7. Predigt, am 20. November 1831
„Vater, ich habe gesündigt wider den Himmel und vor dir, und ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen: halte mich wie einen deiner Tagelöhner!“ (Lk 15,18-19)
Das Beste, was man von dem gefallenen und erlösten Geschlecht Adams sagen kann, ist dieses, daß es seinen Fall bekennt, sich selbst darob verurteilt und versucht, wieder hochzukommen. Diese Geisteshaltung, die in der Tat als die einzig mögliche Religion den Sündern geblieben ist, wird uns im Gleichnis vom verlorenen Sohn gezeigt, der uns geschildert wird, wie er Gottes Segen zuerst empfing, dann mißbrauchte und schließlich verlor, wie er unter diesem Verlust litt und durch die bittere Erfahrung des Leidens zu sich selbst kam. Armselig ist freilich dieser Dienst, den wir anbieten können, aber das Beste, was wir bieten können, ist, den Gehorsam abermals ergreifen, wenn die Welt uns verläßt, wenn das, worauf wir uns gestützt haben, abgestorben und verloren ist! Wenn ich dies sage, so braucht ihr nicht anzunehmen, ich sei der Meinung, im Leben eines jeden von uns gäbe es einen genau bestimmten Zeitpunkt, zu dem er begann, Gott zu suchen, und wo er anfing, Ihm in Treue zu dienen. Das kann bei diesem oder jenem der Fall sein, aber es ist bei weitem nicht die Regel. Wir dürfen das geheimnisvolle Wirken des Heiligen Geistes nicht so eng begrenzen. Er läßt Sich herab, beständig auf uns einzureden, und was Er in der einen Zeit nicht erreichen kann, das erreicht Er zu einer anderen. Buße ist ein Werk, das zu verschiedenen Zeiten seinen Fortgang nimmt und nur nach und nach unter vielen Rückschlägen zur Vollendung gelangt; oder besser, und ohne irgendwie die Bedeutung des Wortes Buße zu ändern, sie ist ein Werk, nie fertig und nie abgeschlossen, unvollendet, einerseits wegen der ihr anhaftenden Unvollkommenheit, anderseits wegen der immer neuen Gelegenheiten, die sich zu ihrer Übung bieten. Immer sündigen wir, immer müssen wir unseren Reueschmerz und unseren Vorsatz des Gehorsams erneuern, unser Sündenbekenntnis und unsere Bitten um Verzeihung wiederholen. Wir brauchen auf die ersten Anfänge unserer Buße, selbst wenn wir sie verfolgen könnten, nicht zurückzublicken als auf etwas Einzigartiges und Besonderes in unserem religiösen Leben; wir sind immer nur am Anfang. Selbst der vollkommenste Christ ist an und für sich nur ein Anfänger, ein reuiger Verschwender, der Gottes Gaben vergeudet hat und nun zu Ihm kommt, um noch einmal auf die Probe gestellt zu werden, nicht als Sohn, sondern als ein gedungener Knecht.
Wir brauchen in diesem Gleichnis die Schilderung über die Rückkehr des verlorenen Sohnes nicht so zu verstehen, als besage es, daß es im gewöhnlichen Christenleben einen genau bestimmten Zustand des Ungehorsams und einen nachfolgenden Zustand der Bekehrung gäbe. Es schildert den Zustand aller Christen zu allen Zeiten und ist den Umständen entsprechend in diesem oder jenem Fall mehr oder weniger verwirklicht; verwirklicht in einer anderen Weise und in einem anderen Maß am Anfang unseres christlichen Lebens als am Ende. So will ich das Gleichnis nun betrachten, insofern es das Wesen jeder wahren Buße beschreibt.
