(22. September 1838)
„Ich bin nicht wert der geringsten all der Erbarmungen und all der Treue, die Du Deinem Knecht erwiesen hast“ (Gn 32,10).
Der Geist demütiger Dankbarkeit für frühere Erbarmungen, den diese Worte enthalten, ist eine Tugend, zu der besonders das Evangelium aufruft. Jakob, der diese Worte sprach, wußte nichts von jenen großen und wunderbaren Liebestaten, mit denen seither Gott das Menschengeschlecht heimgesucht hat. Obgleich er aber die Tiefen der göttlichen Ratschlüsse nicht zu erkennen vermochte, kannte er sich selbst so weit, daß er sich überhaupt jegliches Guten für unwert erachtete. Auch wußte er, daß Gott ihm großes Erbarmen und große Treue erwiesen hatte: Erbarmen, darum daß Er für ihn Gutes getan hatte, während er Böses verdient hätte; und Treue, darum daß Er ihm Verheißungen gegeben und sie erfüllt hatte. Daher floß er über von Dankbarkeit, als er auf die vergangene Zeit zurücksah; und er staunte über den Gegensatz zwischen dem, was er in sich war, und dem, was Gott ihm gewesen war. Eine solche Dankbarkeit ist, meine ich, in höchstem Maß eine christliche Tugend und wird uns im Neuen Testament eingeschärft. Wir werden z. B. ermahnt, „dankbar“ zu sein und „in uns das Wort Christi reichlich in aller Weisheit wohnen zu lassen; einander zu lehren und zu ermahnen mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern, und dem Herrn zu singen mit Dankbarkeit in unseren Herzen“ (Kol 3,15.16).
Anderswo wird uns geboten, „miteinander zu reden in Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern, zu singen und zu jubeln dem Herrn in unseren Herzen; zu danken allezeit für alles Gott, unserem Vater, im Namen unseres Herrn Jesus Christus“ (Eph 5, 19.20).
Ferner: „Seid nicht ängstlich besorgt, sondern in allen Dingen lasset eure Anliegen in Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kundwerden“ (Phil 4,6).
Weiter: „Sagt Dank bei allem; denn dies ist der Wille Gottes in Christus Jesus euch gegenüber“ (1 Thess 5,18).
Der Apostel, der alles das schreibt, war selbst ein besonderes Vorbild dankbarer Gesinnung: „Freuet euch allezeit im Herrn“, sagt er, „und wiederum sage ich: freuet euch“ (Phil 4,4). „Ich habe gelernt, mich mit dem, was ich habe, zu begnügen. Ich habe genug und mehr als genug; ich bin reich“ (Phil 4, 11.18). Ferner sagt er: „Ich danke Dem, der mich befähigt hat, Christus Jesus, unserem Herrn, daß Er mich für zuverlässig gehalten und in das Amt eingesetzt hat, der ich zuvor ein Lästerer, Verfolger und Bedrücker war. Aber ich habe Barmherzigkeit erlangt, weil ich es unwissend tat, im Unglauben. Und die Gnade unseres Herrn war überschwenglich mit Glaube und Liebe in Christus Jesus“ (1 Tim 1,12-14). O großer Apostel! Wie konnte es anders sein, wenn wir bedenken, was er gewesen ist und was er wurde – aus einem Feind in einen Freund verwandelt, aus einem blinden Pharisäer in einen gotterleuchteten Prediger? Und es gibt noch einen anderen Heiligen außer dem Patriarchen Jakob, der sein Genosse in dieser hervorragenden Tugend ist, – ihm gleich, gekennzeichnet durch große Schicksale des Lebens und die hingebende Liebe und Zartheit des Herzens, mit der er auf die Vergangenheit zurückblickte. – Ich meine „David, den Sohn Jesses, den Mann, der zur Höhe emporgehoben wurde, den Gesalbten des Gottes Jakobs und den lieblichen Sänger Israels“ (2 Sam23,l).
