit mit dem Schöpfer.

Philip Boyce wurde 1995 zum Bischof seiner Heimatdiözese Raphoe in Irland geweiht. Nach dem Eintritt in den Karmeliterorden und der Ausbildung zum Priestertum schrieb er am Teresianum in Rom eine Dissertation über die christliche Vollkommenheit in den Werken John Henry Newmans. An derselben Päpstlichen Fakultät dozierte er dann für mehr als dreißig Jahre Spiritualität und Dogmatik. Er veröffentlichte zahlreiche Beiträge über Newman und über die karmelitanische Spiritualität. Seine letzten Publikationen: Maria, pagine scelte (Milano 1999); The Virgin Mary in the Life and Writings of John Henry Newman (Leominster 2001).

In unserer durch die Verdunstung des Glaubens geprägten Zeit finden die Menschen oft kaum wirkliche Führer, die sie in ihrem geistlichen Leben gemäß der Lehre des Evangeliums begleiten könnten. Unvermeidlich stoßen sie auf die Schwierigkeiten, mit denen die Beter aller Zeiten zu kämpfen hatten. Weil sie mit den Regeln der „königlichen Straße“ des Betens nicht vertraut sind, kommt es zu Problemen und Fehlschlägen, für die sie oft Institutionen verantwortlich machen. Nicht selten wenden sie sich dann Gruppen und Methoden zu, von denen sie sich einen größeren Erfolg versprechen. Manchmal wandern sie von Gruppe zu Gruppe, von Methode zu Methode, von einer Erfahrung zur anderen, ohne je zu einem beständigen Beten zu gelangen, das ihrem Leben Halt und Kraft geben könnte.

Der moderne Mensch strebt nach der „Erfahrung“, die ihn wie eine magnetische Kraft anzieht und auf die er seine Hoffnung setzt. Er sucht Erfahrungen aller Art: Gemeinschaftserfahrungen in größeren und kleineren Gruppen, Erfahrungen in der Begeisterung großer Massen, Erfahrungen östlicher Meditation oder sogenannter keltischer Spiritualität. Die wesentlichen Elemente, die ein Leben der wirklichen Vereinigung mit Gott verlangt – Läuterung, Entsagung und Ausdauer -, haben sich aber durch die Jahrhunderte hindurch nicht gewandelt. Das ist auch die bleibende Botschaft der Heiligen aller Zeiten. Viele Menschen, die sich in unseren Tagen dem Gebet zuwenden, fallen hingegen in alte Fehler zurück: Manche scheuen den nötigen inneren Kampf; andere begnügen sich mit einem Wissen und Sprechen über das Gebet; wieder andere schlagen Wege ein, die im Vorfeld der Gnade und des Lichtes der christlichen Offenbarung bleiben.

Angesichts des geistigen Hungers vieler Menschen von heute ist es wichtig, sich mit der Lehre und dem Leben der großen Meister des geistlichen Lebens zu beschäftigen und aus ihrer Erfahrung und ihrem Beispiel zu lernen.

Die folgenden Seiten stellen uns in Kürze einige Aspekte des Gebetslebens von John Henry Newman, einer herausragenden Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts, vor Augen. 1801 in einer anglikanischen Familie in London geboren, wurde er zu einer der bedeutendsten Persönlichkeiten der Oxford-Bewegung, deren Ziel es war, die Lehre und das geistliche Leben in der Kirche von England zu erneuern. Er galt als hervorragender Prediger und Professor an der Universität von Oxford. Nach Jahren des intensiven Betens und Ringens um die Wahrheit wurde er 1845 in die katholische Kirche aufgenommen. Nach seiner Priesterweihe in Rom gründete er das erste englische Oratorium des heiligen Philipp Neri in Birmingham. Als Katholik hatte er es nicht leicht, weil er in gewissen Kreisen immer wieder missverstanden und verdächtigt wurde. Papst Leo XIII. hat ihn aber 1879 zum Kardinal erhoben und so sein Leben und Wirken öffentlich anerkannt und gewürdigt.

Newman war nicht nur ein bedeutender Philosoph, Theologe und Erzieher, sondern auch ein Meister des Gebetes. Aufgrund seines beispielhaften Lebens und seiner tiefen Spiritualität sahen die katholischen Laien Englands in ihm ihren geistlichen Vater und ihren Ratgeber auf dem Weg der Heiligkeit.[1]

1. Das Leben Newmans – vom Gebet durchformt

Wir dürfen mit Recht sagen, dass das Gebet dem Leben Newmans seine innere Gestalt verlieh. Ohne Zweifel hatte er brillante intellektuelle Gaben. Seine philosophischen Untersuchungen sind in die Geistes- und Kulturgeschichte eingegangen. Seine theologischen und geistlichen Schriften, die sich durch Klarheit im Denken, Reinheit in der Lehre und Schönheit in der Sprache auszeichnen, haben einen Ehrenplatz unter den Werken religiöser Autoren erhalten. Neben seinen schriftstellerischen und wissenschaftlichen Eigenschaften besaß Newman auch eine besondere Gabe für religiöse und geistige Werte, die sein ganzes Wesen erleuchtete und prägte, ihn vor Irrtum bewahrte und seinen Schriften eine besondere Anziehungs- und Überzeugungskraft verlieh. Diese innere Mitte war nichts anderes als sein persönliches Leben des Glaubens, der Tugend, der Hingabe und des beständigen Gebetes.

Für Newman ist Beten schlicht und einfach das Sprechen des Menschen mit seinem Gott und Schöpfer. Es ist die Stimme des Glaubens, der Flügelschlag der Seele, eine Wirklichkeit, die im Herzen aller Religionen zu finden ist. Es bringt den Menschen mit einer höheren Welt in Beziehung und ermöglicht dem Christen, als Bürger des Himmels zu leben. „Unsere Heimat ist im Himmel“, schreibt der heilige Paulus (Phil 3,20). Gebet und Lobpreis sind die Worte unseres Sprechens mit dem Vater im Himmel. Sie sind Ausdruck der christlichen Haltung des Wachens und Harrens auf das Kommen Christi. Sie sind Verwirklichung des sursum corda, das den Glaubenden mit dem Himmel verbindet, während er noch in dieser Welt lebt (vgl. die Predigt „Harren auf Christus“: DP X 46-63).

