Christi Tränen am Grabe des Lazarus

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Wo immer sich der Glaube an Christus findet, da ist Christus Selbst.

10. Predigt, 12. April 1835

 

„Jesus sprach: Wo habt ihr ihn hingelegt? Sie sprachen zu ihm: Herr, komm und sieh! Jesus weinte. Da sprachen die Juden: Siehe, wie er ihn lieb hatte!“ (Joh 11, 34—36)

Wenn man zum erstenmal diese Worte liest, er­hebt sich ganz natürlich in unserem Geist die Frage: Warum weinte unser Herr am Grabe des Lazarus? Er wußte doch, daß Er die Macht hatte, ihn zu er­wecken, warum spielte Er die Rolle jener, die um die Toten trauern? Beim Versuch, eine Antwort auf diese Frage zu geben, sollten wir immer bedenken, daß die Gedanken im Geist unseres Heilandes un­sere Fassungskraft weit übersteigen. Wir dringen nur schwer in die Gefühle und das Denken von Menschen unseresgleichen ein, die mit einem be­sonderen Talent bedacht sind; Philosophen und Dichter, die doch Menschen sind, sind wegen der Tiefe ihrer Gedanken dunkel. Wie tief muß dann der wunderbare Abgrund der Liebe und Einsicht in Dem sein, der, obgleich teilhaftig unserer Natur, der Sohn Gottes ist?

Dies ist doch tatsächlich schon beim ersten Blick auf den Bibelbericht selbstverständlich, wie jeder sehen kann, der sich die Mühe nimmt, ihn näher zu be­trachten. Nicht nur die obigen Worte drängen uns z. B. die Frage auf, sondern die ganze Erzählung stellt das Verhalten unseres Heilandes in verschie­denen Zügen dar, die so schwache Geschöpfe wie wir schwerlich recht vereinbaren können.

Als Er zum erstenmal die Nachricht von der Krank­heit des Lazarus erhielt, „blieb Er noch zwei Tage lang an dem Ort, wo Er Sich befand“. Dann tat Er Seinen Jüngern kund, daß Lazarus tot sei, und sagte, „Er freue Sich um ihretwillen, daß Er nicht dort gewesen sei“, und fügte hinzu: „Er gehe hin, um ihn vom Schlafe zu erwecken. Als Er hierauf nach Bethanien kam, wo Lazarus wohnte, ergriff Ihn die Trauer der Juden so, daß „Er im Geist er­schauerte und Sich betrübte“. Schließlich erweckte Er trotz Seiner Betrübnis und Seiner Tränen als­bald den Lazarus.

Es ist nach meiner Ansicht bemerkenswert, daß solche Schwierigkeiten wie diese an der Oberfläche der Schrift liegen, ganz unabhängig von jenen, die sich ergeben beim Vergleich der in Frage stehenden Stellen mit der Lehre von Seiner göttlichen Natur. Wir wissen zwar, daß in der Vereinigung Seiner göttlichen und menschlichen Eigenschaften unüber­windliche Geheimnisse enthalten sind, die mitein­ander in Widerspruch zu stehen scheinen; z. B. wie kann Er immerdar glückselig sein und dennoch weinen — allwissend sein und dennoch scheinbar unwissend; aber wenn wir auch nicht auf die Be­trachtung der sogenannten Glaubensgeheimnisse eingehen, lohnt es sich doch nachzuprüfen, ob nicht schon an der Oberfläche der Heiligen Schrift solche scheinbaren Widersprüche liegen, die uns auf an­dere Schwierigkeiten vorbereiten, solche, die sich aus einem eingehenderen Vergleich der Geschichte mit der Lehre ergeben.

Als weiteres Beispiel der angeführten Widersprüche betrachtet die Worte unseres Heilandes nach der herkömmlichen Übersetzung: „Schlafet nur und ruhet“; und unmittelbar darauf: „Stehet auf, lasset uns gehen“ (Mt 26, 45. 46).

