Der zweite Frühling

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(gehalten in der Marienkirche zu Oscott[1])

„Surge, propera, amica mea, columba mea, for-mosa mea, et veni. Jam enim hiems transiit, imber abiit et recessit. Flores apparuerunt in terra nostra.“

„Steh auf, eile, meine Freundin, meine Taube, meine Schöne, und komm! Denn der Winter ist schon vorüber, der Regen hat aufgehört und ist vergangen; die Blumen sind erschienen in unserem Land“ (Hl 2, 10-12).

Tag für Tag erleben wir die Ordnung, die Bestän­digkeit und die fortwährende Erneuerung der geschöpflichen Welt, die uns umgibt. So hinfällig und vergänglich jeder ihrer Teile ist, so ruhelos und rastlos ihre Grundkräfte sind, so unaufhörlich ihr Wandel ist, sie selbst bleibt bestehen. Sie wird von einem Gesetz der Beständigkeit umschlossen; auf Einheit ist sie gegründet; und obwohl immer im Sterben, ersteht sie immer wieder neu zum Leben. Die Auflösung führt nur zur Geburt von neuen or­ganischen Formen, und ein Tod ist der Mutter­schoß für tausendfaches Leben. Jede Stunde, die kommt, ist nur der Beweis für die Flüchtigkeit, doch auch für die Sicherheit und Zuverlässigkeit des großen Ganzen. Sie ist wie das Spiegelbild im Wasser, es bleibt sich stets gleich, indes das Wasser immer weiter fließt. Wandel auf Wandel – aber ein Wandel ruft dem anderen zu, gleich den Se­raphim, die im Wechselchor ihrem Schöpfer Lob- und Ruhmeslieder singen. Die Sonne geht unter, um wieder aufzugehen; der Tag wird vom Dun­kel der Nacht verschlungen, um aus ihr geboren zu werden, so jung, als wäre er nie erloschen. Der Frühling schreitet hinein in den Sommer und durch Sommer und Herbst hindurch in den Winter, nur um durch seine eigene letzte Wiederkehr um so sicherer über jenes Grab zu triumphieren, dem er von sei­ner ersten Stunde an geradewegs entgegengeeilt ist. Wir trauern über die Blütenpracht des Mai dar­um, daß sie welken muß; aber wir wissen zugleich, daß der Mai eines Tages seine Rache nehmen wird am November infolge jenes feierlichen zyklischen Umlaufs, der niemals innehält, – der uns auf dem Gipfel unserer Hoffnung lehrt, immer nüchtern zu sein, und in der Tiefe unserer Verlassenheit, nie zu verzweifeln.

Und so überzeugend dieses einem jeden von uns zum Bewußtsein kommt, nicht weniger überzeu­gend ist der Gegensatz, der zwischen dieser stoff­lichen Welt, die inmitten ihres Wandels so lebens­kräftig, so schöpferisch ist, und der sittlichen Welt besteht, die in all ihrem Streben so schwach, so erd­wärts gerichtet, so hilflos ist. Was untergehen muß, dauert an; was Zukunft verheißt, enttäuscht und ist nicht mehr. Dieselbe Sonne scheint am Himmel von Anfang bis zu Ende, und das blaue Firmament, die ewigen Berge werfen ihre Strahlen zurück; wo aber gibt es auf Erden den Sieger, den Helden, den Gesetzgeber, den Staat, das Herrschergeschlecht, die vor dreihundert Jahren groß waren und es jetzt noch sind? Moralisten und Dichter ergehen sich oft über jene ein erschaffene Vitalität des Stoffes und jene angeborene Vergänglichkeit des Geistes. Der Mensch erhebt sich, um zu fallen. Er strebt der Auflösung entgegen von dem Augenblick an, da er ins Dasein tritt; er lebt zwar weiter in seinen Kindern, er lebt weiter in seinem Namen, doch er lebt nicht weiter in seiner eigenen Person. Nach den Kundgebungen seiner irdischen Natur ist er wie eine Seifenblase, die zerplatzt, und wie Wasser, das man auf die Erde gießt. Einst war er jung, heute ist er alt, nie wieder wird er jung sein. Das ist das Klagelied über ihn, in das Christen wie Heiden in Vers und Prosa aus­gebrochen sind. Der Mensch – nach all den Kund­gebungen seines differenzierten Lebens das größte Werk der Hände Gottes unter der Sonne, wird ein­zig geboren, um zu sterben.

