Das ist das große Geheimnis, das wir jetzt feiern, dessen Anfang Barmherzigkeit und dessen Ende Heiligkeit ist. Selige J. H. Newman[/caption]
26. März 1837 (abgeändert)
„Der heiligt und die geheiligt werden, sind alle eines Ursprungs; deshalb schämt Er Sich nicht, sie Brüder zu nennen“ (Hebr 2,11).
Die Geburt unseres Heilandes im Fleisch ist ein Unterpfand und sozusagen ein Anfang unserer Geburt im Geist. Sie ist ein Vorbild, eine Verheißung oder ein Pfand unserer Neugeburt und bewirkt, was sie verheißt. Wie Er geboren wurde, so werden auch wir geboren; und weil Er geboren wurde, deshalb werden auch wir geboren. Wie Er der Sohn Gottes von Natur ist, so sind wir Söhne Gottes durch Gnade; und Er ist es, der uns dazu gemacht hat. Das drückt der Vorspruch aus; Er ist der „Heiligmacher“, wir sind die „Geheiligten“. Außerdem sind Er und wir nach den obigen Worten „alle eines Ursprungs“. Gott heiligt auch die Engel, aber hier sind Schöpfer und Geschöpf nicht eines Ursprungs. Der Sohn Gottes aber und wir sind eines Ursprungs; Er wurde „der Erstgeborene aller Schöpfung“ (Kol 1,15); Er hat unsere Natur angenommen und in ihr und durch sie heiligt Er uns. Er ist unser Bruder kraft Seiner Menschwerdung und „Er schämt Sich nicht“, wie der Vorsprach sagt, „uns Brüder zu nennen“; und nachdem Er unsere Natur in Sich geheiligt hat, teilt Er sie uns mit.
1. Das ist die wundervolle Heilsordnung oder das Geheimnis der Vergöttlichung, das wir allezeit vor Augen haben sollten, besonders aber jetzt, da der Allheilige unser Fleisch aus einer „reinen Jungfrau“ annahm „durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes, ohne Makel der Sünde, um uns von aller Sünde zu reinigen“. Gott „wohnt im unzugäng¬lichen Licht“ (1 Tim 6,16); Er ist „Licht und in Ihm ist keine Finsternis“ (1 Joh 1,5). „Sein Kleid“, wie der Prophet es in seiner Vision beschreibt, ist „weiß wie Schnee und das Haar Seines Hauptes wie reine Wolle; Sein Thron Feuerflammen und Seine Räder brennendes Feuer“ (Dtn 7,9). Und gleicherweise ist der Sohn Gottes, eben weil Er der Sohn ist, auch Licht. Er ist „das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, der in die Welt kommt“ (Joh 1,9). Bei Seiner Verklärung „glänzte Sein Angesicht wie die Sonne“, und „Seine Kleider wurden glänzend, weißer als Schnee“, „weiß und strahlend“ (Mt 17,2; Mk 9,2; Lk 9,29). Als Er dem heiligen Johannes erschien, „waren Sein Haupt und Seine Haare weiß wie Wolle und wie Schnee; und Seine Augen waren wie Feuerflammen; und Seine Füße glichen feinem Erz, wie wenn sie in einem Ofen glühten; und Sein Angesicht war wie die Sonne, wenn sie leuchtet in ihrer Kraft“ (Offb 1, 14-16). Dieser Art war die Heiligkeit unseres Herrn, denn Er war der Sohn Gottes von Ewigkeit. Immer war der Vater, immer war der Sohn: immer der Vater und aus diesem Grund immer der Sohn, denn der Name Vater schließt den Sohn ein, und nie gab es eine Zeit, da der Vater nicht war und im Vater nicht auch der Sohn. Er ist es, von dem am Anfang des Johannesevangeliums die Rede ist, wenn es heißt: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott“ (Joh 1,1). Ein wenig später spricht der nämliche Apostel von Dem, der „im Schöße des Vaters ist“ (Johl,18). Und Er Selbst redet von „der Herr¬lichkeit, die Er beim Vater hatte, bevor die Welt war“ (Joh 17,5). Der heilige Paulus nennt Ihn „den Abglanz von Gottes Herrlichkeit und das Ebenbild Seines Wesens“ (Hebr 1,3). Und