Und wiederum: „Wer kein Schwert hat, der ver­kaufe seinen Rock und kaufe sich eines“; dann folgt: „Herr, hier sind zwei Schwerter. Und Er sprach: Genug davon.“ Endlich, als Petrus sein Schwert ergriff, sprach Er: „Stecke dein Schwert an seinen Ort; denn alle, die das Schwert ergreifen, werden durch das Schwert umkommen“ (Lk 22, 36. 38; Mt 26, 52).

Ich behaupte nicht, daß wir nicht den scheinbaren Gegensatz zwischen solchen Stellen vielleicht zum Teil beheben können, sondern nur, daß es in der Erzählung im ganzen genug Anhaltspunkte gibt, die zeigen, daß der Sprecher einer ist, dessen Ge­danken nicht leicht zu erfassen sind; daß es nicht einfach ist, sich auch nur teilweise in die Lage Seines Geistes zu versetzen und festzustellen, aus welchen Gefühlen und Beweggründen Er dies oder jenes gesagt hat; mit einem Wort, ich möchte euch einprägen, daß die Worte unseres Heilandes nicht derart sind, daß wir sie nur einmal hören sollten und dann nicht mehr, sondern daß wir, um sie zu verstehen, sie in uns aufnehmen und in ihnen leben müssen, und so gleichsam Schritt für Schritt in ihren Sinn hineinwachsen.

Es wäre gut, wenn wir diese Notwendigkeit besser verstünden, als es der Fall ist. Es ist heutzutage sehr Mode geworden, den Heiland der Welt in einer ehrfurchtslosen und unwirklichen Weise zu betrachten — als eine bloße Idee oder Vision; von Ihm so dürftig und nutzlos zu sprechen, als wüßten wir nur Seinen Namen, obwohl die Schrift Ihn uns vor Augen gestellt hat  in  Seinem tatsächlichen Wandel auf Erden, in Seinen Gebärden, Worten und Taten, damit wir etwas haben, worauf wir un­sere Augen richten können. Und solange wir dieses nicht lernen: die unklaren Darstellungen über Seine Liebe, über Seine Bereitschaft, den Sünder aufzu­nehmen, über Seine Gewährung von Reue und geist­licher Hilfe und dergleichen aufzugeben, und so­lange wir Ihn nicht in Seinen einzelnen und wirk­lichen Werken betrachten, wie die Schrift sie uns vorlegt, haben wir sicherlich nicht jene eigentliche Frucht aus den Evangelien gezogen, die sie zu ver­mitteln bestimmt sind. Ja, wir sind in einer gewissen Gefahr, vielleicht sogar hinsichtlich unseres Glau­bens; denn es ist zu befürchten, daß er allmählich sich ändert oder dahinschwindet, daß er mangelhaft oder verkehrt wird, wenn die Anschauung über Christus nur eine Schöpfung unseres Geistes ist; wenn wir dagegen Christus betrachten, wie Er in den Evangelien geoffenbart ist, den Christus, der in ihnen existiert, unabhängig von unseren eigenen Vorstellungen, und ebenso wirklich ein lebendes Wesen ist und genauso wahr auf Erden geweilt ist wie jeder von uns, dann werden wir schließlich an Ihn glauben mit einer Überzeugung und einem Ver­trauen und mit einer Ungeteiltheit, die ebensowenig vernichtet werden können wie der Glaube an unsere Sinne. Ein Christ kann unmöglich über die Evange­lien nachdenken, ohne die Gewißheit zu spüren, daß Der, welcher ihren Inhalt bildet. Gott ist; aber es ist durchaus möglich, daß wir in einer unbestimm­ten Weise über Seine Liebe zu uns sprechen und den Namen Christi in den Mund nehmen, ohne überhaupt zu begreifen, daß Er der Lebendige Sohn des Vaters ist, oder ohne daß wir im Innern einen Anker für unseren Glauben haben, der uns gegen die Gefahr eines künftigen Abfalles schützte.

Unter diesem Eindruck und im Anschluß an die ehrfürchtigen Gedanken, mit denen ich begann, will ich also einige Worte sagen und das Weinen unseres Herrn am Grab des Lazarus deuten; mehr noch, ich möchte euch nahelegen, was ein jeder von euch, so Gott will, daraus zu seiner Besserung ent­nehmen kann.

