9. Predigt vom 3. Juli 1831
„Der Mann, von welchem die Teufel ausgefahren waren, hatte Ihn gebeten, daß er bei Ihm bleiben dürfe; Jesus aber entließ ihn und sprach: Kehre zurück in dein Haus, und erzähle, welch große Dinge an dir Gott getan hat“ (Lk 8,38.39).
Es war eine sehr natürliche Regung in dem Mann, den unser Herr von seiner furchtbaren Heimsuchung befreit hatte, daß er bei Ihm zu bleiben wünschte. Sein Herz war ohne Zweifel entzückt vor Freude und Dankbarkeit. Welchen Grad von Einsicht er auch in sein wirkliches Elend gehabt haben mochte, während die Teufel ihn quälten, jetzt zum mindesten, nachdem er seinen klaren Verstand wieder gewonnen hatte, konnte er begreifen, daß er in einem erbarmungswürdigen Zustand gewesen war, und er mußte in sich all jene Hochstimmung und seelische Beschwingtheit fühlen, die jede Art von Erlösung aus Qual und Zwang begleiten. Unter diesen Umständen glaubte er sich in eine neue Welt versetzt; er hatte die Befreiung gefunden; und noch mehr als das, einen Befreier zugleich, der vor ihm stand. Und sei es der Wunsch, immer in Seiner göttlichen Nähe zu sein als Sein Diener, oder die Furcht, der Satan könnte gar mit siebenfacher Gewalt zurückkehren, sollte er Christus aus dem Auge verlieren, oder eine unbestimmte Ahnung, daß all seine Pflichten und Hoffnungen jetzt andere geworden seien, daß seine bisherige Lebensweise seiner unwürdig sei und daß er mit der neuen Glut, die er in sich brennen fühlte, etwas Großes beginnen müsse – aus einem dieser Gefühle oder aus allen zusammen, ersuchte er den Herrn, bei Ihm bleiben zu dürfen. Christus gab anderen den Befehl zu dieser Gefolgschaft. Er befahl z. B. dem reichen Jüngling, Ihm nachzufolgen; Er gibt entgegen gesetzte Befehle je nach unseren Charakter anlagen und Neigungen; Er durchkreuzt uns den Weg, um unseren Glauben zu prüfen. Im vorliegenden Fall gestattete Er nicht, was Er sonst befohlen hatte. „Kehre zurück in dein Haus“, sagte Er, oder, wie es beim Evangelisten Markus heißt: „Geh heim zu den Deinigen und verkünde ihnen, was der Herr Großes an dir getan hat und wie Er sich deiner erbarmet hat“ (Mk 5,19). Er leitete den Strom seiner neu erwachten Gefühle in ein anderes Bett; gleich als ob Er sagte: „Liebst du Mich? Dann tu dies: geh heim zu deinen früheren Arbeiten und Geschäften. Früher hast du sie schlecht gemacht; du hast der Welt gelebt; verrichte sie jetzt gut, lebe für Mich. Tu deine Pflichten, die großen und die kleinen, tu sie recht von Herzen um Meinetwillen; geh hin zu deinen Freunden und zeige ihnen, was Gott an dir getan hat, sei ihnen ein Vorbild und lehre sie.“ Und wie Er weiter bei einem anderen Anlaß sagte: „Zeige dich dem Priester und opfere die Gabe, welche Moses befohlen hat, ihnen zum Zeugnis“ (Mt 8, 4). Offenbare dein größeres Licht und deine wahrhaftigere Liebe, wie du sie jetzt besitzest, in einem gewissenhaften, dauernden Gehorsam gegenüber allen Verordnungen und Riten deiner Religion. Aus diesem Bericht nun über den geheilten Besessenen, aus seiner Bitte und der Verweigerung derselben durch den Herrn läßt sich eine Lehre gewinnen für die, welche nach religiös vernachlässigter Jugendzeit endlich sich mit ernsten Gedanken befassen, eine Umkehr versuchen und Gott besser als bisher dienen wollen, obwohl sie nicht wissen, wie beginnen. Wir wissen, daß die Satzungen Gottes angenehm sind und „herzerfreuend“ (Ps 18,9), wenn wir sie in der Reihenfolge und Art annehmen, wie Er sie uns auferlegt; daß Christi Joch gemäß Seiner Verheißung (im ganzen) sehr leicht ist, wenn wir uns Ihm beizeiten unterwerfen; daß die Ausübung der Religion voll des Trostes ist für die, welche nach Empfang der Taufe mit dem Geist der Gnade Seine Einwirkung dankbar empfangen, je nachdem ihr Geist sich offenhält; denn ihr Herz, ihre Seele, ihre Kraft werden Schritt für Schritt und fast ohne fühlbare Anstrengung mit jenem wahren himmlischen Leben durchtränkt, das ewige Dauer hat.