anderswo „das Ebenbild des unsichtbaren Gottes“ (Kol 1,15). So kann das, was unser Herr ist, kein anderer sein; Er ist der Eingeborene Sohn; Er besitzt die gött¬liche Natur und ist eines Wesens mit dem Vater, was man von keinem Geschöpf je sagen kann. Er ist eins mit Gott, und Seine Natur ist geheimnisvoll und unmitteilbar. Daher stellt der heilige Paulus Seine Würde jener der Engel gegenüber, der höchsten aller Geschöpfe, in der Absicht, den unendlichen Vorrang des Sohnes zu zeigen. „Zu welchem der Engel sprach Er je: Mein Sohn bist Du, heute habe Ich Dich gezeugt?“ (Hebr 1,5). Ferner, „wenn Er den Erstgeborenen in die Welt einführt, sagt Er: Es sollen Ihn an-beten alle Engel Gottes“ (Hebr 1,6). Und aber¬mals: „Zu welchem Engel hat Er je gesagt: Setze Dich zu Meiner Rechten, bis Ich Deine Feinde zum Schemel Deiner Füße gemacht habe?“ (Hebr 1,13). Von den Engeln heißt es: „Er setzt kein volles Vertrauen auf Seine Heiligen; ja, die Himmel sind nicht rein vor Seinem Angesicht“ (Jb 15,15). Aber unser Herr ist Sein „Geliebter Sohn, an dem Er Sein Wohlgefallen hat“ (Mt 3,17).
Der Sohn war es, der die Welten schuf; Er war es, der seit alters in die Geschicke der Welt eingriff und zeigte, daß Er ein lebendiger und allsehender Gott ist, ob die Menschen an Ihn dachten oder nicht. Und doch würdigte Sich dieser große Gott, von Seinem himmlischen Thron auf die Erde herab¬zusteigen und in Seine eigene Welt hineingeboren zu werden; dabei zeigte Er Sich als der Sohn Gottes in einem neuen und anderen Sinn, in einer geschaffenen Natur, nicht bloß in Seiner ewigen Wesenheit. Das ist der erste Gedanke, den uns die Geburt Christi nahelegt.
2. Sodann beachtet: Da Er der allheilige Sohn Got¬tes war, kam Er naturgemäß auf eine Weise, die sich für den Allheiligen schickte und die verschieden war von der aller anderen Menschen, obwohl Er Sich herabließ, auf der Erde geboren zu werden. Er nahm unsere Natur an, aber nicht unsere Sünde; Er nahm unsere Natur an auf eine Weise, die über der Natur liegt. Stieg Er nun vom Himmel herab auf den Wolken? Bildete Er für Sich einen Leib aus dem Staub der Erde? Nein; Er wurde gleich anderen Menschen „gebildet aus einem Weib“ (Gal 4,4), wie Paulus sich ausdrückt, sollte Er doch keine andere Natur annehmen, als die Natur des Menschen. Von Anbeginn war geweissagt worden, daß der Same des Weibes der Schlange den Kopf zertreten sollte. „Ich will Feindschaft setzen“, sagt Gott beim Sündenfall zur Schlange, „zwischen dir und dem Weibe und zwischen deinem Samen und ihrem Samen; Er wird dir den Kopf zertreten“ (Gen 3,15). Infolge dieser Verheißung lebten fromme Frauen, wie wir hören, in alter Zeit immer in der Erwartung, daß an ihnen vielleicht die Verheißung ihre Erfüllung finden möchte. Eine um die andere hoffte, selbst Mutter des verheißenen Königs wer¬den zu dürfen; und daher stand die Ehe im Ansehen und die Jungfräulichkeit in Verruf, als hätten sie nur dann die Aussicht, Mutter Christi zu wer¬den, wenn sie dem Lauf der Natur gemäß und auf dem Weg der menschlichen Geschlechterfolge den Segen erwarteten. Es waren fromme Frauen, aber sie begriffen kaum die wirkliche Notlage der Menschheit. Zwar war bestimmt, daß das Ewige Wort durch die Mithilfe eines Weibes in die Welt kommen solle; aber es konnte nicht auf dem ge¬wöhnlichen Weg des Fleisches geboren werden. Die Menschheit ist ein gefallenes Geschlecht; seit dem Fall hat es „Irrtum und Verderbnis in der Natur jedes Menschen gegeben, der auf natürliche Weise aus dem Sproß Adams hervortrat;… so daß das Fleisch immer wider den Geist gelüstet und daher jeder, der auf dieser Welt geboren wird, Gottes Zorn und Verdammung verdient“. Und der Apostel selbst bekennt, daß Begierlichkeit und Lust in sich sündhaft sind. „Was aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch“ (Joh 3,6). „Wer kann etwas Reines aus Unreinem hervorbringen?