Seine Leibesgestalt ist das Erste, an dem die Macht dieses zwingenden Gesetzes fühlbar wird, obwohl sie das Letzte ist, das ihm zum Opfer fällt. Wir blicken auf die Blüte der Jugend mit Wohlwollen und doch mit Wehmut; und mit umso mehr Weh­mut, je gefälliger und lieblicher sie ist; denn bei all ihrer Würde und Herrlichkeit beginnt sie früh eben durch den Drang des Weiterlebens an Schön­heit und Glanz zu verlieren. Sie wächst der Er­schöpfung und dem Zerfall entgegen, bis sie schließ­lich in den Staub zerfällt, aus dem sie ursprünglich genommen war.

So ist es auch mit unserem sittlichen Sein, dem weit höheren und göttlicheren Teil unseres natürlichen Gefüges; es beginnt mit Leben, es endet mit etwas, das schlimmer ist als der bloße Verlust des Le­bens, mit dem lebendigen Tod. Wie schön ist das menschliche Herz, wenn es seine ersten Blätter treibt, sich öffnet und aufjubelt in seiner Lenzeszeit. So schön die leibliche Gestalt sein mag, weit schöner ist in ihrem grünen Blätterschmuck und leuchtenden Blühen die natürliche Tugend. Sie geht im jugend­lichen Menschen auf wie eine reiche Blüte, so köst­lich, so wohlduftend und so bezaubernd. Edelmut und Sorglosigkeit, Liebenswürdigkeit, Vertrauen, Milde, lebendige Fröhlichkeit, offene Hand, reine Liebe, edles Sehnen, heldenmütiger Entschluß, rit­terliches Streben, Liebe, an der das Ich keinen An­teil hat – sind das nicht lauter schöne Dinge? Und sind sie nicht in Märchen und Gedichten in ihren schönsten Formen besungen und der Bewunderung dargeboten worden? Und welche Verheißung des Guten! Wer möchte glauben, daß sie dahinschwin­den soll! Und doch, so gewiß die Nacht auf den Tag, der Zerfall auf die Gesundheit folgt, so sicher sind Versagen, Niederlage und Untergang das Ende dieser natürlichen Tugend, sofern ihnen nur die Zeit dazu gelassen ist. Es gibt Menschen, die schon beim ersten Aufkeimen ihrer Tugendhaftigkeit hinweg­gerafft werden, und dann haben sie, wenn wir ihren Grabinschriften trauen dürfen, wie Engel gelebt; aber wartet ein Weilchen, laßt sie weiterleben, laßt das Leben seinen Weg weitergehen, laßt die strah­lende Seele durch Feuer und Wasser der Versu­chung, Verführung, Verderbnis und Verbildungskunst der Welt gehen; und ach! – ob des Ungenügens der Natur! Ob ihres Unvermögens durchzuhalten, ob der Unberechenbarkeit, mit der sie ihr eige­nes Versprechen Lügen straft! Wartet, bis die Ju­gend alt geworden ist! Das Miniaturbild, das wir aus der Jugendzeit von einem Menschen haben, da jeder Gesichtszug von Hoffnung sprach, daneben das große Porträt, das ihm zu Ehren im Alter ge­malt worden ist, da die Glieder abgemagert sind, das Auge trüb, seine Stirn gefurcht und sein Haar grau: sie unterscheiden sich nicht stärker vonein­ander als sich die sittliche Anmut jener Jugendzeit unterscheidet von dem häßlichen und abstoßenden Anblick, den seine Seele jetzt bietet, da er bis ins Al­ter gelebt hat. Denn Verdrießlichkeit, Menschen­feindlichkeit und Selbstsucht sind der übliche Winter nach jenem Frühling.