Zeitlebens war Newman ein großer Beter. Von früher Jugend an war er sich der Gegenwart und Heiligkeit Gottes bewusst. Bereits als Kind empfand er deutlich die „Unwirklichkeit“ der materiellen Dinge. Zugleich erfasste er von innen her die „Wirklichkeit“ der unsichtbaren geistigen Wesen: der Engel, seiner unsterblichen Seele, Gottes selbst. Schon im Alter von sechs Jahren fragte er sich immer wieder, warum er war und was er war (vgl. SB 288). Mit fünfzehn Jahren sprach er von sich und seinem Schöpfer als von „zwei und nur zwei Wesen, die von einleuchtender Selbstverständlichkeit sind“ (Apo 22). Dieses Bewusstsein der Gegenwart und Heiligkeit Gottes und der vollständigen Abhängigkeit von ihm weckte in Newman das Verlangen nach Gebet und Lobpreis. Wenn sich der Mensch mehr als durch Worte bewusst wird, wer Gott ist und wer er selbst ist, möchte er spontan Gott loben, seine Erhabenheit preisen, seine Heiligkeit anbeten, ihn in seiner Güte lieben, ihn demütig um Hilfe bitten und ihm für die empfangenen Gnaden Dank sagen. Das ist Beten.

Newmans Glaube an Gott war voll Kraft und Sicherheit. Für ihn war der Glaube nicht bloß eine Wahrscheinlichkeit, eine Vorsichtsmaßnahme oder eine kluge Taktik, sondern die absolute Gewissheit eines Menschen, der aufrichtig die Wahrheit liebte. Der sichere Glaube war das Fundament seines Betens. Zweifel bringt keine echte Frömmigkeit hervor. Wenn die Glaubenswahrheiten bloß wahrscheinlich oder zweifelhaft wären, „dann könnte das berühmte Wort: ‚O Gott, wenn es einen Gott gibt, rette meine Seele, wenn ich eine habe!‘ als der höchste Ausdruck der Andacht gelten; wer aber kann wirklich zu einem Wesen beten, über dessen Existenz er ernstlich im Zweifel ist?“ (Apo 38). In Newmans Gebeten begegnen wir immer wieder den Wahrheiten von Gottes Wirklichkeit und Heiligkeit, von seiner Liebe und Sorge für den einzelnen und von der völligen Abhängigkeit des Menschen von seiner Kraft und Vorsehung. In einer Betrachtung schreibt er:

„O mein großer Gott, von Ewigkeit hast du dir selbst genügt. Der Vater genügte dem Sohn und der Sohn dem Vater. Solltest du also nicht auch mich armes Geschöpf befriedigen können, du, so groß, und ich so klein! Im Vater und Sohne finde ich in doppelter Weise alles, was ich verlangen kann… O mächtiger Gott, stärke mich mit deiner Kraft, tröste mich mit deinem unvergänglichen Frieden, sättige mich mit der Schönheit deines Angesichts! Erleuchte mich mit deinem unerschaffenen Glanz! Reinige mich mit dem Duft deiner unaussprechlichen Heiligkeit! Lass mich in dir untertauchen und gib mir, soviel ein sterblicher Mensch verlangen kann, von den Strömen der Gnade zu trinken, die ausgehen vom Vater und Sohn: der Gnade deiner wesensgleichen, gleich-ewigen Liebe!“

„O mein Gott, mein ganzes Leben war eine Kette von Gnaden und Wohltaten, die du über das unwürdigste deiner Geschöpfe ausgegossen hast. Ich habe nicht nötig, an deine Vorsehung zu glauben, denn eine lange Erfahrung erzählt mir von deiner Fürsorge für mich. Jahr für Jahr hast du mich geleitet, hast mir alle Gefahren aus dem Weg geräumt, hast mich geheilt, gestärkt und erfrischt, mich ertragen, geführt und gestützt. O verlasse mich nicht, wenn meine Kräfte schwinden. Du willst mich ja nie verlassen. Ich darf fest auf dich vertrauen. So schuldbeladen ich auch bin, du wirst doch, wenn ich dir treu bleibe, mir immer bis zum Ende deine Treue in überreichem Maß bewahren“ (BG 212, 225).

Deshalb ist es nicht überraschend, dass Newman zu allen Zeiten seines Lebens gebetet hat. Wir haben bereits darauf hingewiesen, wie das Beten in seiner Kindheit dem Bewusstsein der Gegenwart und Heiligkeit Gottes entsprungen ist. In seinen Tagebüchern finden wir Gebete und Bitten, die er von Jugendtagen an niedergeschrieben und verwendet hat. Im Oratorium in Birmingham werden drei kleine, abgenutzte Hefte aufbewahrt, die er immer wieder zur Hand genommen hat. Sie enthalten Gebete, Anliegen und Namen von Menschen, für die er gebetet hat. Das älteste Gebet stammt aus dem Jahr 1817, als Newman sechzehn Jahre alt war. Er schrieb es zu seiner ersten heiligen Kommunion in der anglikanischen Kirche. Die letzte Eintragung erfolgte 72 Jahre später – im Jahr vor seinem Tod.[2] Nur wenige Menschen behalten und gebrauchen ihre Gebete über einen Zeitraum von sieben Jahrzehnten. Diese schlichten Seiten legen Zeugnis ab für Newmans innerliches Leben in Gemeinschaft mit Gott. Sie zeigen uns etwas von der bescheidenen und einfachen Seele, die hinter dem äußeren Ansehen des berühmten Oxforder Konvertiten verborgen liegt. Sein Verstand und seine Frömmigkeit waren nicht zwei verschiedene Welten, sie durchdrangen sich gegenseitig. Dieselben Anliegen, für die er als anglikanischer Diakon gebetet hatte, schrieb er später in eines dieser Hefte, die er dann als katholischer Priester beim Gebet vor und nach der heiligen Messe benutzte. Als er zur katholischen Kirche konvertierte, brauchte er das Beten nicht erst zu lernen. Die Haltung des Gebetes hatte er sich bereits zu eigen gemacht. Sie wurde lediglich durch die katholische Lehre modifiziert; sie wurde vor allem froher, zarter und eucharistischer. Der katholische Glaube lehrte ihn zudem die Anrufung der Heiligen und der seligen Jungfrau Maria, das Gebet des Rosenkranzes und die Anbetung vor dem Allerheiligsten. Man könnte sagen, dass sein Beten vertrauter und inniger wurde. In seinem Wesen hat es sich aber nicht geändert.

Auch seine Predigten lassen erkennen, wie sehr das Gebet sein Leben geprägt hat. Als er auf der Kanzel stand, hatten die Zuhörer den Eindruck, dass er in der Gegenwart Gottes meditiere und sie dabei mit sich ziehe. William Lockhart, einer seiner Gefährten in Littlemore, sagte, der Einfluss seiner Predigten auf die Gelehrten in Oxford sei eine Frucht seiner Fähigkeit, „den Geist zu Gott zu erheben.“[3] Newmans Predigten wurden für ihn und für jene, die ihm gläubig zuhörten, gleichsam zum Gebet. Er führte seine Zuhörer zur Betrachtung der Geheimnisse der göttlichen Offenbarung. Durch seine einfachen und eindringlichen Worte wurden abstrakte Wahrheiten konkret, klar und persönlich. Jede Predigt wurde zu einer Begegnung mit dem lebendigen Gott, förderte in den Gläubigen das Bewusstsein der Nichtigkeit des weltlichen Getues und zog sie in den Bann der Anmut von Gottes Wahrheit und Schönheit.