1. Achtet zuerst auf das Wort des verlorenen Sohnes: „Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen: halte mich nur wie einen deiner Taglöhner!“ Wir wissen, Gott dienen ist vollkommene Freiheit, nicht Knechtschaft, doch nur bei jenen, die Ihm lange gedient haben; am Anfang ist es eine Art Knechtschaft, es ist eine Bürde, bis unsere Wünsche und Neigungen im Einklang stehen mit dem, was Gott verordnet hat. Darin besteht die Seligkeit der Heiligen und Engel im Himmel, daß sie Freude haben an ihrem Dienst und nur an ihrem Dienst; denn ihr Geist geht letztlich diesen einen Weg und verströmt sich im Gehorsam gegen Gott, aus freien Stücken und ohne Nachdenken oder Überlegen, so natürlich wie der Mensch sündigt. Nach diesem Zustand streben wir, wenn wir uns der Religion hingeben; an ihrem Anfang aber ist die Religion notwendigerweise fast eine Bürde und ein formgebundener Dienst. Wenn ein Mensch seine Schlechtigkeit zu sehen beginnt und zum Entschluß kommt, ein neues Leben zu führen, so fragt er: was muß ich tun? Er hat ein weites Feld vor sich und er weiß nicht, wie er es betreten soll. Er muß zur Erfüllung bestimmter, einfacher Gehorsamsakte aufgefordert werden, damit er einen Halt bekommt. Man muß ihm sagen, er solle regelmäßig zur Kirche gehen, sein Morgen- und Abendgebet verrichten und zu bestimmten Zeiten die Schrift lesen. Dies wird seinen Bemühungen ein besonderes Ziel setzen und es wird ihm Erleichterung verschaffen in der Unsicherheit und Unentschlossenheit, in die ihn die Größe seines Unterfangens bringt. Wer sieht da nicht, daß dieser Kirchenbesuch, dieses Privatgebet und diese Schriftlesung in seinem Fall großenteils das sein muß, was Formsache und Bürde genannt wird? Weil er bisher gewohnt war, nach Belieben zu handeln und sich gehen zu lassen, und weil er sehr wenig Verständnis oder Liebe für Religion hatte, kann er an diesen religiösen Pflichten keinen Gefallen finden; sie werden ihm mit Notwendigkeit lästig sein; ja, er wird nicht einmal die Fähigkeit besitzen, ihnen seine Aufmerksamkeit zu schenken. Auch wird er nicht ihren Nutzen sehen; er wird nicht herausfinden können, daß sie ihn besser machen, obwohl er sie oftmals wiederholt. Damit ist sein Gehorsam zuerst ganz und gar der eines gedungenen Knechtes, „der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut“ (Jo 15,15). So beschreibt ihn Christus. Der Knecht steht nicht im Vertrauen seines Herrn, er versteht nicht, worauf er abzielt, oder weshalb er dies befiehlt und jenes verbietet. Er führt die gegebenen Befehle aus, er geht pünktlich hierhin und dorthin, aber nur nach dem Buchstaben des Befehls. Das ist der Zustand jener, die mit dem religiösen Gehorsam beginnen. Sie sehen keinen Erfolg aus ihren Werken der Frömmigkeit und Buße, noch finden sie an ihnen Gefallen; sie fühlen sich dem Worte Gottes einfach verpflichtet, weil es Sein Wort ist. Ihre Handlungsweise schließt in der Tat Glauben ein, aber sie zeigt auch, daß sie sich in jener Lage eines Knechtes befinden, in der sich der verlorene Sohn bestenfalls fühlte. Ich betone nun das, weil ein reuiger Sünder im Gewissen oft unruhig ist, wenn er merkt, daß Religion für ihn eine Bürde bedeutet. Er ist der Meinung, er sollte sich alsbald im Herrn erfreuen, und es ist wahr, man befiehlt es ihm oft. Häufig wird er angewiesen, mit der Pflege hoher Gefühle zu beginnen. Vielleicht wird er sogar davor gewarnt, Gott etwas anzubieten, was als formgebundener Dienst bezeichnet wird. Das heißt aber den Lauf des christlichen Lebens völlig verkehren. Der verlorene Sohn urteilte besser, als er darum bat, einer der Knechte seines Vaters zu werden – er kannte seinen Platz. Wir müssen das religiöse Leben mit etwas beginnen, was wie eine Formsache aussieht. Unser Fehler liegt nicht darin, es als eine Formsache zu beginnen, sondern es als eine Formsache fortzusetzen. Denn es ist unsere Pflicht, uns immer zu mühen und zu beten, um in den wirklichen Geist unserer religiösen Übungen einzudringen, und in dem Maße wie wir sie verstehen und lieben, hören sie auf, eine Formsache und eine Bürde zu sein, und sie werden dann der wirkliche Ausdruck unseres Innern. So wandeln wir uns allmählich im Herzen von Knechten zu Kindern Gottes. Obwohl wir gleich zu Anfang angewiesen werden müssen, auf Christus als das Heil der Sünder zu schauen, so wird doch gerade Seine Liebe, wenn wir an unsere Undankbarkeit denken, uns schrecken, wiewohl sie uns zugleich ermutigt. Sie erfüllt uns mit Gewissensqual und Furcht vor dem Gericht, denn wir sind nicht wie die Heiden, wir haben besondere Gnadenvorrechte erhalten und haben sie mißbraucht.