Das ist der Mensch in seiner eigenen Natur und das ist er auch in seinen Werken. Die edelsten Anstren­gungen seines Geistes, die Eroberungen, die er ge­macht, die Lehren, die er aufgestellt, die Völker, die er zivilisiert, die Staaten, die er geschaffen hat: sie überleben ihn selbst, sie überleben ihn um viele Jahrhunderte, aber auch sie streben einem Ende zu, und dieses Ende heißt Auflösung. Mächte dieser Welt, Staatsgewalten, Dynastien, früher oder spä­ter gehen sie unter; sie haben ihre Schicksalsstunde. Der römische Eroberer vergoß Tränen über Kar­thago, denn in der Zerstörung der Nebenbuhlerin sah er nur zu deutlich ein Vorzeichen für den Fall Roms; und schließlich fiel die imperiale Stadt samt der Bürde und Verantwortung, samt den Verbre­chen, samt den Triumphen vieler Jahrhunderte.

So ist der Mensch samt allen seinen Werken sterb­lich; sie sterben und haben nicht die Kraft, sich zu erneuern.

Was aber ist das, meine Väter, meine Brüder, was ist das, was sich eben jetzt in England ereignet hat? Etwas Wundersames zieht hin über dieses Land, wundersam, gerade ob der Überraschung, mit der es kam, ob des Aufruhrs, den es verursacht. Wären wir nicht nahe genug beim Schauplatz der Handlung, um sagen zu können, was vor sich geht, – wären wir die Bewohner irgendeines Schwesterplaneten, der im Besitz eines vollkommeneren Apparates ist, als ihn diese Erde erfunden hat, um die Vor­gänge auf einem anderen Globus zu überprüfen, und würden wir von dort genau zu dieser Stunde unser Auge auf England richten, wir wären gefes­selt durch ein politisches Phänomen, so wunderbar wie irgendeines, das der Astronom von seinem phy­sikalischen Beobachtungsfeld aus aufzeichnet. Es wä­ren die Vorgänge einer nationalen Bewegung, die fast ohne ihresgleichen ist, stärker als alles, was hier in Jahrhunderten sich ereignet hat, – wenig­stens im Urteil und in der Absicht der Menschen, wenn nicht in Tat und Wahrheit. Wir würden nie­derschreiben, daß bald nach dem St. Michaelstag 1850 in der moralischen Welt sich ein Sturm von solcher Gewalt erhob, daß er eine eingehende Er­klärung verlangt und in uns den innigen Wunsch wachruft, sie zu erhalten. Wir würden beobachten, wie er von Tag zu Tag wächst und von Ort zu Ort sich ausbreitet, unaufhaltsam, beinahe pausen­los, bis zu dieser Stunde, da er sich vielleicht noch heftiger zeigt, zumindest aber kein Abflauen er­kennen läßt. Jeder Teil des Staates unterliegt sei­nem Einfluß – von der Königin auf dem Thron bis hinab zu den Kleinen im Kindergarten und in der Schule. Die Zehntausende der Wahlbezirke, die Gesamtzahl der protestantischen Sekten, die Menge der Religionsgesellschaften und Körperschaften, die große Gruppe des staatlichen Klerus in Stadt und Land, die Gerichtshöfe, selbst die Ärzteschaft, selbst die literarischen und wissenschaftlichen Zirkel, jede Klasse, jede Interessengemeinschaft, jedes Haus, sie alle geben Kunde von diesem allgegenwärtigen Sturm. Das wäre unser Bericht über ihn, wie wir ihn aus der Ferne sehen, und wir würden uns über die Sache unsere Gedanken machen. Was ist es damit? Gegen was ist er gerichtet? Welches Wunder ist auf Erden geschehen? Gibt es wohl ein mächtiges, au­ßernatürliches Ereignis, das in einer so umfassen­den Wirkung diesem an Größe gleichkommt? Wir würden in unserer Wißbegierde gegenüber ei­nem Phänomen gleich diesem richtig urteilen, wenn wir