Was veranlaßte unseren Herrn über den Toten zu weinen, wo Er doch diesen mit einem Worte wie­derbeleben konnte, ja dies beabsichtigte?

1. Erstens weinte Er aus echtem Mitleid mit dem Schmerz anderer, wie uns der Zusammenhang lehrt. „Als Jesus Maria und die Juden, die mit ihr ge­kommen waren, auch weinen sah, erschauerte Er im Geist und betrübte Sich.“ Das eigentliche Wesen des Mitleids oder des Mitgefühls besteht, wie das Wort sagt, darin, „sich zu freuen mit den Fröh­lichen und zu weinen mit den Weinenden“ (Röm 12, 15). Wir wissen, so ist es unter den Menschen; und Gott sagt uns, daß auch Er mitleidig ist und voll von zärtlichem Erbarmen. Doch wir wissen nicht recht, was das bedeutet, denn wie kann Gott Sich freuen oder traurig sein? Gerade wegen der Vollkommenheit Seiner Natur kann Gott kein Mit­leid zeigen, wenigstens nicht so, daß Wesen mit so beschränktem Geist wie wir es begreifen. Er ist allerdings vor uns verborgen; aber wenn wir Ihn sehen dürften, wie könnten wir dann Zeichen des Mitleids in dem Ewigen und Unveränder­lichen erkennen? Worte und Werke des Mitleids enthüllt Er uns allerdings; aber es ist gerade der Anblick des Mitleids, der den Dulder sogar mehr ergreift und tröstet als dessen Früchte. Nun können wir aber Gottes Mitleid nicht sehen; und obwohl der Sohn Gottes genauso großes Erbarmen mit uns hatte wie Sein Vater, zeigte Er es uns nicht, solange Er in Seines Vaters Schoß blieb. Als Er aber Fleisch annahm und auf Erden erschien, zeigte Er uns die Gottheit in neuer Offenbarung. Er bekleidete Sich mit einer neuen Art von Eigenschaften, nämlich denen unseres Fleisches, indem Er eine menschliche Seele und einen menschlichen Leib annahm, damit Gedanken, Gefühle und Zuneigungen Sein eigen seien, die den unsrigen antworten und uns Seines zärtlichen Erbarmens versichern könnten. Wenn also unser Heiland aus Mitleid mit Marias Tränen weint, so wollen wir nicht sagen, es sei die von natürlichem Gefühl überwältigte Liebe eines Men­schen. Es ist die Liebe eines Gottes, das mitleidige Herz des Allmächtigen und Ewigen, der Sich herab­ließ, es in einer für uns begreiflichen Art zu zeigen, in der Weise der menschlichen Natur.

Jesus weinte daher nicht nur aus Seiner gedanken­tiefen Einsicht heraus, sondern aus spontanem Zart­gefühl, aus Freundlichkeit und Erbarmen, aus all­umfassender Herzensgüte und aus der überreichen, hegenden Liebe des Gottessohnes zu Seinem eige­nen Werk, dem Menschengeschlecht. Ihre Tränen rührten Ihn sofort, gerade wie ihr Elend Ihn vom Himmel herabgezogen hatte. Sein Ohr war für sie offen und der Laut des Weinens drang sogleich an Sein Herz.