“ (Jb 14,4). „Wie kann der vom Weib Geborene rein sein?“ (Jb 25,4). Oder wie der heilige David ausruft: „Siehe, in Ungerechtigkeit ward ich gebildet, und in Sünde hat mich empfangen meine Mutter“ (Ps 50,7). Kei¬ner wird auf dieser Welt ohne Sünde geboren1; noch kann sich einer befreien von der Sünde seiner Geburt außer in einer zweiten Geburt durch den Geist. Wie wäre somit der Sohn Gottes als heiliger Erlöser gekommen, wäre Er wie andere Menschen geboren? Wie könnte Er für unsere Sünden Sühne leisten, wäre Er Selbst in Schuld gewesen? Oder unser Haupt emporrichten, wenn Er Selbst der Sohn der Schande gewesen wäre? Sicher hätte jeder derartige Bote für seine eigene Krankheit einen Heiland gebraucht, und auf einen solchen würde das Sprichwort passen: „Arzt, heile dich selbst“. Menschliche Priester sind jene, die zu opfern haben „zuerst für ihre eigenen Sünden und dann für die des Volkes“ (Hebr 7,27); aber Er, der als unbeflecktes Lamm Gottes und allvermögender Priester kam, konnte nicht in der Weise kommen, wie jene guten Frauen es erwarteten. Er kam auf eine neue und lebensvolle Art, durch die Er allein gekommen ist und die allein Ihm ziemte. Der Prophet Isaias hat sie als erster angekündigt: „Der Herr Selbst wird euch ein Zeichen geben“, sagt er, „siehe, eine Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären und Seinen Namen Emanuel nennen“ (Is 7,14). Demgemäß weist der heilige Matthäus, nachdem er diese Stelle angeführt hat, auf ihre Erfüllung in Maria, der Gebenedeiten, hin. „All dies“, sagt er, „ist geschehen, auf daß erfüllt werde, was durch den Propheten gesagt worden ist“ (Mt 1,22). Und ferner, zwei verschiedene Engel verkünden, der eine Maria, der andere Joseph, wer dieser anbetungs¬würdige Mittler sei, der dieses Wunder wirke. „Joseph, Sohn Davids“, sagt ein Engel zu ihm, „fürchte dich nicht, Maria, dein Weib, zu dir zu nehmen, denn was in ihr gezeugt worden, ist vom Heiligen Geist“; und was folgt daraus? Er fährt fort: „Und sie wird einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben; denn Er wird Sein Volk von seinen Sünden erlösen“ (Mt 1,20.21). Weil „Er Mensch geworden ist durch den Heiligen Geist aus Maria der Jungfrau“, deshalb war Er „Jesus“, ein „Erlöser von den Sünden“. Auch hatte der Engel Gabriel bereits zu Maria gesagt: „Ge¬grüßt seist du, Hochbegnadete; der Herr ist mit dir; du bist gebenedeit unter den Frauen“. Und dann verkündet er weiter, daß ihr Sohn Jesus heißen solle; daß Er „groß sein werde und der Sohn des Allerhöchsten genannt werden solle“; und daß „Seines Reiches kein Ende sein werde“. Und er schließt mit der Erklärung: „Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Allerhöchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das aus dir geboren werden soll, Sohn Gottes genannt werden“ (Lk 1, 28-35) Weil Gott der Heilige Geist wunderbar in ihr wirkte, deshalb war ihr Sohn „das Heilige“, „der Sohn Gottes“, und „Jesus“ und der Erbe eines ewigen Reiches.