Der betende Charakter von Newmans Predigten wurde einmal mit folgenden Worten beschrieben: „Blick und Verhalten des Predigers waren die eines Menschen, der anderswo lebte, eines Menschen, der seine Zeit gut kannte, aber nicht darin aufging. Aus der Abgeschiedenheit des Studiums, der Enthaltsamkeit und des Gebetes, aus dem Verweilen im Unsichtbaren schien er an diesem Tag der Woche (am Sonntag) herauszutreten, um zu anderen über die Dinge zu sprechen, die er geschaut und erkannt hatte.“[4] Wir könnten hinzufügen: Er brachte den Seelen die Wirklichkeiten des Glaubens und der unsichtbaren Welt näher.

Manchmal wurde sein Predigen spontan zu persönlichem Beten und Sprechen mit dem Erlöser. Das zeigen die vielen Gebete, die in seine Predigten eingeflochten sind. Das folgende Gebet zum Herzen Jesu ist in einer seiner katholischen Predigten enthalten:

„O Herz Jesu, ganz Liebe! Dir opfere ich diese Bitterkeit in Demut auf für mich selbst und für alle jene, die sich mit mir im Geiste vereinen, um dich anzubeten. O heiligstes und überaus liebenswürdiges Herz Jesu, diese Akte der Anbetung und diese Gebete für mich elenden Sünder und für alle jene, die sich mit mir in Anbetung vereinigen, will ich in jedem Augenblick, da ich atme, ja bis ans Ende meines Lebens erneuern und dir aufopfern. Ich empfehle dir, mein Jesus, die heilige Kirche, deine geliebte Braut und unsere wahre Mutter, die Seelen aller Gerechten und alle armen Sünder, die Betrübten, die Sterbenden, die ganze Menschheit. Möge dein Blut nicht vergeblich für sie vergossen sein! Würdige dich schließlich, es auch den armen Seelen am Reinigungsort zum Troste werden zu lassen, besonders jenen, die in ihrem Erdenleben diese heilige Andachtsübung, dich so anzubeten, gepflegt haben“ (DP XI 385).

Auch das folgende schöne Gebet um einen guten Tod hat Newman zuerst auf der Kanzel verkündet:

„O mein Herr und Gott, komm mir zu Hilfe in jener Stunde mit dem starken Arm deiner Sakramente und mit dem erfrischenden Duft deiner Tröstungen. Lass die Worte der Lossprechung über mich gesprochen werden, das heilige Öl bezeichne und besiegle mich, dein eigener Leib sei mir Speise und dein Blut besprenge mich. Der Hauch meiner süßen Mutter Maria sei über mir und mein Engel möge mir Frieden zusprechen; meine strahlenden Heiligen und mein eigener heiliger Vater Philipp mögen mir zulächeln; damit ich in ihnen allen und durch sie alle die Gnade der Beharrlichkeit erlange und sterbe, wie ich verlange zu leben, in deinem Glauben, in deiner Kirche, in deinem Dienst und in deiner heiligen Liebe“ (DP XI 142).

Alle Werke Newmans tragen in der Tat den Stempel eines betenden und tiefgläubigen Menschen.

2. Die Einfachheit und Wahrhaftigkeit von Newmans Beten

Es mag sonderbar erscheinen, dass ein Mann mit solchen Geistesgaben auf so einfache und natürliche Weise gebetet hat, dass wir alle uns seine Gebete zu eigen machen können: Er notierte sich lange Listen von Menschen, für die er beten wollte; er kämpfte gegen Zerstreuung und Trockenheit; er liebte Litaneien; er hatte Vertrauen in Novenen und traditionellen Gebetsformen der Kirche; er betete beharrlich den Rosenkranz und schätzte die Anbetung vor dem Allerheiligsten. Newman hätte außergewöhnliche Gebete formulieren und den Eindruck besonderer Gnaden vermitteln können. Doch er vermied mystische Beredsamkeit und zog es vor, Worte zu gebrauchen, die das zum Ausdruck brachten, was er wirklich empfand. Das ist ein Zeichen der Echtheit: Wer das Außergewöhnliche sucht, täuscht sich leicht; wer nach schönen Worte und Gedanken strebt, redet häufiger mit sich selbst als mit Gott; wer die von der Liturgie formulierten Gebete verachtet, setzt sich der Gefahr aus, mit bloßen Worten zu spielen; wer nach sentimentaler Frömmigkeit verlangt, wird nie zu einem echten Gebetsleben finden.

Newman liebte das Einfache, das Aufrichtige. Er zog wahre Worte und Empfindungen, wirkliche Entscheidungen, so unbedeutend und alltäglich sie auch sein mochten, einer scheinbar ergreifenden, aber gekünstelten und nicht wahrhaftigen Sprache vor. Er war vorsichtig bei gefühlsbetonter Frömmigkeit und wies jene zurück, die meinten, sie müssten beim Beten ihre Gefühle stimulieren und sich in einen besonderen sentimentalen Zustand versetzen. Nicht zufällig bevorzugte er die schlichte englische Frömmigkeit gegenüber den eher sentimentalen Andachtsformen, die Faber vom Kontinent her einführte. Glaube, nicht Gefühl ist nach Newman das einfache und sichere Mittel, um mit Christus in Beziehung zu treten. Dieser Weg ist nicht immer leicht. Doch die Meinung, wir könnten ihn durch unsere Gefühle und Vorstellungen gangbarer machen, ist ein großer und weit verbreiteter Irrtum. Viele erliegen nach dem Urteil Newmans der Versuchung, an die Stelle des Glaubens, der „farblos wie Luft oder Wasser“ ist, „ein Gefühl, eine Empfindung, eine Überzeugung oder ein Vernunftargument zu setzen, von dem sie ergriffen sind und schwärmen. Sie suchen mehr eigene Erfahrungen (wie man sagt) als Gott selbst“ (Jfc 336). Sie ziehen subjektive Gefühle der objektiven Wirklichkeit vor.