2. Sodann dürfen wir annehmen (wenn man Ver­mutungen anstellen darf), daß Sein so spontan auf­gerufenes Erbarmen weiter getrieben wurde, bei den mannigfaltigen Umständen menschlichen Schicksals überhaupt zu verweilen, die Erbarmen erregen. Es wurde geweckt und begann auf das Elend der Welt ringsum zu blicken. Was sah Er da? Er sah den Sieg des Todes sichtbar zur Schau gestellt; eine jam­mernde Menge, — alles war zugegen, was Trauer wecken konnte, der ausgenommen, der ihr Haupt­gegenstand war. Er war nicht mehr — ein Stein be­zeichnete den Platz, wo er lag; Martha und Maria, die Er gekannt und geliebt hatte in Gesellschaft ihres Bruders, jetzt waren sie vereinsamt und näherten sich Ihm, erst die eine und dann die an­dere, in ganz anderer Stimmung und Lage als bis­her — in tiefer Betrübnis! Im Glauben zwar und in Ergebenheit, doch augenscheinlich mit etwas wie einer zarten Klage auf den Lippen: „Herr, wenn Du hier gewesen wärest, wäre mein Bruder nicht gestorben.“ Dieser Art ist das Urteil gewesen, das über Ihn ergangen ist, oder der Zweifel, der sich gegen Ihn in der Brust des Geschöpfes zu allen Zeiten erhoben hat. Die Menschen haben die Sünde und das Elend ringsum gesehen und, sei es im Glauben oder Unglauben, gesagt: „Wenn Du hier gewesen wärest“, wenn Du dazwischengetreten wärest, wäre es anders gewesen. Hier also war der Schöpfer umgeben von den Werken Seiner Hände, die Ihn zwar anbeteten, aber doch zu fragen schie­nen, warum Er dulde, daß Sein eigenes Werk so verdorben werde. Hier war der Schöpfer der Welt bei einer Todesszene und sah das Ende des huld­vollen Werkes Seiner Hände. Kehrte Er nicht in Gedanken zu der Stunde der Schöpfung zurück, da Er aus dem Schoß des Vaters hervorging, um alle Dinge ins Dasein zu rufen? Es hat einen Tag ge­geben, da Er auf das Werk Seiner Liebe geblickt und gesehen hatte, daß es „sehr gut“ war (Gn 1, 31). Weshalb war das Gute in Böses verwandelt, das feine Gold matt geworden? „Ein Feind hat dies getan“ (Mt 13, 28). Warum es gestattet wurde, wie es zustande kam, blieb Sein Geheimnis; ein Ge­heimnis, verborgen vor allen, die bei Ihm waren, wie es auch für uns heutzutage ein Geheimnis ist. Hier hatte Er mit Seinem Ewigen Vater Gedanken gemein, die keine Mitteilung duldeten. Er wollte ihnen nicht sagen, warum es so war; Er wählte einen anderen Weg, um ihre Zweifel und Klagen zu be­heben. „Er öffnete Seinen Mund nicht“ (Is 53, 7), sondern Er wirkte Zeichen. Was Er für alle Gläu­bigen getan hat, da Er Seinen Sühnetod offenbarte, ohne ihn jedoch zu erklären, das tat Er auch für Martha und Maria,  indem Er schweigend zum Grabe ging, um ihren Bruder zu erwecken, während sie noch klagten, daß Er ihn hatte sterben lassen.

Es lagen also, meine ich, zahlreiche Quellen für Seine Trauer (wenn wir ihnen nachspüren dürfen) in dem Gegensatz zwischen Adam, wie er an dem Tag seiner Erschaffung war, unschuldig und un­sterblich, und dem Menschen, wozu der Teufel ihn gemacht hatte, voll des Giftes der Sünde und des Grabeshauches; und ferner in der scheuen Klage Seiner trauernden Freunde, daß diese Wendung der Dinge zugelassen wurde. Und obwohl Er Sich anschickte, die Szene der Trauer wieder in Freude zu verwandeln, mußte trotz allem Lazarus eines Tages wieder sterben — Er schob nur die Erfüllung Seines eigenen Urteil es auf. Ein Stein lag jetzt auf ihm; und obgleich er vom Grab erweckt wurde, so mußte er sich doch nach Seinem eigenen unergründ­lichen Gesetz eines Tages wieder in das Grab legen. Es war ein Aufschub, keine Auferstehung.