Das Buch der Psalmen ist voll von Beispielen für Davids dankbare Gesinnung, die ich hier nicht anzuführen brauche, da sie uns allen so gut bekannt sind. Ich will nur hinweisen auf sein Gebet, das am Ende des ersten Buches der Chronik steht und das er sprach, damals als er die kostbaren Stoffe für den Tempelbau aussonderte; da er sich so sehr freute, weil er und sein Volk das Herz hatten, gegen Gott so freigebig zu sein, und er Gott eben für seine Dankbarkeit dankte. „David, der König …, freute sich mit großer Freude; deshalb pries David den Herrn vor der ganzen Gemeinde; und David sprach: Gepriesen bist Du, Gott Israels, unser Vater von Ewigkeit zu Ewigkeit… Reichtum und Ehre kommt beides von Dir und Du herrschest über alles; und in Deiner Hand ist Kraft und Macht, und Deine Hand macht groß und gibt allem Stärke. Und nun, unser Gott, danken wir Dir und loben Deinen herrlichen Namen. Aber wer bin ich und was ist mein Volk, daß wir fähig sein sollten, so gern in dieser Weise freiwillig Gaben darzubringen? Denn alles kommt von Dir, und von Deinem Eigentum haben wir Dir gegeben“ (1 Chr 29,9-14).
Das war die dankbare Gesinnung Davids, da er auf die Vergangenheit zurückschaute; er staunte und freute sich über den Weg, auf dem sein allmächtiger Beschützer ihn geführt, und über die Taten, zu denen Er ihn befähigt hatte; und er pries und verherrlichte Ihn wegen Seiner Erbarmung und Treue. David also, Jakob und Paulus können als die drei großen Vorbilder der Dankbarkeit betrachtet werden, die uns die Schrift vor Augen stellt; – Heilige, die alle in besonderer Weise das Werk der göttlichen Gnade waren und deren ganzes Leben und Atmen darin bestand, demütig und unterwürfig den Gegensatz zu betrachten zwischen dem, was sie, jeder in seiner Art, gewesen waren, und dem, was sie jetzt waren. Ein darbender Wanderer war unerwartet ein Patriarch geworden; ein Hirtenknabe ein König; ein Verfolger ein Apostel: Jeder ist nach Gottes unerforschlichem Wohlgefallen auserwählt worden, eine große Aufgabe zu erfüllen, und während jeder sein Äußerstes tat, um sie zu erfüllen, pries er beständig Gott, darum daß er Sein Werkzeug geworden war. Vom ersten heißt es: „Jakob habe Ich geliebt, aber Esau war Mir gleichgültig“ (Rom 9,13); vom zweiten, daß „Er das Zelt Josephs verwarf und den Stamm Ephraim nicht erwählte, sondern den Stamm Juda erwählte, nämlich den Berg Sion, den Er liebte. Er erwählte auch David, Seinen Knecht, und nahm ihn von den Schafherden weg“ (Ps 77,67-70). Und der heilige Paulus sagt von sich selbst: „Zuletzt von allen ist Er auch mir, einer Fehlgeburt, erschienen“ (1 Kor 15,8).
Diese Gedanken drängen sich ganz von selbst in dieser Zeit unserem Geist auf, da wir das Gedächtnis der göttlichen Gnade begehen, die uns durch die Menschwerdung Seines Eingeborenen Sohnes, der größten und wunderbarsten aller Seiner Erbarmungen, zu Seinen Kindern gemacht hat. Und unsere Gedanken wenden sich jetzt besonders dem Patriarchen Jakob zu; denn in der ersten Lesung des heutigen Tages1 aus dem Propheten Isaias wird die Kirche angeredet und getröstet unter dem Namen Jakobs. Wir wollen daher in dieser Zeit der Dankbarkeit und an der Schwelle eines neuen Jahres einen kurzen Blick auf den Charakter dieses Patriarchen werfen; und obwohl David und Isaias die Propheten der Gnade sind und der heilige Paulus ihr besonderer Herold und vornehmster Zeuge, so glaube ich dennoch, daß wir nicht fehl gehen in der Wahl Jakobs, wenn wir ein lebendiges Beispiel beständiger Dankbarkeit sehen wollen, die erfüllt ist von der Erinnerung an Gottes Erbarmungen.