Newman blieb geduldig und gewissenhaft bei seinem Beten aus dem Glauben. Dies war nicht immer einfach, doch das erwartete er auch nicht. Schon als junger anglikanischer Geistlicher hatte er auf die Frage, ob es leicht sei zu beten, die Antwort gegeben: „Es ist uns leicht, auf eine Gefühlswallung zu warten und unsere Bitten von ihr tragen zu lassen, auch wenn wir vorher nie eine Gebetspflicht erfüllt haben; aber es ist durchaus nicht leicht, immerdar, Tag für Tag, Stunde für Stunde, bei jeder Gemütsverfassung und in allen Lebenslagen eine ruhige, gesammelte und wache Seele darzubringen. Es ist durchaus nicht leicht, den Geist vor Zerstreuung im Gebet zu bewahren und alle zerstreuenden Gedanken fernzuhalten. Es ist durchaus nicht leicht, sich lebendig zu vergegenwärtigen, was wir eben tun, wer vor uns steht, was wir suchen, und welches unser Zustand ist. Es ist gar nicht leicht, die Welt abzuschütteln und zu begreifen, dass Gott und Christus uns hören, dass Heilige und Engel um uns stehen und dass der Teufel wünscht, uns an sich zu reißen… Wo aber ist der wirkliche ernste Geist, der behauptete, es sei leicht, an Gebetsformeln Gefallen zu finden und sie richtig zu üben. Ist nicht unsere Freude daran im besten Fall eine vorübergehende und unsere Andacht eine ungeregelte? Ist das alles befriedigend und erhebend?“ (DP IV 91-92).

Newman machte sich keinerlei Illusionen über die Schwierigkeiten beim Beten und über die Forderungen, die es an jeden Menschen stellt. Er selbst litt zeitweilig an innerer Trockenheit und mangelnder Andacht und scheute sich nicht, Gott um echte Liebe und glühenden Eifer zu bitten. Natürlich gab es auch Raum für Gefühle in seinem Beten: Newman nennt sie die „Schönheit“ der Heiligkeit und stellt fest, dass sie uns innerlich jung halten, während wir äußerlich älter werden. Aber sie stehen nicht in unserer Macht und können daher nicht Prüfstein unseres Gebetes sein. Wenn er um „glühenden“ Eifer bittet, meint er damit kein vergängliches Gefühl, das keinen Gewinn bringt, sondern ein Anteilnehmen an Gottes ewiger Liebe, die durch den Heiligen Geist in unsere Seele eingegossen wird:

„Herr, wenn ich um Glut bitte, bitte ich um wahre Kraft, Beharrlichkeit und Ausdauer; ich bitte um Befreiung von allen menschlichen Beweggründen und um die aufrichtige Absicht, dir zu gefallen; wenn ich um Glut bitte, bitte ich um Glauben, Hoffnung und Liebe in ihrem höchsten, himmlischen Sinn. Wenn ich um Glut bitte, bitte ich um Erlösung von Menschenfurcht und Ehrsucht; ich bitte um die Gabe des Gebets, weil sie über alles süß ist. Ich bitte um das treue Pflichtgefühl, das aus sehnender Liebe entspringt; ich bitte um Heiligkeit, Frieden und Freude zugleich… Herr, wenn ich um Glut bitte, bitte ich um dich selbst, um nichts anderes als um dich, o mein Gott, der du dich für uns ganz hingegeben hast. Geh ein in mein Herz mit deinem Wesen und deiner Person und erfülle es mit Glut, indem du es erfüllst mit dir. Du allein kannst die Seele des Menschen ausfüllen und hast versprochen, es zu tun. Du bist die lebendige Flamme, die immer in Liebe für die Menschen glüht. Komm in mein Herz und entflamme es nach deinem Vorbild und Beispiel“ (BG 233).

Aus diesen Zitaten geht hervor, dass Beten für Newman eng mit dem alltäglichen Leben verbunden ist. Maßstab des Gebetes sind nicht die guten Gefühle, die jemand bei einer bestimmten Frömmigkeitsübung haben mag, sondern der Fortschritt in der konkreten Lebensführung. Wenn das Gebet jemanden dazu führt, bereitwilliger zu gehorchen, das Kreuz mit größerer Liebe zu tragen, auf dem Weg der Bekehrung und Tugend voranzuschreiten, dann ist es für Newman echt. „Die Werke eines jeden Tages, das sind die Beweise, ob unsere herrlichen Betrachtungen für unser Heil von Nutzen sind oder nicht“ (DP I 303). Die heilige Theresia von Avila, eine anerkannte Meisterin des Gebetes und des geistlichen Lebens, gibt genau denselben Rat: „Werke sind es, die der Herr möchte… Das mächtigste und willkommenste Gebet ist jenes, das die besten Wirkungen hinterlässt… Ich würde jene Wirkungen als die besten bezeichnen, denen Taten folgen – wenn die Seele nicht nur nach der Ehre Gottes verlangt, sondern wirklich nach ihr strebt und Gedächtnis und Verstand dazu benutzt, herauszufinden, wie sie ihm gefallen und ihm ihre Liebe immer mehr zeigen kann… Oh, das ist wirkliches Gebet – was man von einer Handvoll Tröstungen, die nichts anderes vollbringen, als uns selbst zu trösten, nicht sagen kann. Ich würde nie ein Gebet wollen, das nicht die Tugenden in mir wachsen lässt.“[5]

Newman wusste, dass Beten eine Herausforderung für die gläubige Seele ist. Wenn man dem Gebet treu bleibt, wird es nicht an Zeiten der Prüfung und Läuterung fehlen. Newman gab nicht vor, eine besondere Gebetsmethode zu kennen, die leichten und schnellen Erfolg garantiert. Nur die beständige Übung sowie ein Leben aus dem Glauben und aus dem Gehorsam gegenüber dem göttlichen Willen führen voran. Wie jede andere Haltung wird auch das Beten durch Übung erlernt. Newman gibt den folgenden Rat: „Um gut zu beten, müssen wir damit beginnen, mangelhaft zu beten; denn unser ganzes Tun ist mangelhaft. Ist das nicht klar? Wer würde bei irgendeinem anderen Werk, bevor er es tut, zuwarten, bis er es vollkommen tun kann?“ (DP I 296-297).

Derselbe Rat kommt in den folgenden Worten von Papst Paul VI. zum Ausdruck: „Wenn du den Geschmack am Beten verloren hast, wirst du das Verlangen danach wiedergewinnen, wenn du in Demut beginnst, dich im Beten zu üben.“[6] Der heilige Franz von Sales pflegte zu sagen: „Wenn du nicht beten kannst, dann bete!“

Schließlich ist aufrichtiges Beten auch ein beharrliches Beten. Weder dem eigennützigen Bitten in einer Zeit der Not noch der gelegentlichen Anstrengung ist Erfolg verheißen, sondern nur dem ausdauernden Bemühen. Wir „sollen allezeit beten und nicht nachlassen“ (Lk 18,1), lehrt uns das Evangelium. Dazu schreibt Newman: „Uns ist ausdrücklich aufgetragen, immer wieder zu bitten, im Gebet inständig fortzufahren, um Erfolg zu haben… Nicht ein oder zwei Gebete sind es, die uns einen Anspruch auf Gottes Erbarmen geben, sondern es ist das immerwährende und beharrliche Gebet“ (DP VI 178-179).