sagten: es muß ein wunderbares Ereignis sein, denn so ist es auch. Es ist eine Neuheit, ein Wunder, möchte ich sagen, im Rahmen des menschlichen Geschehens. Die physische Welt geht Jahr für Jahr ihren Gang und beginnt von neuem; die politische Ordnung der Dinge aber erneuert sich nicht, sie kehrt nicht wieder; sie besteht weiter, aber sie drängt vorwärts; und es gibt kein Zurück. Dies verstehen die heutigen Menschen so gut, daß bei ihnen die Vergötterung des Fortschrittes nur ein anderer Na­me ist für das Gute. Das Vergangene kehrt nie wieder, – es ist auch nie gut; sollen wir jetzigen Übeln entfliehen, dann nur durch Fortschritt. Das Vergangene ist veraltet; das Vergangene ist tot. Ebensowenig wie die Toten für uns leben, die Toten uns nützen könnten, könnte das Vergangene wie­derkehren. Darum also diese Verwunderung der Nation, darum dieser Aufschrei der Nation hier und jetzt. Die Vergangenheit ist zurückgekehrt, das Tote lebt. Throne werden gestürzt und werden nie wieder errichtet; Staaten leben und sterben, um dann nur noch Stoff zu sein für die Geschichte. Babylon war groß, so auch Tyrus, Ägypten und Ninive, aber sie werden nie wieder groß sein. Die englische Kirche war einmal, und die englische Kir­che war nicht mehr, und die englische Kirche ist wieder da. Das ist das Ungeheure, eines Aufschreies wert. Es ist der Einzug eines zweiten Frühlings; es ist eine Wiederkehr in der sittlichen Welt, so wie jene, die jährlich in der physischen vor sich geht. Es war drei Jahrhunderte früher – da stand die katholische Kirche, diese große Schöpfung der gött­lichen Macht, in diesem Land auf ihrem Höhe­punkt. Sie erstrahlte im Ruhm von nahezu tausend Jahren; sie erhob sich in etwa zwanzig Bischofs­sitzen landauf landab; sie war verankert in dem Willen eines gläubigen Volkes; sie entfaltete ihre Kraft in unzähligen Werkzeugen der Macht und des Einflusses; und sie war geadelt durch eine Schar von Heiligen und Märtyrern. Die Kirchen, eine neben der anderen, führten in freudigem Stolz die Liste von verherrlichten Fürbittern, zu denen ihre dankbare Verehrung jeweils aufblickte. Canterbury allein zählte vielleicht etwa sechzehn, vom heiligen Augustinus[2] bis zum heiligen Dunstan und zum hei­ligen Elphege, vom heiligen Anselm und heiligen Thomas bis zum heiligen Edmund. York hatte sei­nen heiligen Paulinus, Johannes, Wilfrid und Wil­helm; London seinen heiligen Erconwald; Dur-ham seinen heiligen Cuthbert; Winton seinen hei­ligen Swithun. Dann gab es einen heiligen Aidan von Lindisfarne, einen heiligen Hugo von Lincoln, einen heiligen Chad von Lichfield, einen heiligen Thomas von Hereford, einen heiligen Oswald und einen heiligen Wulstan von Worcester, einen hei­ligen Osmund von Salisbury, einen heiligen Biri-nus von Dorchester und einen heiligen Richard von Chichester. Hinzu kamen ihre religiösen Orden, ihre klösterlichen Institute, ihre Universitäten, ihre aus­gedehnten Beziehungen über ganz Europa hin, ihre hohen Vorrechte im irdischen Staat, ihr Reichtum, ihre von ihr abhängigen Gebiete, ihr Ansehen beim Volk, – wo gab es je im gesamten Christentum eine herrlichere Hierarchie? Verbunden mit den bürger­lichen Einrichtungen, mit Königen und Adeligen, mit dem Volk, anzutreffen in jedem Dorf und je­der Stadt, schien sie dazu bestimmt zu bestehen, so­lange England bestand, und womöglich Englands Größe zu überdauern.