Aber hier tritt uns die Frage entgegen: „Was müssen denn jene tun, die es vernachlässigt haben, ihres Schöpfers in den Tagen ihrer Jugend zu gedenken und dadurch allen Anspruch verwirkt haben auf Christi Verheißung, daß Sein Joch leicht und Seine Gebote nicht schwer seien?“ Ich gebe ihnen zur Antwort: daß sie selbstredend nicht überrascht sein dürfen, wenn der Gehorsam für sie ein mühsamer Anstieg bleibt ihr Leben lang; nein, daß für sie als „einstmals Erleuchtete und in der heiligen Taufe vom Heiligen Geist Erfaßte“, jede Berechtigung zu einer Klage fortfällt, selbst wenn es „für sie unmöglich wäre, sich wieder zur Sinnesänderung zu erneuern“ (Hebr 6, 6). Aber Gottes Barmherzigkeit ist größer als diese strenge Gerechtigkeit; Er ist barmherzig nicht nur mehr als wir es verdienen, sondern weit über Seine eigenen Verheißungen hinaus. Selbst für jene, die Ihn in ihrer Jugend übergangen haben, hat Er (wenn sie es benützen wollen) eine Art Heilmittel ersonnen für die infolge der Sündhaftigkeit selbstverschuldeten Schwierigkeiten, die auf dem Weg ihres Gehorsams liegen. Worin dieses Heilmittel besteht und wie es anzuwenden ist, das will ich jetzt im Anschluß an den Bericht unseres Vorspruchs weiter ausführen.
Das Hilfsmittel, von dem ich rede, ist die Begeisterung, von der die Bekehrung im Anfang begleitet ist. Es ist wahr, daß, was immer ein Mensch an Leidenschaftlichkeit der Erregung oder Feinheit des Empfindens zur Schau getragen hat, nie von selbst zu einer Umkehr unseres Weges noch zur Erfüllung unserer Pflicht führt. Stürmische Gedanken, hohe Anwandlungen, ideale Vorstellungen haben aus sich keine Kraft. Sie können einen Menschen ebenso wenig zu dauerndem Gehorsam bewegen, wie sie Berge versetzen können. Empfindet einer wahre Reue, dann muß das die Folge nicht dieser Dinge sein, sondern einer klaren Überzeugung von seiner Schuld, die Frucht eines überlegten Entschlusses, die Sünde aufzugeben und Gott zu dienen. Das Gewissen und die Vernunft im Dienste des Gewissens, das sind (mit Gottes Hilfe) die machtvollen Mittel, einen Menschen umzuwandeln. Aber ihr werdet beobachten, daß Gewissen und Vernunft uns die Liebe zu einem neuen Leben nicht plötzlich geben können, so sehr sie zu einem Entschluß und zu einem Versuch desselben hinführen. Lange Übung und Gewohnheit nur vermitteln uns die Liebe zur Religion. Und zweifellos ist der Gehorsam für Gewohnheitssünder anfänglich recht schwer. Hier nun liegt der Nutzen jener oben erwähnten inbrünstigen und brennenden Gefühle, welche die ersten Regungen des Gewissens und der Vernunft begleiten, – um dem Gehorsam von Anfang an seine Härte zu nehmen und uns einen Antrieb zu geben, der uns über die ersten Hindernisse hinwegträgt und uns mit Freuden den Weg gehen heißt. Nicht als ob diese ganze Gemütserregung von Dauer wäre (was nicht sein kann), aber sie erfüllt ihre Aufgabe, indem sie uns so in Bewegung setzt und uns dann der nüchterneren und höheren Tröstung überläßt. Diese aber entspringt jener wahren Liebe zur Religion, welche der Gehorsam selbst bis dahin zu formen begonnen hat, um sie dann allmählich in uns zu vervollkommnen.