3. Das Fürbittgebet

Die Art des Betens, die Newman ganz spontan aus dem Herzen kam, war das Fürbittgebet, das ihm das von der Heiligen Schrift am eindringlichsten empfohlene Gebet zu sein schien. Dieses Gebet ist nicht ein selbstsüchtiges Bitten um Dinge, derer wir bedürfen. Es ist wesentlich Gebet für andere oder – wie Newman sagt – „für uns und andere zusammen, für die Kirche und für die Welt, damit sie zur Kirche geführt werde“ (DP III 385). Fürbittendes Gebet erwächst aus dem sozialen Wesen des Menschen und aus seiner gänzlichen Abhängigkeit von Gott in allem, was er ist und hat. Es ist das charakteristische Gebet derer, die in Liebe und Glaube miteinander in der Kirche Christi verbunden sind:

„Die Fürbitte ist das besondere Merkmal der christlichen Gottesverehrung, das Vorrecht der himmlischen Kindschaft, die Betätigung des vollkommenen und geistlichen Menschen… Sollen die Christen gemeinschaftlich leben, dann werden sie auch gemeinschaftlich beten; und gemeinsames Gebet hat notgedrungen fürbittenden Charakter, da wir es füreinander und für das Ganze und für uns selbst nur als Glied des Ganzen verrichten. In dem besonderen Maß also, wie das Evangelium uns die Einheit zur Pflicht macht, nimmt auch das Gebet, wie das Evangelium es will, am sozialen Charakter teil; und die Fürbitte wird zum Zeichen dafür, dass es eine katholische Kirche gibt“ (DP III 385-386, 388).

Newman war ein Mensch, der leicht Freunde gewann. Er vereinte sie alle in einer Kette fürbittenden Gebets, die sein ganzes Leben hindurch Bestand hatte. Wir haben bereits die langen Listen von Namen und Anliegen erwähnt, die er in ein Heft geschrieben hatte, um an den verschiedenen Wochentagen ihrer zu gedenken. Diese Listen wurden ihm durch den täglichen Gebrauch immer vertrauter. Unter den Menschen, für die er betete, waren unter anderem Patenkinder, seine Lieben, jene, die ihm kühl gegenüberstanden, Wohltäter, Konvertiten, irische Freunde, die Toten. Manche Beispiele zeigen, wie beharrlich und treu er dieses Gedenken gehalten hat. Der evangelikale Geistliche Walter Mayers, der entscheidend zur Hinwendung des 15-jährigen Newman zu Gott beigetragen hatte, starb frühzeitig im Jahr 1828. Noch nach 42 Jahren betete Newman am Jahrestag seines Todes bei der heiligen Messe für ihn (vgl. LD XXV 38).

Bei aller Geistesgröße verachtete Newman nicht die traditionellen Gebete der einfachen Gläubigen. In seinen Betrachtungen und Gebeten finden wir den reinsten Ausdruck seines Betens und seiner Spiritualität. Dieses Buch enthält eine Litanei und eine Novene zu Ehren des heiligen Philipp Neri, ein Triduum zum heiligen Josef, Betrachtungen zu den Stationen des Kreuzweges, Gebete und Betrachtungen für einen Besuch vor dem Allerheiligsten, Gebete um das Licht der Wahrheit, um einen guten Tod, für die Verstorbenen. Diese Seiten geben uns Einblick in die Ernsthaftigkeit und Einfachheit seiner betenden Seele. Sie führen uns zu der Überzeugung, dass der Wert des Betens nicht an hohen Gedanken und kunstvollen Formulierungen zu messen ist, sondern am Glauben und an der Liebe des Beters. Wie können wir, fragt Newman einmal, über unsere eigenen Schwierigkeiten, über den schlechten Zustand der Welt oder über den Verlust von Seelen klagen, „wenn wir die Fürbitten in der Litanei, in den Psalmen und beim Empfang der heiligen Kommunion nur oberflächlich gesprochen haben?“ (DP III 401). Er besaß eine hohe Wertschätzung für das Gebet der Kirche und vertraute auf seine Macht.

4. Das Breviergebet und die Psalmen

Newman liebte das römische Brevier und benutzte es gewissenhaft seit der Zeit, als er zum ersten Mal ein Exemplar – eine Gabe seines verstorbenen Freundes Hurrell Froude (1836) – erhalten hatte. In demselben Jahr schrieb er den Traktat 75, der aus einer kurzen Geschichte des Breviers und einer Übersetzung verschiedener Offizien und Horen bestand. Er sah im Breviergebet eine solche „Erhabenheit und Schönheit“, dass es einen unbedachten Anglikaner sehr wohl zu einer Voreingenommenheit zugunsten der katholischen Kirche bringen könnte. Da er zu jener Zeit noch der Kirche von England angehörte, versuchte er durch diesen Traktat, „den Gegnern eine Waffe zu entwenden.“ [7] Er empfahl seinen Lesern das Brevier nicht nur als Hilfe für die täglichen anglikanischen Gottesdienste, sondern auch für das persönliche Gebet. Dieser Traktat Newmans wurde sehr gut verkauft, und einige seiner Schüler begannen daraufhin, jeden Tag das Brevier zu beten.

Newman war von den Gebeten im Brevier und von der Anordnung der Lesungen, Fürbitten und Psalmen über den ganzen Tag hin sehr angetan. Das Brevier half ihm, die verschiedenen Abschnitte des Tages zu heiligen – und so die Zeit überhaupt, deren Vergänglichkeit ihm sehr bewusst war.[8] Er hatte seine Freude an der Fülle der Schriftlesungen, die es enthielt, auch wenn er bedauerte, dass der Gebrauch der Heiligen Schrift im römischen Brevier gegenüber dem monastischen Offizium eingeschränkt worden war. Er wäre gewiss glücklich über das erneuerte Stundengebet, das nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil mit einer größeren Fülle an biblischen und patristischen Lesungen herausgegeben wurde.

Besonders liebte Newman den Psalter, „dieses wunderbare Handbuch des Gebetes und des Lobpreises, das von der Zeit an, da seine verschiedenen Teile zuerst komponiert wurden, bis herab zu den letzten paar Jahrhunderten die kostbarste Wegzehrung des christlichen Gemüts auf seiner Reise durch die Wüste gewesen ist“ (HS 274). Wie die Kirchenväter forschte er nach dem geistlichen und christlichen Sinn der Psalmen und bezog sie auf die Kirche und auf die aktuellen Lebensumstände der Christen seiner Zeit. Aus diesen ursprünglich jüdischen Gebeten des Alten Testaments können wir „eine Fülle von erbaulichen Lehren ableiten und den Hauch Christi verspüren“ (DP IX 258).