3. Das ist das große Geheimnis, das wir jetzt feiern, dessen Anfang Barmherzigkeit und dessen Ende Heiligkeit ist gemäß dem Psalmwort: „Gerechtigkeit und Frieden küssen sich“ (Ps 84, 11). Er, der ganz Reinheit ist, kam zu einem unreinen Geschlecht, um es zu Seiner Reinheit emporzuheben. Er, der Abglanz von Gottes Herrlichkeit, kam in einen Leib aus Fleisch, der rein und heilig war wie Er Selbst, „ohne Fleck oder Runzel oder etwas dergleichen, sondern heilig und makellos“ (Eph 5,27); und das tat Er um unseretwillen, „damit wir Seiner Heiligkeit teilhaftig sein könnten“. Er bedurfte für Sich Selbst keiner menschlichen Natur, — Er war ganz und gar vollkommen in Seiner ursprünglichen göttlichen Natur; aber um unseretwillen nahm Er an Sich, was unser war. Er, der „aus einem Blut alle Völker der Erde gemacht hat“, so daß in der Sünde des einen alle sündigten und in dem Tod des einen alle starben, Er kam gerade in dieser Natur Adams, um uns jene Natur mitzuteilen, die in Seiner Person ist, damit „unser sündiger Leib gereinigt werden möge durch Seinen Leib und unsere Seelen gewaschen durch Sein kostbares Blut“; um uns der göttlichen Natur teilhaftig zu machen; um den Samen ewigen Lebens in unsere Herzen auszustreuen; und um uns aus der „Verderbnis, die in dieser Welt durch die Lust ist“, zu jener unbefleckten Reinheit und Gnadenfülle zu erheben, die Ihm innewohnt. Er, der der Ursprung und das Urbild aller geschaffenen Dinge ist, kam, um der Anfang und das Urbild der Menschheit zu sein, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung. Er, der das immerwährende Licht ist, wurde das Licht der Menschen; Er, der das Leben von Ewigkeit her ist, wurde das Leben eines in Sünde toten Geschlechtes; Er, der das Wort Gottes ist, kam, um ein geistiges Wort zu sein, „das reichlich in unseren Herzen wohnt“ (Kol 3,16), ein „eingepflanztes Wort, das unsere Seelen retten kann“ (Jak 1,21); Er, der wesensgleiche Sohn des Vaters, kam, um der Sohn Gottes in unserem Fleisch zu sein, damit Er auch uns zur Gotteskindschaft erhebe und der erste unter vielen Brüdern sei. Und das ist der Grund, warum das festtägliche Kirchengebet, nachdem es von unserem Herrn als dem Eingeborenen Sohn gesprochen hat, der geboren wurde in unserer Natur aus einer reinen Jungfrau, darnach von unserer Neugeburt, unserer Annahme an Kindesstatt und von der Er¬neuerung durch die Gnade des Heiligen Geistes spricht.
4. Als Er in die Welt kam, war Er in Seinem äußeren Leben ebenso das Urbild der Heiligkeit wie bei Seiner Geburt. Er ließ Sich nicht mit Sündern ein und befleckte Sich nicht mit ihnen. Er kam herab vom Himmel, vollbrachte ein rasches Werk der Gerechtigkeit und kehrte dann wieder dorthin zurück, wo Er zuvor war. Er kam in die Welt und verließ in Eile die Welt; als wollte Er uns sagen, wie wenig Er, wie wenig wir, Seine Jünger, mit der Welt zu tun haben. Er, der das ewige, immerlebende Wort Gottes ist, überlebte nicht Methusalems Jahre, nein, Er füllte nicht einmal das gewöhnliche Lebensalter eines Menschen aus; sondern Er kam, Er ging, ehe die Menschen wußten, daß Er gekommen war, wie der Blitz, der aufleuchtet von einem Teil des Himmels zum anderen, da Er der Anfang einer neuen und unsichtbaren Schöpfung war und am alten Adam keinen Anteil hatte. Er war in der Welt, aber nicht von der Welt; und während Er hier war, Er, der Menschensohn, war Er auch im Himmel; und so wenig wie Feuer sich von Wasser nähren oder der Wind menschlichem Geheiß unterworfen werden kann, so wenig kann der Eingeborene Sohn wirklich ein Teil und ein Glied jener vergänglichen Welt sein, die zu betreten Er Sich würdigte. Er konnte auf Erden weder bleiben noch verweilen; Er tat nur Sein Werk auf ihr; Er konnte nur kommen und gehen.