Aber es war der hohe Beschluß des Himmels, daß die Herrlichkeit dieser Gegenwart ausgelöscht wer­den sollte. Es ist eine lange Geschichte, meine Väter und Brüder, – ihr kennt sie gut. Ich brauche sie nicht zu behandeln. Das belebende Prinzip der Wahr­heit, der Schutz des heiligen Petrus, die Gnade des Erlösers zogen aus. An diesem Tage wurde jene alte Kirche zum Leichnam (welch bestürzende, welch schreckliche Wandlung!); dann aber verdarb sie nur die Luft, die sie einst erfrischt, und belastete nur den Boden, den sie einst geziert hatte. So schien alles verloren zu sein; dann gab es eine Zeitlang ei­nen Kampf, und ihre Priester wurden vertrieben oder gemartert. Es gab unzählige Sakrilegien. Ihre Tem­pel wurden entweiht oder zerstört; ihre Einkünfte wurden ein Raub habgieriger Adeliger, oder an die Diener des neuen Glaubens verschleudert. Die Erscheinung des Katholizismus wurde schließlich ein­fach beseitigt, – seine Gnade abgelehnt, – seine Kraft verachtet. Außer als geschichtliche Tatsache war am Ende selbst sein Name fast unbekannt. Es hat lange Zeit gebraucht, um dies vollständig durch­zuführen, viel Zeit, viel Überlegung, viel Mühe, viel Aufwand; aber schließlich war es getan. O die­ser unselige Tag, Jahrhunderte bevor wir auf die Welt kamen! Welch ein Martyrium, ihn erleben zu müssen, und die schöne Gestalt der Wahrheit, die sittliche wie die irdische, in Stücke zerhackt und jedes Glied und Organ fortgeschleppt und im Feuer verbrannt oder in die Tiefe geworfen zu sehen! Aber schließlich war das Werk getan. Die Wahrheit war beseitigt und weggeschaufelt und es traten Ruhe, Schweigen, eine Art Frieden ein; und so ungefähr lagen die Dinge, als wir auf diese mühselige Welt kamen.