Es ist gut, diesen Gedanken restlos zu erfassen, da er oft mißverstanden wird. Wenn Sünder endgültig zu ernsthaftem Überlegen kommen, dann geht ihrer Selbstprüfung gewöhnlich ein starkes Gemütserleben voraus oder es begleitet sie. Ein Buch, das sie lasen, eine Unterhaltung mit einem Freund, einige Bemerkungen, die sie in der Kirche hörten, ein Erlebnis oder ein Unglück rütteln sie auf. Oder aber sie haben ihre Selbstprüfung auf ruhige und überlegte Weise begonnen, jedoch in kurzer Zeit wird gerade der Blick auf ihre vielfältigen Sünden, auf ihre Schuld und auf das Häßliche ihrer Undankbarkeit gegen ihren Gott und Heiland sie plötzlich überfallen und, da es für sie etwas Neues ist, sie in Erstaunen setzen und zuletzt aufwühlen. Daran also müssen sie der Anordnung der göttlichen Vorsehung gemäß den Sinn dieser ganzen seelischen Erregung erkennen. Sie wird nicht von Bestand sein; sie kommt aus der Neuheit des sich ihnen bietenden Blickes. Mit der Gewöhnung an religiöse Besinnung wird die Erregung allmählich verschwinden. Sie ist nicht schon Religion, obwohl sie zufällig damit verbunden ist und zu einem Mittel werden kann, um auf einen gesunden, religiösen Lebensweg zu führen. Sie ist eine Gnade, die den Sinn hat, sie dabei über die ersten Unannehmlichkeiten und Mühen in der Pflichterfüllung hinwegzuheben. Als solche muß sie genutzt werden, sonst ist sie nutzlos, ja noch schlimmer als nutzlos. Meine Brüder, vergeßt das nicht! Dies wird euch geschenkt, um euch den Gehorsam für den Anfang leicht zu machen (übrigens darf ich das im allgemeinen sagen, – ohne mich auf das gesteigerte Gefühl, das die Reue begleitet, zu beschränken – mit Bezug auf alle natürlichen, uns zum Guten anregenden Gemütswallungen, die wir unwillkürlich bei verschiedenen Anlässen in uns fühlen). Gehorchet deshalb sofort; nutzet es, solange es andauert; es wartet auf keinen. Fühlt ihr ein natürliches Mitleid in einem Fall, der vernünftigerweise eure Wohltätigkeit erfordert? Oder einen Antrieb zur Hochherzigkeit in einem Fall, da ihr zu einer männlichen Tat der Selbstüberwindung aufgerufen seid? Was immer eure Gemütsbewegung sein mag, sei es das oder jenes, bildet euch nicht ein, daß ihr sie immer fühlen werdet. Ob ihr sie nutzet oder nicht, ihr werdet sie immer weniger spüren und zuletzt werdet ihr im Verlauf des Lebens eine derartige plötzliche und heftige Erregung gar nicht mehr erleben. Aber hierin liegt der Unterschied zwischen der Ausnützung und dem Versäumnis dieser Gelegenheiten: wenn ihr sie zum Handeln nutzet und ihrem Antrieb auf die Stimme eures Gewissens hin folget, habt ihr sozusagen einen Sprung über einen Abgrund getan, für den eure gewöhnliche Kraft nicht ausgereicht hätte; ihr habt euch den Anfang des Gehorsams gesichert, und die folgenden Schritte sind (im allgemeinen) weit leichter als jene, die zuerst die Richtung bestimmen. Und so sage ich denn, um mich wieder jenen zuzuwenden, die sich in ihrem Herzen von vorübergehenden Gewissensbissen hart bedrängt fühlen, zögert nicht; geht heim zu euren Freunden und tuet Buße in Werken der Rechtschaffenheit und Liebe; beeilet euch, bestimmter Taten des Gehorsams euch zu befleißigen. Das Handeln und die Absicht zu handeln sind viel weiter auseinander, als man es sich auf den ersten Blick vorstellt. Füget sie zusammen, solange ihr könnt; ihr werdet eure guten Gefühle als Rücklage direkt in euer Herz niederlegen, indem ihr sie so auf eure Lebensführung wirken lasset; und sie werden „zur Frucht aufquellen“ (Ez 17, 23). So handelten – erzählt der heilige Paulus – die Korinther, die ins Gewissen getroffen waren; er freute sich „daß sie betrübt wurden (nicht daß nur ihr Gefühl erregt war), sondern daß sie betrübt wurden zur Buße…, denn die gottgefällige Traurigkeit (fährt er fort) bewirket Buße zum Heile, die man nicht bereut, die Traurigkeit aber der Welt wirket Tod“ (2 Kor 7, 9.10).