2. So viel also über den Zustand des reuigen Sünders; nun wollen wir die Beweggründe betrachten, die ihn in seinem Bestreben, Gott zu dienen, antreiben. Einer der natürlichsten und ersten, der im Geist aufsteigt, ist der, Gott zu versöhnen. Wenn wir uns bewußt sind, einen anderen beleidigt zu haben, und Verzeihung wünschen, schauen wir natürlich nach gewissen Mitteln aus, mit ihm ins reine zu kommen. Handelt es sich um eine geringe Beleidigung, genügt unser Anerbieten an sich, der bloße Ausdruck unseres Wunsches, unser Fehler möchte vergessen sein. Wenn wir aber ein ernstes Unrecht begangen oder uns besonders undankbar gezeigt haben, halten wir uns eine Zeitlang fern, weil wir im Zweifel darüber sind, wie wir aufgenommen werden. Können wir einen gemeinsamen Freund bekommen, der zu unseren Gunsten vermittelt, so ist unserer Sache am besten gedient. Aber selbst in diesem Fall geben wir uns nicht damit zufrieden, unsere Interessen einem anderen zu überlassen; wir versuchen, persönlich etwas zu tun; und bemerken wir irgendwelche Zeichen von Entgegenkommen oder Versöhnlichkeit bei dem Beleidigten, dann bemühen wir uns, mit eigenen Sühnemitteln uns ihm zu nähern, entweder mit einem sehr demütigen Geständnis oder mit einer Gefälligkeit. In dieser Haltung versuchte Jakob den Statthalter Ägyptens zu versöhnen (von dem er nicht wußte, daß er sein Sohn Joseph war), „mit einem Geschenk der besten Früchte des Landes, mit etwas Balsam, etwas Honig, Gewürz, Myrrhe, Nüssen und Mandeln“ (Gn 43,1). Und das läßt sich auch auf die Sünder anwenden, die Gottes Verzeihung wünschen. Die Zeichen Seiner Barmherzigkeit ringsum sind deutlich genug, um uns mit einer allgemeinen Hoffnung zu beseelen. Schon die Tatsache, daß Er uns noch am Leben erhält und nicht alsbald in die Hölle geworfen hat, beweist, daß Er eine Weile wartet, bevor es mit Seinem Zorn gegen uns zum Äußersten kommt. Unter diesen Umständen ist es natürlich, daß der schuldbewußte Sünder nach einer Sühne Ausschau hält, womit er sich seinem Gott nähern kann. Dies ist tatsächlich der gewöhnliche Weg der Religion zu allen Zeiten gewesen. Ob „mit Brandopfern und jährigen Kälbern, mit tausenden von Widdern und zehntausenden von Bächen Öls, mit dem Opfer seines Erstgeborenen für seine Missetat, der Frucht seines Leibes für die Sünde seiner Seele“; oder in einer höheren Weise, „durch Recht tun, Liebe zur Barmherzigkeit und demütiges Wandeln vor unserem Gott“ (Mich 6, 6–8); auf diese oder jene Weise suchten reuige Sünder die Aufmerksamkeit Gottes auf sich zu lenken und Seine Huld zu erwerben. Und diese Art ist ehedem von Gott gnädig angenommen worden, obwohl Er Selbst gewöhnlich die Gabe wählte, die Er anzunehmen geneigt war. So wurde Jakob nach seiner Rückkehr von Padan-Aram angewiesen, auf dem Altar in Bethel zu opfern. Anderseits spricht David im fünfzigsten Psalm von einem geistigeren Opfer: „Ein Opfer vor Gott ist ein demütiger Geist; einen gedemütigten und zerknirschten Geist wirst Du, o Gott, nicht verwerfen“ (Ps 50,19). Das sind die Dienstleistungen des reuigen Sünders, wie sie von der Natur selbst uns eingegeben werden und auch von Gott im Alten Bund gebilligt worden sind. Wenn wir nun zum Gleichnis des verlorenen Sohnes zurückkehren, finden wir nichts Derartiges