3. Hier habe ich einen weiteren Gedanken ange­deutet, der unsere Beachtung verdient. Christus war gekommen, um ein Werk der Barmherzigkeit zu vollbringen, und es war ein Geheimnis in Seiner eigenen Brust. All die Liebe, die Er für Lazarus fühlte, war für andere ein Geheimnis. Er war Sich dessen bewußt, daß Er ihn liebte; aber niemand außer Ihm konnte sagen, wie tief diese Zuneigung war. Petrus fand, als seine Liebe zu Christus be­zweifelt wurde, einen Trost in der Berufung auf Ihn Selbst: „Herr, Du weißt alles, Du weißt, daß ich Dich liebe“ (Joh 21,17). Christus aber hatte auf Erden keinen Freund, der darin Sein Vertrauter sein konnte; und als Seine Gedanken sich Lazarus zuwandten und Sein Herz sich zu ihm hingezogen fühlte, war Er da nicht in der Lage Josephs? Dieser suchte nicht aus Trauer, sondern aus der ganzen Fülle  seiner  Seele  und  seiner Verlassenheit  in einem heidnischen Lande „einen Ort, wo er weinen konnte“ (Gn 42, 24), als seine Brüder vor ihm stan­den, — gerade wie wenn seine eigenen Tränen seine besten Begleiter wären und in sich eine Heil­kraft hätten, um jenen Schmerz zu lindern, den keiner mit ihm teilen konnte. Befand Er Sich nicht in  der  Lage  einer  Mutter,   die  sich  über  ihr Kind beugt und weint im Gedanken an seine Hilf­losigkeit  und  Unempfindlichkeit  gegenüber  der Liebe, die über es ausgegossen wurde? Aber die Mutter weint aus dem Gefühl ihrer Schwäche, es nicht schützen zu können; sie weiß, was jetzt ein Kind ist, wächst notwendigerweise heran und geht seinen eigenen Weg und ist weder für sein irdisches noch für sein himmlisches Wohl auf sie, sondern allein auf den Schöpfer und sich selbst angewiesen. Christi Gedanken waren anderer Art; sie waren dabei begleitet von einer eigenen besonderen Be­wegung. Ich meine damit das Bewußtsein, daß Er Macht hatte, Lazarus zu erwecken. Joseph weinte, weil er ein Geheimnis hatte, nicht nur über die Ver­gangenheit, sondern auch über die Zukunft; — Ge­heimnis von künftigem Guten wie von erlittenem Bösen — von Gutem, das er selbst zu vermitteln die Macht hatte. Und unser Herr und Heiland wußte, daß Er, während alles so düster und hoffnungslos erschien, trotz der Tränen und Klagen Seiner Freunde, trotz des vier Tage alten Leichnams, trotz des Grabes und des Steines, der auf ihm lag, ein Schlüsselwort besaß, das den Tod besiegen konnte, und Er wußte, daß Er es sogleich anwenden würde. Gibt es eine ergreifendere Stunde als die, da du dich aufmachst, eine gute Nachricht einem Freund zu bringen, der von bösen Nachrichten niederge­drückt ist.