In den Jahren des Suchens und Ringens vor seinem Eintritt in die katholische Kirche betete Newman das Brevier in seiner halb-monastischen Gemeinschaft in Littlemore. Für ihn war dies eine Zeit der Läuterung und der Prüfung. Dabei nahm er seine Zuflucht zum inspirierten Wort der Psalmen, um daraus Trost und Kraft zu schöpfen, indem er ihre Klagen und Bitten, ihre Hoffnungen und Freuden auf sich selbst bezog. Nach einer Betrachtung schrieb er am 23. Dezember 1843 in sein Tagebuch: „Großer Mangel an Stoff; begab mich daran, die großen Antiphonen des Advents zu wiederholen“ (SB 233). Ein Jahr später, am 16. November 1844, klagte er in großer innerer Not: „Tagelang tut mir buchstäblich das Herz weh, und manchmal scheint es mir, als ob alle Klagen des Psalmisten auf mich Anwendung finden“ (Apo 265). Und am 30. März 1845, sechs Monate vor seiner Konversion, schrieb er: „Sie werden verstehen, wie mich dieser Zweifel quält. Darum habe ich gewartet und auf Licht gehofft, und mit den Worten des Psalmisten gebetet: ‚Gib mir ein Zeichen‘ (Ps 85,17)“ (Apo 268). Das Buch der Psalmen mit seinen zwei Hauptthemen der Vernichtung der Feinde Gottes und des Leidens des Gottesvolkes[9] schien ihm genau den fortwährenden Zustand der Kirche und ihrer treuen Glieder zu beschreiben: stets schwach in sich, aber stark im Herrn; immer verfolgt und verachtet, aber begnadet und geliebt von Gott. In entscheidenden Momenten, etwa als er 1833 in Sizilien schwer erkrankt war, fand er Trost und neues Vertrauen durch das Beten der folgenden Verse:

„Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen: Woher kommt mir Hilfe? Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Er lässt deinen Fuß nicht wanken; er, der dich behütet, schläft nicht. Nein, der Hüter Israels schläft und schlummert nicht. Der Herr ist dein Hüter, der Herr gibt dir Schatten; er steht dir zur Seite. Bei Tag wird dir die Sonne nicht schaden noch der Mond in der Nacht. Der Herr behüte dich vor allem Bösen, er behüte dein Leben. Der Herr behüte dich, wenn du fortgehst und wiederkommst, von nun an bis in Ewigkeit“ Ps 121 (120).

In seinem Zimmer im Oratorium in Birmingham heftete Newman über seinem Betstuhl zwei Stellen aus den Psalmen an die Wand. Sie müssen ihm sehr teuer gewesen sein und bringen eine Grundhaltung seiner Seele zum Ausdruck. Sie handeln von den Leiden des Gerechten, der sich nicht in die Gemeinschaft der Bösen begibt und Trost findet im Gedanken an die Vergänglichkeit des Lebens, in der Reue über die Untreue in der Vergangenheit und im festen Vertrauen auf Gottes Beistand in der Zukunft:

„Herr, tu mir mein Ende kund und die Zahl meiner Tage! Lass mich erkennen, wie sehr ich vergänglich bin!… Entreiß mich allen, die mir Unrecht tun, und überlass mich nicht dem Spott der Toren! Ich bin verstummt, ich tue den Mund nicht mehr auf. Denn so hast du es gefügt… Vertrau auf den Herrn und tu das Gute, bleib wohnen im Land und bewahre Treue! Freu dich innig am Herrn! Dann gibt er dir, was dein Herz begehrt“ Ps 39 (38), 5,9-10; 37 (36), 3-4.

Diese Worte lüften den Schleier, der Newmans innere Verbundenheit mit Gott umhüllte. Es ist bezeichnend, dass er die Worte, die am tiefsten sein Verhältnis zu Gott zum Ausdruck bringen, nicht in einem seiner vielen Bücher über Spiritualität und Theologie fand, sondern im inspirierten Wort der Psalmen, der größten Gebete aller Zeiten. Das tägliche Breviergebet war ihm nicht bloß eine Pflicht, die ihm als Priester auferlegt war, sondern auch eine Quelle geistlicher Freude und Hilfe. Als Katholik wurde seine Liebe zum römischen Brevier, „dem feierlichen Gebet des Klerus, dem vereinten Gebet“ (LD XXV 79), und zu den inspirierten Psalmen noch größer. Private Frömmigkeitsformen sind auf ihre Weise gut, aber das Brevier und die Feier der Eucharistie „haben eine Anmut und Zartheit, wie sie den vielen populären Andachtsbüchern fehlt“ (LD XXV 16). Einer von seinen Freunden im Oratorium, der über Jahre mit ihm zusammengelebt hatte, schenkte uns das folgende Zeugnis über Newman: „Er hielt immer sehr am Breviergebet fest, und er freute sich besonders über die Wiederkehr der Sonntags- und anderer längerer Offizien. Es wurde ihm nie zu lange, über seine Lieblingsstellen zu sprechen.“[10] Als er im hohen Alter wegen des nachlassenden Augenlichts gezwungen war, das tägliche Beten des Breviers aufzugeben, war ihm dies eine harte Prüfung. Er ersetzte es dann durch den Rosenkranz.

5. Der Rosenkranz

Newmans Verehrung für die Jungfrau Maria ist allgemein bekannt. Jean Guitton hat Newman den Doctor marianus des 19. Jahrhunderts genannt.[11] Schon als Anglikaner verehrte er die Mutter des Erlösers. Natürlich konnte er vor seiner Konversion die katholische Lehre von der Anrufung der Heiligen nicht billigen, aber er anerkannte die Jungfrau Maria als mächtige Fürsprecherin und sah in ihr ein Vorbild des Glaubens und der wahren Weisheit. Wenn wir das ganze Geheimnis der Menschwerdung des Sohnes Gottes im Glauben annehmen, müssen wir auch in Ehrfurcht auf die Fürsprache der Mutter des Erlösers vertrauen. Als Katholik machte sich Newman die traditionellen katholischen Andachtsformen zu Ehren Unserer Lieben Frau zu eigen. Sein Vertrauen zu ihr erwuchs ihm aus dem Glauben, dass sie auf Grund ihrer Mitwirkung an der Erlösung als zweite Eva die Fürsprecherin für uns ist. Diese Lehre entnahm er den Schriften des heiligen Justin und des heiligen Irenäus. Er schrieb: „Während alle Heiligen durch die Verdienste und die Gnade Christi für uns Fürsprache einlegen, ist sie die Fürsprecherin und Helferin (Advocata, heiliger Irenäus). Dies ist ihr ureigener Anteil an der Heilsökonomie, so dass sie, die den Willen unseres Herrn im Innersten kennt, seinem Willen entsprechend betet und das berufene Werkzeug oder der Kanal ist, wodurch dieser Wille ausgeführt wird. Daher geht alles durch die Hand Marias – und dies ist ein entscheidender Grund, um sie um ihr Gebet zu bitten“ (LD XXII 68). In diesem Sinn kann ihre Fürsprache als „allmächtig“ bezeichnet werden, „weil sie alles, was sie begehrt, durch ihr Gebet erlangen kann“ (GSK 306).