darin. Es wird hier weder von einem Opfer seinerseits an den Vater gesprochen, noch von irgendeinem Sühnewerk. Das muß wohl beachtet werden. In Wahrheit hat der Heiland uns in allen Dingen einen vollkommeneren Weg gezeigt, als er je zuvor der Menschheit gezeigt worden war. Wie Er uns einen höheren Grad der Heiligkeit, eine sorgfältigere Selbstbeherrschung, eine großmütigere Selbstverleugnung und eine tiefere Kenntnis der Wahrheit verspricht, so zeigt Er uns auch eine echtere und edlere Art der Buße. Die edelste Buße (wenn ein gefallenes Wesen in seinem Fall edel sein kann), das geziemendste Verhalten bei einem schuldbewußten Sünder ist eine bedingungslose Übergabe seiner selbst an Gott – nicht ein Feilschen um Bedingungen, nicht ein sogenanntes kluges Berechnen, um wieder Aufnahme zu finden, sondern eine sofortige Übergabe seiner selbst im ersten Augenblick. Er muß sich seinem rechtmäßigen Gebieter übergeben, ohne zu wissen, was aus ihm wird, ob Gott ihn schonen wird oder nicht, nur mit so viel Hoffnung im Herzen, daß er nicht gänzlich an der Verzeihung verzweifelt; dabei soll er jedoch nicht nur auf die Verzeihung als Endziel schauen, sondern vielmehr auf die Ansprüche des Wohltäters, den er beleidigt hat, und die Scham und das Bewußtsein seiner Undankbarkeit sollen ihn niederwerfen. Er ist ein flüchtiger Übeltäter; er muß zurückkehren, das wäre überhaupt der erste Schritt, bevor irgend etwas über ihn entschieden werden kann, Schlimmes oder Gutes; er ist ein Rebell und muß seine Waffen strecken. Selbsterdachte Anerbieten könnten in einer weniger ernsten Sache genügen; als Sühne für die Sünde bezeugen sie eine mangelhafte Auffassung vom Bösen und von der Tragweite der Sünde im eigenen Fall. Dieses ist jener vollkommene Weg, vor dem die Natur zurückschreckt, an dem aber unser Herr in dem Gleichnis Sein Gefallen hatte: – die Übergabe des eigenen Selbst. Der verlorene Sohn wartete nicht, bis sein Vater Zeichen der Versöhnlichkeit gab. Er kam nicht nur ein Stück näher und blieb dann wie ein Feigling stehen, der sich neugierig und zitternd erkundigt, wie sein Vater gegen ihn gesinnt sei. Er war im besten Fall auf den Verlust seiner Sohneswürde gefaßt, vielleicht sogar auf seine Verwerfung. Er machte sich auf und eilte geradewegs gefaßten Herzens zu seinem Vater; und obwohl sein verzeihender Vater ihn von weitem sah und ihm entgegenkam, war es doch sein Bestreben, sich sofort freimütig zu unterwerfen. Christliche Reue muß so aussehen: zuerst müssen wir den Gedanken aufgeben, selbst ein Heilmittel für unsere Sünden zu finden; dann müssen wir uns trotz unseres Schuldgefühls entschlossen zu Gott aufmachen, in der Ungewißheit darüber, ob uns vergeben wird. Er freilich kommt uns auf dem Weg mit den Zeichen Seiner Huld entgegen und richtet so den menschlichen Glauben auf, der sonst bei dem Gedanken, dem höchsten Gott zu begegnen, vergehen würde. Damit jedoch unsere Reue christlich sei, muß in ihr jene großmütige Haltung der Selbstübergabe sein, die Anerkennung, daß wir unwürdig sind, weiterhin Seine Söhne zu heißen, der Verzicht auf alle ehrgeizigen Hoffnungen, zu Seiner Rechten oder zu Seiner Linken zu sitzen, und die Bereitschaft, das schwere Joch der Knechte zu tragen, wenn Er es uns auferlegen sollte.