Meine Väter und Brüder, ihr habt es gesehen von der einen Seite aus, einige von der anderen; doch wir alle insgesamt können die äußerste Verachtung bezeugen, in die der Katholizismus zu der Zeit ge­sunken war, als wir geboren wurden. Ihr wißt es leider weit besser, als ich es wissen kann; es kann aber nicht unangebracht sein, wenn ich an Hand von einigen äußeren Merkmalen in großen Strichen vor euch von außen her bezeuge, was ihr aus eigener Er­fahrung so viel getreuer bezeugen könnt. Es gab im Land keine katholische Kirche mehr; nein, ich möchte sagen, keine katholische Gemeinde mehr; – höchstens noch ein paar Anhänger der alten Reli­gion, die in Schweigen und Trauer einhergingen, Erinnerung an das, was einst gewesen war. „Die Römischen Katholiken“: keine Sekte, etwas völlig Belangloses, wie man glaubte, keine auch noch so kleine Körperschaft als Vertreterin der großen Ge­meinschaft im Ausland, sondern eine bloße Hand­voll Einzelwesen, zum Zählen klein, zermalmt, wie die Kieselsteine und das Geröll nach der gro­ßen Sintflut, und die fürwahr bloß zufällig an einem Credo festhielten, das freilich zu seiner Zeit einmal das Bekenntnis einer Kirche gewesen war. Hier eine Gruppe armer Irländer, die zur Zeit der Ernte kamen und gingen oder eine Kolonie von ihnen, die in einem Elendsviertel der ungeheuren Metropole hausten. Dort vielleicht eine ältere Per­son, die man auf der Straße gehen sah, ernst, ein­sam und fremd, indes vornehm im Gehaben, von der es hieß, sie sei von guter Familie und „römisch katholisch“. Ein altmodisches Haus von düsterem Aussehen, von hohen Mauern umgeben, mit einem eisernen Tor und Eibenbäumen, und der Ruf, der ihm anhaftete, es lebten dort „Römische Katholi­ken“; wer sie aber waren, was sie taten oder was das hieß, wenn man sie römisch-katholisch nannte, konnte niemand sagen; – obwohl es einen unguten Klang hatte und von Formelkram und Aberglauben sprach. Und wenn wir dann auf und ab spazierten und uns mit knabenhafter Neugier in der großen Stadt umsahen, konnten wir vielleicht heute zu einer herrnhutischen Kapelle oder zum Bethaus der Quäker gehen oder morgen zu einer Kapelle der „Römisch-Katholischen“. Doch nichts konnte dabei herausgebracht werden, als daß dort Lichter brann­ten und einige Knaben in Weiß das Rauchfaß schwangen; aber was dieses alles bedeutete, konnte man nur aus Büchern lernen, aus protestantischen Geschichtsbüchern und Predigten; diese jedoch be­richteten nichts Gutes über „die Römisch-Katholi­schen“, sondern bezeugten im Gegenteil, daß diese einst die Macht innegehabt und sie mißbraucht hät­ten. Dann wiederum konnten wir gelegentlich die genaue Darstellung eines Literaten hören – das Ergebnis seiner sorgfältigen Forschung und dazu eine nur wenigen Menschen bekannte geheime In­formation: zwischen den Römischen Katholiken Englands und den Römischen Katholiken Irlands bestünde der Unterschied, daß die letzteren Bischöfe hätten und die ersteren von vier Beauftragten ge­leitet würden, die man apostolische Vikare nannte. Dieser Art war ungefähr auch die Kenntnis, die die Heiden der alten Zeit vom Christentum hatten, die seine Anhänger vom Antlitz der Erde vertrieben und sie dann eine gens lucifuga, ein lichtscheues Volk, nannten. So stand es um die Katholiken in England; man fand sie in Winkeln, in Gäßchen, in Kellern und Mansarden oder in den Schlupfwin­keln des Landes, abgeschnitten von der großen Welt ringsum und nur undeutlich von den hohen Prote­stanten, den Herren der Erde, wahrgenommen, so­zusagen durch Nebel hindurch oder im Zwielicht – wie umherirrende Geister. Schließlich wurden sie so schwach, so über die Maßen verachtenswert, daß die Verachtung in Mitleid umschlug; und die hoch­herzigeren ihrer Bedrücker begannen tatsächlich den Wunsch zu hegen, ihnen eine Gunst zu gewähren; denn sie dachten, ihre Ansichten seien einfach zu absurd, um sich je wieder auszubreiten, sie selbst aber würden, gewährte man ihnen im bürgerlichen Leben nur größere Chancen, bald umlernen und sich ihrer schämen. Und so begannen sie aus reiner Güte gegen uns unsere Lehren der protestantischen Welt gegenüber herabzusetzen, damit dadurch eben unsere Beschränktheit oder unser geheimer Un­glaube zu unserem Fürsprecher um Erbarmen würde. Welch großer Wandel, welch erschreckender Gegen­satz zwischen der altehrwürdigen Kirche des heili­gen Augustinus und des heiligen Thomas und dem armseligen Rest ihrer Kinder zu Beginn des neun­zehnten Jahrhunderts! Es war ein Wunder, möchte ich sagen, daß jene herrliche Macht vernichtet wurde; aber es stand ein größeres und echteres in Aussicht. Niemand hätte ihren Fall voraussagen können, aber noch weniger hätte es jemand gewagt, ihre Auferstehung zu prophezeien. Der Fall war außerordentlich; doch entsprach er trotz allem der Ordnung der Natur, – werden doch alle Dinge zu­nichte. Ihre Auferstehung sollte ein Wunder ande­rer Art sein, denn es vollzog sich in der Ordnung der Gnade, – und wer kann auf Wunder hoffen, und auf ein Wunder wie dieses? Hat der ganze Lauf der Geschichte etwas Ähnliches aufzuweisen? Ich muß mich – meinem Wissen entsprechend – vorsichtig ausdrücken, aber ich entsinne mich nicht an desgleichen. Augustinus freilich kam auf die­selbe Insel, auf die die früheren Missionare schon gekommen waren, aber sie waren zu Briten gekom­men, er kam zu Sachsen. Auch die arianischen Goten und Lombarden gaben in den Tagen des heiligen Augustinus ihre Häresie auf und kehrten zur Kirche zurück; doch sie waren nie wirklich von ihr abge­fallen. Das inspirierte Wort deutet offenbar an, daß eine solche Gnade fast ausgeschlossen ist, die Gnade der Wiederaufnahme solcher, die den Sohn Gottes abermals gekreuzigt und mit Füßen getreten haben. Wer hätte hoffen dürfen, daß aus einem so sakrilegischen Volk wie diesem wieder ein seinem Heiland ergebenes Volk hätte erwachsen können. Was hatte es an Empfehlungen vorzuweisen, daß es aus den Völkern auserwählt werden sollte? Hätte man dieses vor etwa fünfzig Jahren vorausgesagt, wäre nicht schon der Gedanke daran lächerlich und aben­teuerlich erschienen?