Jetzt aber wollen wir uns fragen: wie pflegen sich die Menschen tatsächlich zu verhalten, wenn ihr Gewissen ihnen ihr vergangenes Sündenleben vorhält? Von solcher Handlungsweise sind sie weit entfernt. Sie betrachten ihren stürmischen Eifer und die glühende Andacht, die ihre Reue begleiten, als den innersten Kern und die wahre Größe der Religion; in Wahrheit jedoch sind die beiden zum einen Teil eine verderbte Frucht ihres eigenen früheren verderbten Geisteszustandes, zum anderen Teil die gnädige, natürliche, freilich nur vorübergehende Ausstattung, um sie zur Durchführung ihrer Bekehrung zu ermuntern. Sie halten sich für religiös, weil sie in solcher Erregung sind: sie gefallen sich in der Wärme solcher Gefühle um dieser selbst willen und finden darin ihre Beruhigung, als ob sie sich dabei religiöser Übung hingäben; sie rühmen sich ihrer, als ob sie der Erweis des eigenen gehobenen Seelenzustandes wären; anstatt sie zu nutzen (das einzige, was sie tun müßten), sie zu nutzen als eine Anregung zu den Werken der Liebe, der Barmherzigkeit, der Wahrheit, der Güte und der Heiligkeit. Nachdem sie aber den Genuß solcher Gefühle eine Zeitlang gekostet haben, läßt die Erregung naturgemäß nach. Sie haben die früheren Gefühle nicht mehr. Dies hätte man (wie ich sagte) voraussehen können, aber sie fassen es nicht so auf. Seht nun ihren unbefriedigenden Zustand! Sie haben die Gelegenheit verpaßt, die ersten Schwierigkeiten tätigen Gehorsams zu überwinden und damit ihre Haltung und ihren Charakter zu festigen – und sie kehrt nicht wieder. Dieses ist das eine große Unglück; aber darüber hinaus: in welch eine Verwirrung haben sie sich verwickelt! Die Wärme ihres Gefühlslebens stirbt allmählich dahin. Da sie dies aber für echte Religiosität halten, sind sie infolgedessen der Ansicht, daß ihr Glaube schwinde und sie wieder in die Sünde zurückfallen.
Und das ist leider zu oft der Fall; sie verkümmern tatsächlich, denn sie haben keine Wurzeln in sich. Da sie es unterließen, durch entsprechendes Handeln ihre Gefühle in Grundsätze umzubilden, fehlt ihnen die innere Kraft zum Widerstand gegen die ständig sie bedrängende Versuchung, der Welt sich anzugleichen. Ihr Geist wurde gleich dem Wasser vom Wind bewegt, der die Wellen eine Zeitlang aufpeitscht, dann aber sich legt und das Wasser in den früheren Ruhezustand zurückgleiten läßt. Die kostbare Gelegenheit, besser zu werden, ist verpaßt. „Und die letzten Dinge sind bei ihnen schlimmer als die ersten“ (2 Petr 2, 20).