4. Ach, es waren noch andere Gedanken, die Seine Tränen hervorriefen. Wie war denn dieses wun­derbare Geschenk an die vereinsamten Schwestern zu erstatten? Auf Seine eigenen Kosten. Joseph wußte, er konnte seinen Brüdern Freude bereiten, aber ohne eigenes Opfer. Christus schenkte dem Toten das Leben durch Seinen eigenen Tod. Seine Jünger hatten Ihm abgeraten, nach Judäa zu gehen, damit die Juden Ihn nicht töten sollten. Ihre Be­fürchtung erfüllte sich. Er ging hin, um Lazarus zu erwecken, und die Kunde von diesem Wunder war der unmittelbare Anlaß Seiner Gefangennahme und Kreuzigung. Dies wußte Er zuvor, Er sah die Zukunft vor Sich; Er sah den erweckten Lazarus, das Mahl im Hause Marthas, den Lazarus am Tische sitzen; Freude rings um Sich; Er sah Maria, die bei diesem festlichen Anlaß ihren Herrn ehrte durch die Ausgießung des kostbaren Salböls auf Seine Füße; die Juden, die sich hinzudrängten, nicht nur um Ihn, sondern auch um Lazarus zu sehen; Seinen triumphierenden Einzug in Jeru­salem; die Volksmenge, die Hosanna rief; Er sah die Leute, die die Auferweckung des Lazarus be­zeugten; die Griechen, die hergekommen waren, um am Feste anzubeten, begierig, Ihn zu sehen; die Kinder, die in den allgemeinen Jubel einstimmten; und dann die Pharisäer, die sich gegen Ihn ver­schworen, Judas, der Ihn verriet, Seine Freunde, die Ihn verließen, und das Kreuz, das Ihn aufnahm, Zweifellos zogen diese Dinge, vermengt mit vielen unaussprechlichen Gedanken, durch Seinen Geist. Er fühlte, daß Lazarus zum Leben erwachte durch Sein eigenes Opfer; daß Lazarus leben und Er ster­ben sollte; der Anblick der Dinge sollte vertauscht werden; das Fest sollte in Marthas Haus gehalten werden, aber das letzte traurige Paschamahl blieb für ihn übrig. Und Er wußte, daß dieser Tausch gänzlich Seine freiwillige Tat war. Er war aus dem Schoße Seines Vaters herabgekommen, um ein blu­tiges Sühnopfer für alle Sünden zu sein und da­durch alle Gläubigen aus dem Grab zu erwecken, wie Er damals Sich anschickte, den Lazarus zu er­wecken; ja sie zu erwecken nicht für eine Zeitlang, sondern für immer. Nun lag die harte Prüfung vor Ihm, durch die Er „das Himmelreich allen Gläu­bigen öffnen“ sollte. Während Er also das Ganze Seines Zieles betrachtete und Er dabei war, eine einzelne Tat der Barmherzigkeit zu vollbringen, sagte Er zu Martha: „Ich bin die Auferstehung und das Leben: Wer an Mich glaubt, wird leben, auch wenn er gestorben ist, und jeder, der lebt und an Mich glaubt, wird in Ewigkeit nicht sterben.“

Wir wollen nun diese tröstlichen Gedanken bei der Betrachtung unseres eigenen Todes wie des Todes unserer Freunde auf uns beziehen. Wo immer sich der Glaube an Christus findet, da ist Christus Selbst. Er sprach zu Martha: „Glaubst du das?“ Wo immer ein Herz die Antwort findet: „Herr, ich glaube“, da ist Christus gegenwärtig. Da würdigt Sich unser Herr zu bleiben, wenn auch unsichtbar — sei es über dem Sterbebett oder über dem Grab; ob wir selbst dahinsinken oder jene, die uns teuer sind. Gepriesen sei Sein Name! Nichts kann uns dieses Trostes berauben; wir wollen durch Seine Gnade ebenso davon überzeugt sein, daß Er in Liebe bei uns steht, wie wenn wir Ihn sehen würden. Nach­dem wir die Geschichte von Lazarus kennengelernt haben, wollen wir nicht einen Augenblick daran zweifeln, daß Er um uns besorgt ist. Er kennt die Anfänge unserer Krankheit, obwohl Er sich fern hält. Er weiß, wann Er wegbleiben und wann Er Sich nähern muß. Er bucht ihr Fortschreiten und ihre Stufen. Er sagt in Wahrheit, wann Sein Freund Lazarus krank ist und wann er schläft. Wir alle haben dies aus der vorliegenden Erzählung gelernt und fortan wollen wir, so Gott will, uns nie mehr über den Lauf Seiner Vorsehung beklagen. Wir wollen von Ihm nur eine Mehrung des Glaubens erbitten; — eine lebendigere Erkenntnis des Flu­ches, unter dem die Welt liegt, und der eigenen persönlichen Schuld, einen tieferen Einblick in das Geheimnis Seines Kreuzes, ein ergebeneres und un­bedingteres Vertrauen auf Seine Kraft und eine zuversichtlichere Überzeugung, daß Er uns nie mehr aufbürden wird, als wir tragen können, daß Er nie Seine Brüder mit einem Weh schlagen wird, außer es sei zu ihrem eigenen höchsten Wohl.

Newman John Henry, Pfarr- und Volkspredigten, DP III, 10, Schwabenverlag, Stuttgart 1951, 142-153.