Das ist, meine ich, christliche Bußgesinnung. Sagt einer: „Sie ist zu hart für einen Anfänger“, hat er recht, aber ich habe nicht den Fall eines Anfängers beschrieben. Das Gleichnis sagt uns, worin die Haltung eines echten, reuigen Büßers besteht, nicht wie die Menschen tatsächlich zuerst zu Gott kommen. Je länger wir leben, um so mehr dürfen wir hoffen, diese höhere Art der Buße zu erlangen, d. h. in dem Maße wie wir in den anderen Tugenden der christlichen Vollkommenheit fortschreiten. Die wahre Art der Buße steht ebensowenig am Anfang wie die vollendete Gleichförmigkeit mit jedem einzelnen Teil des göttlichen Gesetzes. Man erlangt sie durch lange Übung – schließlich wird sie sich einstellen. Der im Sterben liegende Christ wird die Rolle des verlorenen Sohnes vollendeter spielen als je in seinen früheren Jahren. Wenn wir uns erstmals in unserem jetzigen Leben zu Gott wenden, ist unsere Buße mit allen möglichen unvollkommenen Anschauungen und Gefühlen vermengt. Zweifellos liegt in ihr etwas von der echten Haltung schlichter Unterwerfung; aber der Wunsch, einerseits Gott zu versöhnen, anderseits hartherzige Unempfindlichkeit unseren Sünden gegenüber, rein selbstsüchtige Furcht vor der Strafe oder die Hoffnung auf eine plötzlich leicht gewährte Verzeihung, diese und ähnliche Gedankengänge beeinflussen uns, mögen wir über unsere Gefühle sagen oder denken, was wir wollen. Es fällt uns allerdings ziemlich leicht, uns gute Worte auf die Lippen zu legen und unsere Gefühle zu wecken und dann zu meinen, man habe sich damit gänzlich selbst entäußert und sei zu einem klaren Bewußtsein der eigenen Sündhaftigkeit durchgedrungen; aber diese hohe Einstellung beanspruchen heißt nicht sie wirklich besitzen. Sie wirklich erlangen ist ein Werk der Zeit. Erst wenn der Christ lange den guten Kampf des Glaubens gekämpft hat und durch Erfahrung weiß, wie gering und unvollkommen seine besten Dienste sind, dann kann er sich zufrieden geben, und er gibt sich sehr gern zufrieden mit der Aussage, daß wir nur im Glauben an die Verdienste unseres Herrn und Heilandes aufgenommen werden. Wenn er am Ende sein Leben überblickt, was gibt es da, auf das er sich stützen kann? Welche Tat kann der Prüfung des heiligen Gottes standhalten? Natürlich keine, so viel ist klar, darüber ist kein Wort zu verlieren. Aber weiter, welcher Teil seines Lebens beweist ihm hinreichend seine eigene Aufrichtigkeit und Treue? Das ist die Frage, auf die ich Nachdruck lege. Wie soll er wissen, daß er noch nach all seinen Sünden im Stande der Gnade ist? Zweifellos darf der Christ demütig hoffen, wohlgefällig aufgenommen zu werden. Denn vom Zeugnis seines Gewissens, das ihn tröstet, spricht der heilige Paulus; aber sein Gewissen berichtet ihm auch von zahllosen persönlichen Sünden und zahllosen Pflichtversäumnissen; und wie soll er sich da aufraffen, vor Gott zu erscheinen in der schrecklichen Erwartung der Ewigkeit und in der Schwäche der schwindenden Gesundheit? So ist er trotz allem wirklich in der Lage des zurückkehrenden Sohnes und kann ihn nicht übertreffen, obwohl er Gott schon so lange gedient hat. Er