Aber angenommen, sie werden, wenn sie dieses vermeintliche Absinken erstmals entdecken, darüber unruhig und schauen nach Mitteln aus, um wieder in die Höhe zu kommen: was tun sie? Beginnen sie unverzüglich mit der Übung des demütigen Gehorsams, der sie allein am Jüngsten Tage als zu Christus gehörig erweisen kann? Wie z. B. Beherrschung ihrer Leidenschaftlichkeit, Einteilung ihrer Zeit, selbstlose Liebe, besonnene Wahrhaftigkeit? Weit gefehlt: sie verachten diesen schlichten Gehorsam gegen Gott als bloße unerleuchtete Sittlichkeit, wie sie es nennen, und suchen nach zugkräftigen Reizmitteln, um jene Begeisterung der Gefühlsbewegung in ihrem Innern hochzuhalten, wurden sie doch belehrt, diese als das Wesen des religiösen Lebens anzuschauen – ohne daß sie aber jetzt in der Lage wären, sie mit den früheren Mitteln hervorzurufen. Sie flüchten sich in neue Lehren oder folgen fremden Meistern, um in diesem ihrem künstlich erworbenen Frömmigkeitszustand weiterträumen zu können und um der früher oder später sie wohl überfallenden Überzeugung aus dem Wege zu gehen, daß es zwar in unserer Macht steht, Erregung und Leidenschaft zu unterdrücken, nicht aber, sie hervorzurufen; daß es eine Grenze gibt für die Erregungen und Wallungen des Herzens (mögen wir sie nähren, wie wir wollen). Und kommt diese Zeit, dann ist die arme, mißhandelte Seele erschöpft und hilflos. Die Welt hat nicht wenige Beispiele für diesen furchtbaren Endzustand der Verstocktheit, der darauf folgt; da hat der unglückliche Sünder wirklich den Glauben des Teufels, aber nicht des Teufels Zittern, und sündigt weiter ohne Furcht.
Andere wiederum gibt es, die der Verzweiflung anheimfallen, wenn die Kraft und Glut der Gefühle abnimmt; so verfallen sie der Furcht und Knechtschaft, während sie in frohem Gehorsam hätten auf jubeln können. Es ist die Art der Besseren, die trotz gewisser echter, religiöser Grundsätze im Herzen zum Teil mißleitet sind – insofern nämlich, als sie sich auf ihr Gefühlsleben als den Erweis ihrer Heiligkeit gestützt haben; so sind sie ob ihrer eigenen Stille betrübt und erschreckt, da sie dieselbe als schlechtes Zeichen ansehen, und in ihrer Mutlosigkeit verlieren sie Zeit, indes andere ihnen den Rang ablaufen. Man könnte noch solche anführen, die sich durch den gleichen Feuereifer zu einem weiteren Irrtum verleiten lassen. Der geheilte Kranke in unserem Vorspruch wünschte bei Christus zu sein. Es ist klar, alle, welche der von mir beschriebenen falschen Frömmigkeit nachhängen, tragen (darf man sagen) das Verlangen in sich, unmittelbar unter den Augen Christi zu verbleiben, anstatt, wie es Sein Wunsch ist, heimzugehen, d. h. zurück zu den gewöhnlichen Pflichten des Lebens. Und sie machen es: die einen aus Glaubensschwäche, als ob Er sie bei Ausübung ihres irdischen Berufes nicht segnen und in der Gnade erhalten könnte, die andern aus einer falsch geleiteten Liebe zu Ihm. Aber es gibt solche, sage ich, die nach dem Erwachen zu einem religiösen Lebensgefühl ihre frühere Lebensweise sofort und restlos als ihrer unwürdig verachten und sich nun zu einem höheren und besonderen Amt in der Kirche berufen glauben. Diese verkennen ihre Pflichten, wie die oben genannten sie vernachlässigen. Sie vertun ihre Zeit nicht wie die andern bloß mit guten Gedanken und Worten, sondern unterliegen einem heftigen Drang nach falschen Werken und das auf Grund der gleichen starken Erregungen, deren rechten Gebrauch oder deren Ausrichtung auf das ihnen eigene Ziel sie nicht gelernt haben. Aber mit diesen mich länger zu befassen, würde mich von meinem Gegenstand wegführen.