Die Tugend also, die Jakob auszeichnete, war, wie man sie wohl nennen darf, ein beständiges, liebevolles Sinnen über die Wege, die die göttliche Vorsehung ihn in früheren Zeiten geführt hatte, und eine überfließende Dankbarkeit dafür. Nicht als gebräche es ihm an anderen Tugenden, doch diese scheint seine hervorstechendste Tugend gewesen zu sein. Alle Heiligen besten in dem ihnen eigenen Ausmaß alle Tugenden; denn Er, durch den sie jedwede haben, verleiht keine einzeln; Er schenkt die Wurzel und die Wurzel treibt Zweige. Aber da Zeit und Umstände, ihr eigener Gebrauch von der Gabe und ihre eigene Veranlagung und Persönlichkeit einen großen Einfluß auf die Art ausüben, wie sie sich kundtun, geschieht es, daß jeder Heilige seine persönliche, ihm eigentümliche Tugend besitzt, die ihn von den anderen unterscheidet, ihre besondere Schattierung, ihren Duft und ihre Form hat, wie eine Blume sie haben mag. Es gibt nun zahllose Blumen auf Erden; alle sind Blumen und als solche einander gleich; und alle sprießen aus der nämlichen Erde und nähren sich von der gleichen Luft und dem gleichen Tau und keine ist ohne Schönheit, und doch sind einige schöner als die anderen; und unter den schönen heben sich einige durch ihre Farbe hervor, andere durch ihren Duft und andere durch ihre Gestalt; außerdem strömen die wohlduftenden eine solche Fülle von Duft aus und doch so verschieden, daß wir sie nicht miteinander zu vergleichen wissen noch sagen können, welche die duftendere ist: genau so ist es mit den Seelen, die von Gottes geheimnisvoller Gnade erfüllt und genährt werden. Abraham z. B., Jakobs Großvater, war das Vorbild des Glaubens. Das betont die Schrift, und es bedarf hier nicht des Beweises, daß dem so ist. Es genügt zu sagen, daß er seine Heimat auf Gottes Wort hin verließ; und auf das gleiche Wort hin ergriff er das Messer, um seinen eigenen Sohn zu opfern. Abraham scheint etwas sehr Edles und Hochherziges an sich gehabt zu haben. Er konnte unsichtbare Dinge lebendig erfassen und in sich vergegenwärtigen. Er folgte Gott im Dunkel so bereitwillig, so entschlossen, so frohen Herzens und so kühnen Schrittes, als wäre er im hellen Tageslicht. Darin liegt etwas sehr Großes; und daher nennt der heilige Paulus Abraham unseren Vater, den Vater der Christen wie der Juden. Denn wir sind vor allem verpflichtet, im Glauben zu wandeln, nicht in der Schau; und wir werden gesegnet im Glauben und gerechtfertigt durch den Glauben, wie Abraham gläubig war. Jener Glaube nun, durch den Abraham sich auszeichnete, war nicht der charakteristische Vorzug Jakobs, wenn ich das sagen darf mit der schuldigen Ehrfurcht gegen das Andenken jenes begnadeten Dieners Gottes, zu dessen Ehre ich jetzt spreche. Nicht daß er keinen Glauben gehabt hätte, – er hatte sogar einen großen Glauben, sonst wäre er Gott nicht so treu gewesen. Die Tatsache, daß er das Erstgeburtsrecht kaufte und den für Esau bestimmten Segen sich verschaffte, waren Beweise des Glaubens. Esau sah in ihnen nichts oder kaum etwas Kostbares, – er war weltlich gesinnt; leichtfertig gab er das eine weg und vom anderen hatte er keine hohe Vorstellung. Wie ernst und stark indes der Glaube Jakobs auch war, er war nicht wie der Abrahams. Abraham hielt seine Zuneigungen von allem Irdischen fern und war bereit, auf Gottes Wort hin seinen einzigen Sohn zu opfern. Jakob hatte viele Söhne, und dürfen wir nicht sogar behaupten, daß er gegen sie allzu willfährig war? Selbst was Josef angeht, den er so verdientermaßen liebte, wie schön und rührend auch seine Liebe zu ihm ist, es besteht doch ein großer Gegensatz zwischen seinen Gefühlen gegen den „Sohn seines Alters“ (Gn 37,3) und denen Abrahams gegen Isaak, den unerwarteten Sproß seiner hundert Jahre, – und nicht nur das, sondern seinen längst verheißenen einzigen Sohn, mit dem die Verheißungen verknüpft waren. Ferner, Abraham verließ seine Heimat, – so auch