kann sich nur Gott übergeben, am Ende schlechter als der unnütze Knecht, ergeben in Gottes Willen, wie dieser auch sein mag, je nachdem mit mehr oder weniger Hoffnung auf Verzeihung. Dabei bezweifelt er nicht, daß Christus die alleinige Verdienstursache aller Gnade ist, er stützt sich nur auf Ihn, der, „wenn Er will, ihn rein machen kann“ (Mt 8, 2), aber nicht ohne Besorgnis um sich selbst, weil er, wie er wohl weiß, in seinem eigenen Herzen nicht auf jene klare, unfehlbare Weise lesen kann, wie Gott in ihm liest. Wie ist es doch unter diesen Umständen vergeblich, ihm von den eigenen guten Taten zu erzählen und ihn aufzufordern, auf sein vergangenes, folgerichtiges Leben zurückzuschauen! Dieser Rückblick tröstet ihn kaum; und wenn, dann ist es die Erinnerung an die Erweise der göttlichen Barmherzigkeit gegen ihn in früheren Jahren, die ihn hauptsächlich dazu ermutigt. Nein, den eigentlichen Halt gibt ihm die Tatsache, daß Christus kam, „die Sünder zur Buße zu rufen“ (Mt 9,13), daß „Er für die Gottlosen gestorben ist“ (Röm 5, 6). Er anerkennt die Worte des heiligen Paulus und macht sie sich, soweit er kann, zu eigen und nichts darüber hinaus: „Wahrhaft und aller Annahme wert ist das Wort, daß Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder zu retten, unter denen ich der erste bin“ (1 Tim 1,15).
Darf es einer wagen, sich Christus am schrecklichen Tag des Gerichtes zu nahen, der hienieden den Ruf Seines Geistes zurückgewiesen hat? Darf es einer wagen, sich selbst dem großen Gott zu übergeben, wenn die Hölle offen ist, bereit ihn zu verschlingen? Ach, es ist nur darum möglich, weil uns noch etwas von der Hoffnung belassen ist, daß wir uns Ihm hier übergeben dürfen; Verzweiflung bleibt darum immer fern. Wenn Er aber als der strenge Richter Seinen Sitz einnimmt, wer von Seinen trägen, ungehorsamen Knechten wird sich Ihm da gerne vorstellen? Sicher ist dann die Zeit der Unterwerfung vorüber; Ergebung kommt für gefallene Geister nicht in Frage; sie werden von der unwiderstehlichen Macht Gottes weggefegt. „Bindet ihm Hände und Füße, und werfet ihn hinaus“ (Mt 22,13), so wird der furchtbare Befehl lauten. Sie würden sich wehren, wenn sie könnten.
Und in der Hölle werden sie immer noch von dem Wurm des stolzen, aufrührerischen Hasses gegen Gott gepeinigt! Nicht einmal die Länge der Zeit wird sie mit dem harten Ertragen ihres Schicksals versöhnen; nicht einmal die starre Gefühlslosigkeit, zu der die Ungläubigen auf Erden ihre Zuflucht nehmen, wird ihnen gestattet sein. Am Ort der Qual gibt es keinen Fatalismus. Die Teufel sehen, daß ihr Los ihr eigener Fehler war, doch sie können ihn nicht bereuen. Es ist ihr Wille, der in unmittelbarem, verbissenem Widerspruch zum Willen Gottes steht, und sie wissen es.
Bedenket das, meine Brüder, und laßt es euch zu Herzen gehen. Zweifellos müßt ihr euch hier der Barmherzigkeit Gottes überlassen, sonst werdet ihr im Jenseits von Seinem Zorn ausgestoßen. „Heute, solange es heute heißt, verhärtet eure Herzen nicht“ (Hebr 3, 7-15).
John Henry Newman, Deutsche Predigten (vol 3, 7), Schwabenverlag Stuttgart 1951, pp. 102-114.