Um zum Schluß zu kommen: lasset mich, meine Brüder, die Lehre wiederholen und euch nahelegen, die ich aus dem Bericht, dem der Vorspruch entnommen ist, abgeleitet habe. Euer Heiland hat euch von Jugend auf zu Seinem Dienst berufen und hat alles so gut eingerichtet, daß Ihm zu dienen volle Freiheit bedeutet. Glücklich vor allen anderen sind jene, die Seinen Ruf damals hörten und Ihm Tag für Tag dienten in dem Maße, wie ihre Kraft zum Gehorsam wuchs. Weiter jedoch: Seid ihr euch bewußt, diese Gunst der Gnade mehr oder weniger vernachlässigt und euch der Quälerei des Teufels überlassen zu haben? Seht, Er ruft euch ein zweites Mal. Er ruft euch immer wieder, indem Er eure Gefühle weckt, bevor Er euch endgültig aufgibt. Er führt euch sozusagen zeitweilig in eine zweite Jugend zurück durch die eindringlichen Überzeugungen, die aus gesteigerter Furcht, Dankbarkeit, Liebe und Hoffnung wachsen. Er versetzt euch nochmals für einen Augenblick in jenen erstmaligen, ungeformten Naturzustand, wo es weder Gewohnheit noch Charakter gibt. Er hebt euch über euch selbst hinaus, indem Er die Sünde für eine kurze Zeit der Macht beraubt, die sie über euch hat, weil sie in euch wohnt. Lasset diese Heimsuchungen nicht an euch vorbeiziehen „gleich einer Morgenwolke und gleich dem Morgentau“ (Os 6, 4). Ihr müßt gewiß noch zeitweilig Gewissensbisse fühlen ob eurer Vernachlässigungen Ihm gegenüber. Eure Sünde starrt euch ins Angesicht; euer Undank gegen Gott berührt euch peinlich. Folget dem Ruf, den Herrn zu erkennen, und suchet Seine Gunst zu gewinnen, indem ihr auf Grund dieser Antriebe handelt! Durch sie wie durch euer Gewissen wirbt Er um euch. Sie sind die Werkzeuge Seines Geistes, die euch aufrütteln sollen, euren wahren Frieden zu suchen. Seid aber nicht überrascht, wenn die Gefühle dahinsterben, trotzdem ihr euch ihrer bedienet. Sie haben ihren Auftrag erfüllt und ihr Absterben ist wie die Blüte, wenn sie zur Frucht sich wandelt, und das ist weit besser. Sie müssen sterben. Vielleicht müßt ihr euch hernach im Dunkel abmühen ohne den Aufblick zu eurem Erlöser, im Inneren eurer Gedankenwelt, umgeben von den Bildern dieser Welt und kündend Sein Lob inmitten jener, deren Herz erkaltet ist. Seid jedoch überzeugt, daß der entschlossene und dauernde Gehorsam, ohne dass hohes Entzücken und Gefühlswallung ihn begleiten, Ihm weit angenehmer ist als alle diese leidenschaftlichen Sehnsüchte, vor Seinem Angesichte zu leben, die nur in den Augen der Unwissenden für Religion gelten. Im besten Falle sind diese letzteren nur die gnadenhaften Ansätze zum Gehorsam, gnadenhaft und geziemend für Kinder, aber, so wie im fortgeschrittenen Alter das Kinderspiel, unwürdig des erwachsenen geistigen Menschen. Lernet leben aus dem Glauben, der eine ruhige, besonnene, vernünftige Grundhaltung ist, voll des Friedens und des Trostes, der Christus schaut und seine Freude an Ihm hat, auch wenn er von Seiner Nähe weg in die Welt ausgesandt ist, um dort sich abzumühen. Ihr werdet euren Lohn dafür erhalten. Er wird „euch wiedersehen, und euer Herz wird sich freuen, und eure Freude wird niemand von euch nehmen“ (Joh 16, 22).
John Henry Newman, Deutsche Predigten (vol 1, 9), Schwabenverlag Stuttgart 1948, pp. 127-139.