Jakob; Abraham aber auf Gottes Geheiß, – Jakob notgedrungen, auf die Drohung Esaus hin. Abraham spürte von Anfang an, daß Gott sein Anteil und sein Erbe war, und wahrhaft großmütig gab er freiwillig all seine Habe auf, in der Gewißheit, daß er dadurch ein vorzüglicheres Gut finden werde. Obwohl aber Jakob wirklich aus dem Glauben lebte, wollte er, wie eine Stelle seiner Lebensgeschichte zeigt, sehen (wenn wir so sagen dürfen), bevor er völlig glaubte. Als er vor Esau floh und nach Bethel kam und Gott ihm in einem Traum erschien und Verheißungen gab, aber noch nicht ihre Erfüllung, – was tat er? Nahm er sie einfach hin? Er sagt: „Wenn Gott mit mir ist und mich behütet auf dem Weg, darauf ich wandle und mir Brot zu essen gibt und Kleider anzuziehen, so daß ich in Frieden wieder in meines Vaters Haus komme, dann soll der Herr mein Gott sein“ (Gn 28, 20.21). Er macht in einem gewissen Sinn seinen Gehorsam von einer Bedingung abhängig; und obwohl wir die Worte nicht so nehmen müssen und dürfen, als wollte er Gott nicht dienen, solange nicht und wenn Dieser nicht für ihn täte, was Er versprochen hatte, scheinen sie doch eine Befürchtung und Besorgnis zu verraten, gelinde zwar und gedämpft und sehr menschlich (und daher um so ansprechender und gewinnender in den Augen von uns gewöhnlichen Menschen, die seine Worte lesen), eine Besorgnis jedoch, die Abraham nicht kannte. Wir spüren, daß Jakob mehr als Abraham unseresgleichen war.
Welches war nun die besondere Tugend Jakobs, so wie es der Glaube bei Abraham war? Ich habe es bereits gesagt: ich vermute, die Dankbarkeit. Abraham schaut offenbar immer in Hoffnung vorwärts, – Jakob in Erinnerung rückwärts; der eine freut sich an der Zukunft, der andere an der Vergangenheit; der eine hängt sich an die Zukunft, der andere an die Vergangenheit; der eine geht der Verheißung entgegen, der andere sinnt über ihre Erfüllung nach. Nicht daß Abraham nicht auch zurückschaute und Jakob, wie er auf seinem Sterbebett sagt, nicht „hoffte auf das Heil“ Gottes (Gn 49,18); aber der Unterschied zwischen ihnen war der, Abraham war ein Held, Jakob „ein stiller Mann, der in Zelten wohnte“ (Gn 25,27J. Jakob scheint ein sanftes, zartes, liebevolles und furchtsames Gemüt besessen zu haben – leicht erschreckt, schnell beunruhigt; er liebte Gott so sehr, daß er fürchtete, Ihn zu verlieren, und er war vielleicht wie der heilige Thomas besorgt um die Schau und den Besitz aus tiefem und sehnsüchtigem Verlangen. Da die Liebe ohne den Glauben ungeduldig würde, so verlangte Jakob nach dem Besitz nicht aus kalter Ungläubigkeit oder Herzenshärte, sondern aus dieser liebenden Ungeduld. Solche Menschen sind leicht niedergeschlagen und müssen liebevoll behandelt werden; sie verzagen schnell, sie weichen vor der Welt zurück, denn sie fühlen ihre Härte – im Gegensatz zu stärkeren Naturen. Weder Abraham noch Jakob liebte die Welt. Aber Abraham fürchtete sie nicht, fühlte sie nicht. Jakob fühlte sie und zuckte zusammen wie einer, der von ihr verwundet wird. Ihr erinnert euch an seine rührenden Klagen: „All dies Unglück fällt auf mich!“ (Gn 42, 36) – „Dann bringt ihr meine grauen Haare mit Schmerzen unter die Erde“ (Gn 42,38). – „Meiner Kinder beraubt fühle ich mich verlassen“ (Gn 43,14). Ferner hören wir anderswo: „Alle seine Söhne und alle seine Töchter kamen herbei, um ihn zu trösten, aber er wollte sich nicht trösten lassen“ (Gn 37,35). Ein andermal: „Jakobs Herz verzagte, denn er glaubte ihnen nicht“ (Gn 45,26). Ferner: „Der Geist Jakobs ihres Vaters lebte wieder auf“ (Gn 45,27). Ihr seht, was er für ein kindliches, feinfühliges, zartes Gemüt besaß. Daher lag, wie ich gesagt habe, seine Seligkeit nicht im hoffnungsvollen Vorwärtsschauen auf die göttlichen Erbarmungen gegen ihn, sondern im Zurückschauen auf ihre Erfüllung. Es machte ihm Freude, liebevoll zu verfolgen und dankbar anzuerkennen, was ihm bereits verliehen