Von den vielen marianischen Frömmigkeitsformen liebte Newman am meisten den Rosenkranz. Er schien ihm die schönste, einfachste und wirksamste aller privaten Andachten zu sein, von einer „besänftigenden Süße“, die sonst nirgendwo zu finden ist.[12] Obwohl er zurückhaltend war, den Konvertierten oder jenen, die sich auf die Konversion vorbereiteten, besondere Frömmigkeitsübungen aufzuerlegen, hatte er keine Bedenken, ihnen zur Vorbereitung auf das Geschenk des Glaubens oder als Dank dafür das Rosenkranzgebet ans Herz zu legen (vgl. LD XII 217-218, 263).

Der tägliche Rosenkranz half Newman, die großen dogmatischen Wahrheiten des Glaubens auf einfache und vertraute Weise zu betrachten. Sein eigenes geistliches Leben gründete in der gesunden Glaubenslehre. Dogma und Lehre blieben für ihn aber nicht bloß intellektuelle und abstrakte Wahrheiten. Sie waren ihm persönliche und wirkliche Werte, die vor allen in der Person und in der Lehre Christi aufleuchteten. Der Rosenkranz half ihm, diese Wahrheiten anschaulich zu machen und die Zustimmung zum Dogma in einen Akt der Verehrung und Anbetung umzugestalten. Den Buben im Oscott College erklärte er, dass „die große Kraft des Rosenkranzes darin liegt, dass er das Glaubensbekenntnis zu einem Gebet macht; natürlich ist das Credo als solches schon Gebet und eine große Ehrbezeugung Gott gegenüber. Aber der Rosenkranz stellt uns die großen Wahrheiten des Lebens und Sterbens Christi vor Augen und bringt sie unserem Herzen näher. Wir betrachten so all die großen Geheimnisse seines Lebens: von seiner Geburt in der Krippe bis zu seinem Leiden und zu seinem Leben in Herrlichkeit.“[13] Darüber hinaus ermöglicht uns der Rosenkranz, diese Geheimnisse gleichsam mit den Augen Marias, der Mutter unseres Erlösers, zu betrachten; so werden sie ins Licht ihrer Mütterlichkeit gestellt und prägen sich tiefer unseren Herzen ein.

Newman liebte seinen Rosenkranz: „Es gibt nichts, was mir mehr Freude macht“ (LD XII 217). Der Rosenkranz war für ihn nicht eine Angelegenheit bloß mechanischer Wiederholung, sondern ein Betrachten und Nachsinnen über die Geheimnisse des Lebens unseres Herrn zusammen mit seiner Mutter. Er sagt uns nicht ausdrücklich, wie er den Rosenkranz gebetet hat. Der folgende Rat für einen Konvertiten, den er begleitet hat, gibt aber wahrscheinlich seine eigene Gebetsweise wider: „Versuche es folgendermaßen: Stelle dir bei jedem Geheimnis ein Bild vor Augen und richte deinen Geist auf dieses Bild (etwa auf die Verkündigung, das Leiden, usw.). Während du das ‚Vater unser‘ und die zehn ‚Gegrüßet seist du Maria‘ betest, denke nicht an die einzelnen Worte, sprich sie nur deutlich aus. Mach das Gebet zu einer Meditation. Dies wird dir vielleicht helfen, die Müdigkeit zu überwinden“ (LD XII 263). Es versteht sich von selbst, dass die Wiederholung des „Vater unser“ und der „Gegrüßet seist du Maria“ dann ihr Ziel erreicht hat und wirkliches Gebet geworden ist.

Die Mitglieder des Oratoriums in Birmingham erinnerten sich, wie Newman in seinem langen Leben mit Lesen oder Schreiben beschäftigt oder sonst, mit einem Rosenkranz in der Hand, in das stille Gebet versunken war. Der Anblick dieses demütigen Mannes von so großem Geist und mit so außergewöhnlichen Gaben und Leistungen, der spontan immer wieder seinen Rosenkranz in die Hand nahm und dadurch Hilfe für das Gebet und die Vereinigung mit Gott fand, erinnert uns daran, den verborgenen Wert der mancherorts vergessenen Schätze wieder zu entdecken, bevor wir sie zugunsten trügerischer Wege der Erfahrung Gottes aufgeben.

6. „Bedenke, in wessen Gegenwart du trittst!“

Newman bedachte oft die folgenden drei Arten der Gegenwart Gottes und fand darin eine bedeutsame Hilfe für sein persönliches Gebet. Wenn wir sie vor Augen haben, werden sie auch uns helfen, im Gebet die Gemeinschaft mit Gott zu finden.

Die erste Art der Gegenwart Gottes ist die Einwohnung der heiligsten Dreifaltigkeit in unserer Seele. Jeder Mensch, der im Stand der Gnade lebt, kann sich dieser göttlichen Anwesenheit in seinem Innern erfreuen. Sein Sprechen, seine Anbetung und sein Lobpreis richten sich nicht an ein abstraktes Wesen, sondern an einen persönlichen Herrn und Freund: an den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist. Sich dieser göttlichen Gegenwart in unserem Leben bewusst zu werden, ist in sich schon ein Gebet und ein sicheres Mittel zur Gemeinschaft mit Gott. Newman mahnt in einer Predigt: „Wir wollen kurz, bevor wir beten, erwägen, in wessen Gegenwart wir eintreten, – in die Gegenwart Gottes! Wie bedürfen wir da demütiger, schlichter und unterwürfiger Gedanken!, wie es sich für Geschöpfe… für verlorene Sünder geziemt… und noch mehr für seine dankbaren Diener, die er um den Preis seines Blutes vom Verderben losgekauft hat“ (DP I 292). Dieser Ratschlag ist wie ein Echo dessen, was die heilige Theresia von Avila mit beinahe denselben Worten ausdrückte, obwohl Newman ihre Werke nie gelesen hat: „Wer könnte es wohl als schlecht empfinden, wenn man sich zu Beginn des Stundengebetes oder des Rosenkranzes erst darauf besinnt, mit wem man nun spricht und wer man selbst ist, um zu wissen, wie man ihm begegnen muss?… Wir brauchen keine Flügel, um zu ihm zu gelangen, sondern müssen nur in die Einsamkeit gehen und ihn in unserem eigenen Inneren anschauen.“[14]

Zweitens wandte sich Newman an die wirkliche Gegenwart Christi im Allerheiligsten Sakrament. Vor allem als Katholik fand er in der eucharistischen Gegenwart eine Quelle des Trostes und der Ermutigung während der vielen Jahre, in denen er mit Prüfungen und Verdächtigungen konfrontiert war. Je mehr er von den Menschen missverstanden und zurückgewiesen wurde, desto stärker fühlte er, dass er im eucharistischen Herrn einen Freund hatte, der ihn verstand und tröstete. In Gegenwart des Allerheiligsten fühlte er sich nicht allein oder einsam. Jedem, der unter der scheinbaren Abwesenheit Gottes oder dem tatsächlichen Fehlen von menschlichen Freunden leidet, würde Newman den Rat geben, sich dem Allerheiligsten zuzuwenden und mit dem zu sprechen, der uns nie allein lässt. Obwohl man überall beten kann, war für Newman das Knien vor dem Tabernakel die bevorzugte Weise des Lobes und der Fürbitte. Dies ist auch die Überzeugung aller Seelen, die durch Glaube und Liebe zur Freundschaft mit Christus gelangen (vgl. Papst Benedikt XVI., Predigt bei der marianischen Vesper mit den Ordensleuten und Seminaristen Bayerns in Altötting am 11. September 2006).