Meine Väter, da lebte ein Mann aus eurem eigenen Stande, der damals auf der Höhe seiner Kraft und seines Ansehens war. Sein Name gehört zu dieser Diözese; aber er ist zu groß, zu verehrungswürdig, zu teuer für alle Katholiken, als daß man ihn auf irgendeinen Teil Englands beschränken dürfte, denn er gehört zum täglichen Wortschatz im Munde von uns allen. Was hätte wohl dieser verehrungs­würdige Mann, dieser Kämpfer für die Bundes­lade Gottes in böser Zeit empfunden, hätte er die­sen Tag erleben können? Fast ist es anmaßend für einen, der ihn nicht gekannt hat, ein Bild von ihm, seinen Gedanken und seinen Freunden zu entwer­fen, deren einige sogar hier anwesend sind; gehe ich jedoch fehl, wenn ich annehme, daß ein Tag wie dieser, den wir erleben, ihm selbst als Traum, sei­nen Hörern aber, hätte er ihn vorausgesagt, nichts als ein Hohn vorgekommen wäre? Angenommen, er hätte eines Tages, im Geiste entrückt, einen Blick in die Zukunft getan und sein sterbliches Auge wäre von dieser niedrigen Kapelle dort im Tal, die Jahr­hunderte im Besitz der Katholiken gewesen war, zu der benachbarten, damals öden und verlassenen Höhe gewandert – und da hätte er zu seiner Um­gebung gesagt: „Ich sehe einen kahlen Berg, der auf ein offenes Land hernieder schaut, gerade gegen­über jener riesigen Stadt, deren Bewohnern der Katholizismus von so geringem Wert ist. Ich sehe das Gelände ausgesteckt und eine weite Umfrie­dungsmauer errichtet; Pflanzungen erheben sich dort, die den Ort einhüllen und umschließen.“

„Und dort auf jener Anhöhe, abseits von den menschlichen Behausungen, jedoch im eigentlichen Mittelpunkt der Insel, ragt ein großes Gebäude auf – oder besser ein Gebäudemassiv mit vielen Fronten und Höfen, langen Kreuzgängen und Kor­ridoren, und Stockwerk auf Stockwerk. Und dort erhebt es sich, und der gleiche liebliche und mäch­tige Name wird dort angerufen, der unsere Stärke und unser Trost im Tal war. Ich betrachte dieses Gebäude genauer und sehe, es ist in jenem alten Stil erbaut, der die Vergangenheit zurückbringt, der, wie es schien, vom Angesicht der Erde ver­schwunden war oder nur als Sehenswürdigkeit er­halten oder als Liebhaberei nachgeahmt wurde. Ich lausche und höre den Klang von Stimmen, ernst und melodisch, die den alten Gesang erneuern, mit dem Augustinus am Strande von Kent Ethelbert unter freiem Himmel begrüßte. Er kommt von einer langen Prozession, und wandert den Kreuzgang entlang. Priester und Ordensleute, Theologen aus den Schulen und Kanoniker aus den Kathedralen schreiten in gebührender Ordnung einher. Und jetzt schaue ich an die zwölf mitra-geschmückte Häup­ter; und zuletzt erblicke ich einen Fürsten der Kirche in der königlichen Farbe des Reiches und des Mar­tyriums, Unterpfand aus Rom für Roms unermüd­liche Liebe,  Zeichen dafür, daß diese stattliche Schar im Glauben und in der Hoffnung der Apostel verankert ist. Und der Geist der Heiligen ist da; da ist der heilige Benedikt, der durch den Mund des Bischofs und Priesters zu uns spricht und die lan­gen Zeiten aufzählt, in denen er gebetet, studiert und gearbeitet hat; da ist auch das weiße Wollge­wand des heiligen Dominikus, das keine Makel be­schmutzen, kein Schmutzfleck trüben kann. Und wenn der heilige Bernhard fehlt, dann nur deshalb, damit seine Abwesenheit ihn noch stärker in Erin­nerung bringe. Auch der fürstliche Patriarch, der heilige Ignatius, der St. Georg der modernen Welt, der mit der ritterlichen Lanze den sich krümmen­den Feind durchbohrt, auch er gießt seinen Segen aus über diesen Zug. Und noch andere, seine Zeit­genossen oder seine Nachfahren, deren Bilder auf unseren Altären sind oder bald sein werden, un­trüglicher Beweis dafür, daß des Herren Arm nicht verkürzt und seine Huld nicht ausgeblieben ist, auch sie schauen von ihren Thronen im Himmel auf die Menge herab. Und so bewegt sich diese erlauchte Schar hin zum heiligen Ort; dort eröffnet sie in feierlichem Zeremoniell mit dem erhabenen Opfer den großen Akt, der sie hier versammelt hat.“ Was ist das für ein Akt? Es ist die erste Synode einer neuen Hierarchie; es ist die Auferstehung der Kirche.