worden war, und er überließ die Zukunft sich selbst. Während er Esau entgegengeht, trägt er z. B. in einem Gebet – in Worten, aus denen der Vorspruch genommen ist – Gott alles vor, was Er schon für ihn getan hat, und zählt inmitten seiner j ewigen Besorgnis mit großer und demütiger Freude Gottes frühere Wohltaten auf. „Gott meines Vaters Abraham“, sagt er, „und Gott meines Vaters Isaak, Herr, der Du mir gesagt: Kehre zurück in dein Land und zu deiner Verwandtschaft und Ich will Gutes an dir tun; ich bin nicht wert der geringsten all Deiner Erbarmungen und all der Treue, die Du Deinem Knecht erwiesen hast; mit meinem Stab bin ich über diesen Jordan gezogen und nun kehre ich zurück mit zwei Herden“ (Gn 32, 9.10). Ferner in seine Heimat zurückgekehrt, macht er sich .daran, das gegebene Versprechen zu erfüllen, nämlich in Bethel Gott ein Haus zu weihen: „Machen wir uns auf und ziehen wir gen Bethel; ich will dort Gott einen Altar bauen, der in der Zeit meiner Trübsal mich erhört und auf meiner Reise mich geleitet hat“ (Gn 35, 3). Weiter sagt er zu Pharao, immer noch im Gedanken an die Vergangenheit: „Die Tage meiner Wanderschaft sind hundertdreißig Jahre; wenige und böse sind die Tage meines Lebens gewesen“, er meint in sich und abgesehen von Gottes Huld, „und sie haben die Tage meiner Väter, während deren sie Pilger waren, nicht erreicht“ (Gn 47,9). Als dann sein Ende naht, sagt er zu Joseph: „Gott, der Allmächtige, erschien mir zu Luza“, d. h. Bethel, „im Lande Kanaan und segnete mich“ (Gn 48,3). Wiederum, immer noch rückwärts blickend: „Als ich aus Mesopotamien kam, starb mir Rachel im Lande Kanaan, auf dem Wege kurz vor Ephrata; und ich begrub sie am Wege nach Ephrata“ (Gn 48,7). Betrachtet auch seinen Segen über Ephraim und Manasse: „Gott, vor dessen Angesicht mein Vater Abraham und Isaak gewandelt, Gott, der mich ernährt von Jugend auf bis auf den heutigen Tag, der Engel, der mich erlöst hat von allem Übel, segne diese Knaben“ (Gn 48,15.16). Wieder schaut er zurück auf das Land der Verheißung, obwohl der Reichtum Ägyptens ihn umgibt: „Siehe, ich sterbe, und Gott wird mit euch sein und euch zurückführen ins Land eurer Väter“ (Gn 48,21). Und da er Anweisungen über sein Begräbnis gibt, sagt er: „Ich werde zu meinem Volk versammelt; begrabet mich bei meinen Vätern in der Höhle, die auf dem Acker Ephrons, des Hethiters, ist“ (Gn 49,29). Er gebietet, daß er bei seinen Vätern begraben werde; das war natürlich, aber beachtet, wie er auf seine besondere Art den Gedanken weiterführt: „Daselbst begrub man Abraham und Sara, sein Weib; dort begrub man Isaak und Rebekka, sein Weib; daselbst begrub ich Lea“(Gn 49,31). Und weiter noch, wenn er vom Harren auf Gottes Heil spricht, was ein Akt der Hoffnung ist, faßt er es in solche Worte, daß er zugleich in der Vergangenheit verweilt: „Ich habe gehofft“, sagt er, d. h. mein ganzes Leben lang, „ich habe gehofft auf Dein Heil, o Herr“ (Gn 49,18). Das war Jakob, er lebte eher in der Erinnerung als in der Hoffnung, er zählte die Lebensabschnitte, er gedachte der verschiedenen Zeiten, er beobachtete bestimmte Tage; seine Lebensgeschichte wußte er auswendig und sein vergangenes Leben stand gleichsam in seiner Hand geschrieben; und wie um seine Haltung auf jeden seiner Nachkommen zu übertragen, wurde ihnen auferlegt, daß einmal im Jahr jeder Israelit mit einem Korb von Früchten der Erde vor Gott erscheine, sich ins Gedächtnis rufe, was Gott für ihn und seinen Vater Jakob getan hatte, und seine Dankbarkeit dafür ausdrücke. „Ein darbender Syrer war mein Vater“, sollte er sagen, – gemeint war Jakob -; „und er zog hinab nach Ägypten und wohnte dort, und er wurde zu einem großen, starken und zahlreichen Volk … Und der Herr führte uns in dieses Land…, das von Milch und Honig fließt. Und siehe, ich habe nun die Erstlingsfrüchte des Landes gebracht, das Du, o Herr, mir gegeben hast“ (Dt 26,5-10).