Drittens wusste sich Newman beim Beten durch die Gegenwart Christi in der Heiligen Schrift gestützt und inspiriert. Er stellte fest, dass seine Vorstellungskraft ihm nur sehr wenig geholfen hatte; was er nie gesehen oder worüber er nie gelesen hatte, wirkte nicht auf ihn ein. Zudem hätte sein schöpferischer Geist ihn dazu versucht, beim Beten schöne Gedanken zu ersinnen und vor sich selbst in eleganten Worten auszudrücken. Aber er erkannte, dass eine solche intellektuelle Übung zwar mit religiösen Themen verbunden, aber kein Gebet im eigentlichen Sinn wäre. Die Gegenwart Christi im inspirierten Wort der Heiligen Schrift war für ihn deshalb von großem Nutzen: „Ich schöpfe mehr aus dem Leben unseres Herrn im Evangelium als aus einem Traktat de Deo. Ich habe mehr Gewinn aus drei Versen des heiligen Johannes als aus drei Punkten einer Meditation“ (HS 9). Die Evangelien versetzten ihn in die Gegenwart einer lebendigen Person und machten die abstrakten Inhalte der Theologie und des Dogmas zu lebendigen Bildern in seiner Seele. Dieser Gedanke mag uns an ein anderes, vielleicht bekannteres Zeugnis erinnern: „Das Evangelium aber vor allem andern gibt mir das Nötige für das innere Gebet, in ihm finde ich alles, was meine arme kleine Seele braucht. In ihm entdecke ich immer neue Klarheiten, verborgene und geheimnisvolle Bedeutungen.“[15]

Schluss

Das lange Leben von John Henry Newman war ein Leben des beständigen Betens und Verbundenseins mit der unsichtbaren Welt. Es war kein mystischer Weg mit außergewöhnlichen Erfahrungen, sondern ein ständiges Mühen in der Schwachheit und Dunkelheit des menschlichen Daseins. Newman durchlitt Stunden größter Bitterkeit und Not, aber er kannte auch Augenblicke friedvoller Anbetung und freudigen Lobpreises. Sein Beten war einfach in seiner Form, fürbittend in seinem Wesen, eucharistisch und hingegeben in seiner persönlichen Prägung, genährt durch die Psalmen und das Evangelium. Mit dem Alter wurde sein Beten inniger und sein inneres Leben tiefer, bis er zur vollen Reife des Geistes gelangte. Schließlich wurde er selbst, sein ganzes Leben zum Gebet. Wie viele andere Freunde Gottes kann uns John Henry Newman Vorbild und Stütze auf dem schlichten, aber fordernden Weg des täglichen Gebetes sein.

Abkürzungen der Werke Newmans

Apo Apologia pro vita sua, Mainz 1951.

BG Betrachtungen und Gebete, München 1952.

DP Pfarr- und Volkspredigten (DP I-VIII), Stuttgart 1948-1956. Predigten zu Tagesfragen (DP IX), Stuttgart 1958. Predigten zu verschiedenen Anlässen (DP X), Stuttgart 1961. Predigten vor Katholiken und Andersgläubigen (DP XI), Stuttgart 1964.

GSK Vorträge über die gegenwärtige Stellung der Katholiken in England, Regensburg 1853.

HS Historische Skizzen, München 1948.

LD The Letters and Diaries of John Henry Newman, edited by Ch. St. DESSAIN et al., vols. I-VIII, Oxford 1978-1999; vols. IX-X, Oxford 2006; vols. XI-XXII, London 1961-1972; vols. XXIIIXXXI, Oxford 1973-1977.

Jfc Lectures on the Doctrine of Justification, Westminster, Md. 1966.

SB Selbstbiographie nach seinen Tagebüchern, hrsg. von H. TRISTRAM, Stuttgart 1959.


[1] Vgl. Addresses to Cardinal Newman with His Replies etc. 1879-81, edited by W. NEVILLE, London 1905, 27.

[2] Vgl. Newman the Oratorian, edited with an introductory study on the continuity between his Anglican and his Catholic ministry by Placid MURRAY OSB, Dublin 1969, 59-69. Für weitere Studien über Newmans Gebetsleben: vgl. T. R. IVORY, When you Pray… The Way of Newman, in: The Way 17 (1977) 145-155; J. HONORÉ, Itinéraire spiritual de Newman. Paris 1964; Ch. St. DESSAIN, Why Pray? A Defence of Prayer largely drawn from the writings of Cardinal Newman, Langley 1969; H. TRISTRAM, With Newman at Prayer, in: John Henry Newman. Centenary Essays, London 1945, 101-125.

[3] Vgl. Ch. St. DESSAIN, Newman’s Spirituality: its Value today, in: English Spiritual Writers, edited by Ch. DAVIS, London 1961, 157-158.

[4] J. C. SHAIRP, Studies in Poetry and Philosophy, Edinburgh 1886, 247-248.

[5] Die innere Burg, V, 3,11.

[6] Apostolisches Schreiben Evangelica testificatio, 42.

[7] Tract 75, p. 1, in: Tracts for the Times, vol. III, London 1840.

[8] Vgl. D. H. MOSELEY, Newman and the Roman Breviary, in: Worship 34 (1960) 75-79.

[9] L. F. BARMANN, Newman on the Psalms as Christian Prayer, in: Worship 38 (1964) 207-214.

[10] W. WARD, The Life of John Henry Cardinal Newman, vol. II, London 1912, 533.

[11] Vgl. Newman Studien, dritte Folge, herausgegeben von H. FRIES und W. BECKER, Nürnberg 1957, 84-85, Fußnote 7.

[12] Vgl. Sayings of Cardinal Newman, Dublin 1976, 44.

[13] Ebd., 44-45.

[14] THERESIA VON JESUS OCD, Weg der Vollkommenheit, Kap. 22,3; Kap. 28,2, Leutesdorf 1992, 118, 139.

[15] THERESIA VOM KINDE JESU, Selbstbiographische Schriften, Einsiedeln 1984, 184.