Da Er während Seines Aufenthaltes hienieden die Erde nicht genießen, noch Sich an ihr erfreuen konnte, so wollte Er auch nichts wissen von ihren gepriesenen Gütern. Als Er Sich zu Seiner eigenen sündigen Schöpfung herabbeugte, wollte Er nicht zulassen, daß die Schöpfung Ihm mit ihrem Besten diente, Er verschmähte es gleichsam, eine Gabe oder einen Tribut von einer gefallenen Welt anzunehmen. Nur die wiedergeborene Natur darf sich erkühnen, dem Heiligen zu dienen. Er wollte vom Reich der Finsternis nicht Wohnstatt noch Unterhalt, weder Anerkennung noch Schmeichelei annehmen. Er wollte nicht zum König erhoben werden; Er wollte nicht guter Meister genannt werden; Er wollte nichts besitzen, wo Er Sein Haupt hinlegen konnte. Sein Leben bedurfte nicht des Men¬schen Hauch noch des Menschen Lächeln; es war verborgen in Dem, von dem Er kam und zu dem Er ging.
„Das Licht leuchtete in der Finsternis, aber die Finsternis hat es nicht begriffen“ (Joh 1,5). Nach dem Urteil der Menge war er wie jeder andere Mensch. Obgleich empfangen vom Heiligen Geist, wurde Er von einer armen Frau geboren, die ob der Überzahl der Fremden abgewiesen wurde und Ihn in einem Stall zur Welt brachte. O wunderbares Geheimnis, frühzeitig geoffenbart, daß Er Selbst bei der Geburt den Willkommgruß der Welt zurückwies! Er wuchs auf als der Sohn eines Zimmermanns, ohne Bildung, so daß Seine Nachbarn, als Er zu lehren begann, sich wunderten, wie einer ein Prophet werden sollte, der die Schule nicht besucht hatte und nur in einem niedrigen Handwerk ausgebildet war. Er war bekannt als der Ver¬wandte und Freund armer Leute; so daß die Welt auf sie zeigte, als Er Selbst an die Öffentlichkeit trat, wie wenn die Niedrigkeit ihres Standes die Widerlegung Seiner Ansprüche wäre. Er wuchs auf in einer Stadt von schlechtem Ruf, so daß sogar die Besseren zweifelten, ob etwas Gutes aus ihr kommen könne. Nein, Er wollte dieser Welt weder Behaglichkeit, noch Hilfe noch Ansehen verdanken: denn „die Welt ist durch Ihn gemacht worden, aber die Welt hat Ihn nicht erkannt“ (Joh 1,10). Er kam zu ihr als Wohltäter, nicht als Gast; nicht um von ihr zu borgen, sondern um sie zu beschenken.
Als er dann heranwuchs und vom Himmelreich zu predigen begann, da nahm der heilige Jesus nicht mehr von der Welt an als zuvor. Er wählte das Los jener Heiligen, die Ihm vorangingen und Seine Vorbilder waren, wie Abraham, Moses, David, Elias und Sein Vorläufer, Johannes der Täufer. Er lebte im Freien, ohne die Bindung an eine Heimat oder an eine friedliche Wohnstätte; Er lebte als Pilger im Land der Verheißung; Er lebte in der Einsamkeit. In Zelten hatte Abraham in dem Land gelebt, das seine Nachkommen besten sollten- David hatte es, während Saul ihn verfolgte, sieben Jahre lang kreuz und quer durchwandert. Moses war ein Gefangener in der menschenleeren Wüste gewesen, auf dem ganzen Weg vom Berge Sinai bis zu den Grenzen Kanaans. Elias hinwiederum wanderte vom Karmel zum Sinai zurück. Und der Täufer war von Jugend an in der Einsamkeit geblieben. Dies war auch das äußere Leben unseres Herrn während Seiner öffentlichen Tätigkeit; Er war bald in Gali¬läa, bald in Judäa; man findet Ihn auf den Bergen, in der Wüste, in der Stadt, aber Er gönnte Sich keine Heimat, nicht einmal den Tempel Seines Vaters zu Jerusalem.
Alles dies nun ist ganz unabhängig von den besonderen, erbarmungsvollen Absichten, die Ihn auf die Erde führten. Wenn Er Sich doch zuletzt durch eine unbegreifliche Herablassung dem Tod am Kreuz unterwarf, warum dann verschmähte Er zu Anfang diese Welt, als Er noch nicht für ihre Sünden sühnte? Er hätte wenigstens die Freude an jenen Brüdern haben können, die an Ihn glaubten; Er hätte in Seiner Heimat glücklich und geachtet sein können; Er hätte in Seinem Heimatland Ehre besitzen können; es hätte genügt, nur am Ende sich dem zu unterwerfen, was Er tatsächlich von Anfang an erwählte; Er hätte Seine freiwilligen Leiden bis zu jener Stunde verschieben können, da Ihn der Wille Seines Vaters und Sein eigener zum Opfer für die Sünde machte.