Wie gut wäre es für uns, hätten wir die Haltung, die Jakob zeigte und die seinen Nachkommen geboten wurde: das Bewußtsein der Abhängigkeit von der göttlichen Vorsehung und die Dankbarkeit dafür und die gewissenhafte Erinnerung an alles, was Er für uns getan hat. Es wäre gut, wenn wir regelmäßig auf alles blickten, was wir als Gottes Geschenke unverdient besitzen und was Er aus reiner Barmherzigkeit Tag für Tag unaufhörlich uns verleiht. Er hat es gegeben; Er darf es nehmen. Er gab uns alles, was wir haben, Leben, Gesundheit, Kraft, Verstand, Freudigkeit, das Licht des Gewissens; alles, was wir an Gutem und Heiligem in uns haben, was an Glauben, was an erneuertem Willen, was an Gottesliebe, was an Selbstbeherrschung, was an Hoffnung auf den Himmel. Er gab uns Verwandte, Freunde, Erziehung, Ausbildung, Erkenntnis, die Bibel, die Kirche. Alles kommt von Ihm. Er hat es gegeben, Er darf es nehmen. Nähme Er es weg, dann wären wir berufen, Jobs Beispiel zu folgen und ergeben zu sein: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gebenedeit“ (Job 1,21). Wenn Er mit Seinen Segnungen fortfährt, sollten wir David und Jakob nachahmen und in beständigem Lobpreis und Dank leben und Ihm von dem Seinigen opfern. Wir gehören uns nicht selbst, so wenig wie das, was wir besitzen, unser eigen ist. Wir haben uns nicht selbst geschaffen; wir können nicht selbstherrlich über uns verfügen. Wir können nicht unsere eigenen Herren sein. Wir sind Gottes Eigentum durch Erschaffung, Erlösung und Wiedergeburt. Er hat einen dreifachen Anspruch auf uns. Bedeutet es nicht unsere Seligkeit, die Dinge in diesem Licht zu sehen? Bringt es uns aber irgendwie Seligkeit oder Trost zu glauben, daß wir uns selbst gehören? Junge und vom Glück begünstigte Menschen mögen so denken. Sie halten es für etwas Großes, wie sie meinen, in allem ihren Willen zu haben, von niemand abhängig zu sein, – an nichts denken zu müssen, was außer ihrem Blickfeld liegt, – zu leben ohne die Verdrießlichkeit beständigen Danksagens, beständigen Gebetes, beständiger Rücksicht in ihrem Tun auf den Willen anderer. Aber im Verlauf der Zeit werden sie wie alle Menschen erkennen, daß Unabhängigkeit nicht für den Menschen geschaffen ist – daß sie ein unnatürlicher Zustand ist -, daß sie für eine Weile angehen mag, uns aber nicht mit Sicherheit bis zum Ende führen wird. Nein, wir sind Geschöpfe; und als solche haben wir zwei Pflichten: ergeben zu sein und dankbar zu sein.
Betrachten wir daher die Wege der göttlichen Vorsehung uns gegenüber mit gläubigeren Augen als bisher. Versuchen wir eine wahrere Erkenntnis dessen zu erlangen, was wir sind und wo in Seinem Reich wir sind. Machen wir uns voll Demut und Ehrfurcht daran, Seine führende Hand in den Jahren unseres bisherigen Lebens zu verfolgen. Denken wir voll Dank an die vielen Erbarmungen, die Er uns in der Vergangenheit gewährt hat, an die vielen Sünden, derer Er nicht mehr gedacht hat, an die vielen Gefahren, die Er abgewendet hat, an die vielen Gebete, die Er erhört hat, an die vielen Fehler, die Er zum Guten gewendet hat, an die vielen Warnungen, die vielen Belehrungen, an das viele Licht und den überschwenglichen Trost, die Er uns von Zeit zu Zeit geschenkt hat. Erinnern wir uns gern der Zeiten und Tage, der Zeiten der Trübsal, der Zeiten der Freude, der Zeiten der Prüfung, der Zeiten der Erquickung. Wie umhegte Er uns als Kinder! Wie führte Er uns in jener gefährlichen Zeit, da der Geist selbständig zu denken und das Herz der Welt sich zu öffnen begann! Wie zügelte Er mit Seiner milden Zucht unsere Leidenschaften, dämpfte Er unsere Erwartungen, beruhigte Er unsere Befürchtungen, belebte Er unsere Mattigkeit, milderte Er unsere Verlassenheit und stärkte Er unsere Schwächen! Wie behutsam führte Er uns dem schmalen Tor entgegen! Wie lockte Er uns weiter auf Seinem Weg zur Ewigkeit, trotz seiner Rauheit, trotz seiner Einsamkeit und trotz des trüben Zwielichtes, das über ihm lag! Er ist uns alles gewesen. Er ist, wie Er es für Abraham, Isaak und Jakob war, unser Gott gewesen, unser Schild und großer Lohn, Verheißung und Erfüllung Tag für Tag. „Bis hierher hat Er uns geholfen“ (1 Sam 7,12). „Er denkt an uns und segnet uns“ (Ps 113,20). Er hat uns nicht umsonst erschaffen; Er hat uns so weit geführt, um uns weiter zu führen, um uns bis ans Ende zu führen. Er wird uns nie verlassen noch uns aufgeben; so daß wir kühn sagen dürfen: „Der Herr ist mein Helfer; ich fürchte nichts, was könnte ein Mensch mir antun!“ (Ps 55,5). Wir dürfen „alle unsere Sorge auf Ihn werfen, denn Er sorgt für uns“ (1 Petr 5,7). Was liegt uns daran, wie unser künftiger Pfad verläuft, wenn es nur Sein Pfad ist? Was liegt uns daran, wohin er uns führt, wenn er uns zu guter Letzt nur zu Ihm führt. Was liegt uns daran, was Er uns auferlegt, solange Er uns befähigt, es mit einem reinen Gewissen, einem treuen Herzen zu tragen, das nichts auf dieser Welt Ihm vorzieht? Was liegt uns daran, welcher Schrecken uns befällt, wenn Er nur nahe ist, uns zu schüren und zu stärken? „Du, Israel“, sagt Er, „bist Mein Knecht Jakob, den Ich erkoren habe, Samen Abrahams, Meines Freundes“ (Is 41,8).
„Fürchte Dich nicht, du Würmlein Jakob und ihr Männer Israels: Ich helfe dir, spricht der Herr und Dein Erlöser, der Heilige Israels“ (Is 41,14). „So spricht der Herr, der dich geschaffen hat, o Jakob, und der dich gebildet hat, o Israel: Fürchte dich nicht; denn Ich habe dich erlöset, Ich habe dich gerufen bei deinem Namen; Mein bist du! Wenn du durch Gewässer gehst, will Ich bei dir sein, und die Ströme werden dich nicht decken; wenn du im Feuer gehst, wirst du nicht verbrennen, und die Flamme wird dich nicht sengen. Denn Ich bin der Herr, dein Gott, der Heilige Israels, dein Erlöser“ (Is 43,1-3).
PPS V, 6 Remembrance of Past Mercies: Dt. Übersetzung in DP V, 6 p. 90-105.