Aber Er handelte anders; und so wird Er zur Lehre für uns, die wir Seine Jünger sind. Er, der so weitabgewandt war, so gegenwärtig beim Vater selbst in den Tagen Seines Fleisches, verlangt von uns, Seinen Brüdern, da wir in Ihm sind und Er im Vater ist, zu zeigen, daß wir wirklich das sind, wozu wir gemacht wurden, indem wir, zwar in der Welt, der Welt entsagen und gleichsam in der Gegenwart Gottes leben.
Das sollen jene bedenken, die meinen, die Voll¬kommenheit unserer Natur bestehe noch wie vor der Verleihung des Geistes in der Betätigung aller ihrer einzelnen körperlichen und geistigen Funktionen, nicht aber in der entsagenden Unterwerfung unseres niedrigeren Ich unter das höhere. Christus, der der Anfang und das Urbild der neuen Schöp¬fung ist, lebte gewissermaßen außerhalb des Kör¬pers, während Er in ihm war. Sein Tod freilich wurde als Sühne gefordert; aber warum sollte Sein Leben so abgetötet sein, wenn nicht deshalb, weil eine solche Strenge der Ruhm des Menschen ist?
Nahen wir uns in dieser Zeit mit Ehrfurcht und Liebe Dem, in dem alle Vollkommenheit wohnt und von dem wir sie empfangen dürfen. Gehen wir zu Dem, der heiligt, damit wir geheiligt werden. Gehen wir zu Ihm, um unsere Pflicht kennen zu lernen und die Gnade zu erlangen, sie zu erfüllen. In anderen Zeiten des Jahres werden wir daran gemahnt, zu wachen, zu arbeiten, zu kämpfen und zu leiden; aber in dieser Zeit werden wir einfach an die Gaben Gottes für uns Sünder erinnert. „Nicht wegen der Werke der Gerechtigkeit, die wir getan, sondern nach Seiner Barmherzigkeit hat Er uns gerettet“ (Tit 3,5). Wir werden daran erinnert, daß wir nichts tun können, und daß Gott alles tut. Dies ist im Besonderen die Zeit der Gnade. Wir kommen, Gottes Erbarmungen zu sehen und zu erfahren. Wir nahen uns Ihm wie die hilflosen Wesen, die während Seiner öffentlichen Tätigkeit auf Betten und Tragbahren zur Heilung gebracht wurden. Wir kommen, um geheilt zu werden. Wir kommen wie kleine Kinder, um ernährt und belehrt zu werden, „als neugeborene Kinder, zu verlangen nach der unverfälschten Milch des Wortes, damit wir dadurch wachsen mögen“ (1 Petr 2,2). Dies ist eine Zeit der Unschuld, der Reinheit, der Sanftmut, der Milde, der Genügsamkeit und des Friedens. Es ist eine Zeit, in der die ganze Kirche in Weiß gekleidet zu sein scheint, in ihr Taufkleid, in das strahlende und glänzende Gewand, das sie auf dem heiligen Berg trägt. Zu anderen Zeiten kommt Christus in blutbefleckten Kleidern; aber jetzt kommt Er zu uns ganz hold und friedlich, und Er ermahnt uns, froh zu sein in Ihm und einander zu lieben. Dies ist keine Zeit für Düsterkeit, Eifer¬sucht, Besorgnis, Genußsucht, Ausschreitung oder Ausschweifung: — nicht für „Schmausereien und Trinkgelage“, nicht für „Wollust und Unzucht“, nicht für „Zank und Neid“ (Röm 13,13), wie der Apostel sagt, sondern um anzuziehen den Herrn Jesus Christus, „der die Sünde nicht kannte und in dessen Mund kein Trug gefunden wurde“ (1 Petr 2,22).
Möge jedes neue Weihnachten uns Ihm, der zu dieser Zeit um unseretwillen ein kleines Kind wurde, mehr und mehr ähnlich finden, schlichter also und demütiger, heiliger, liebevoller, ergebener, glücklicher, gotterfüllter.
John Henry Newman, Pfarr- und Volkspredigten, V, 12 , Schwabenverlag Stuttgart 1953, 106-119.