Meine Väter und Brüder, hätte jener verehrte Bi­schof damals so gesprochen, wer von seinen Zuhö­rern hätte nicht gesagt, er rede von Dingen, die nicht sein können? Was! Jene paar zerstreuten Frommen, diese Römischen Katholiken, sollen eine Kirche er­richten! Soll die Vergangenheit wieder aufgerollt werden? Soll das Grab sich öffnen? Sollen die Sachsen wieder für Gott leben? Sollen die Hirten, die bei ihren armen Herden Nachtwache hielten, von einer großen Zahl der himmlischen Heerschar heimgesucht werden und erfahren, daß ihr Herr in ihrer eigenen Stadt neu geboren ist? Ja; denn die Gnade vermag, was die Natur nicht vermag. Die Welt wird alt, aber die Kirche ist immer jung. Sie kann zu jeder Zeit nach dem Willen ihres Herrn „die Heiden beerben und die öden Städte bewoh­nen“. „Mache dich auf, Jerusalem! Denn es kommt dein Licht, und die Herrlichkeit des Herrn geht über dir auf. Denn siehe, Finsternis bedeckt die Erde und Dunkel die Völker; aber über dir geht der Herr auf und Seine Herrlichkeit erscheint in dir. Erhebe ringsum deine Augen und schaue; sie alle versam­meln sich und kommen zu dir; deine Söhne kommen von ferne und deine Töchter erheben sich von allen Seiten“ (Is 60,1.2.4). „Steh auf, eile, meine Freundin, meine Taube, meine Schöne, und komm! Denn der Winter ist schon vorüber, der Regen hat aufgehört und ist vergangen. Die Blumen sind er­schienen in unserem Land… Der Feigenbaum brachte seine ersten Früchte hervor, die blühenden Weinberge geben ihren Duft. Steh auf, meine Freundin, meine Taube, meine Schöne, und komm!“ (Hl 2,10-13). Das ist die Zeit für deine Heim­suchung. Steh auf, Maria, und schreite hin in deiner Kraft in jenes Land im Norden, das einst dein eigen war, und nimm Besitz von einem Land, das dich nicht kennt. Steh auf, Mutter Gottes, und sprich mit deiner ergreifenden Stimme zu jenen, die in Wehen liegen und in Schmerzen sind, bis das Kind der Gnade in ihnen aufhüpft! Laß leuchten über uns, liebe Frau, dein strahlendes Antlitz wie die Sonne in ihrer Kraft, o Morgenstern, o Vorbote des Friedens, bis unser Jahr ein einziger ewiger Mai ist. Von deinen lieblichen Augen, von deinem rei­nen Lächeln, von deiner hehren Stirn laß abertau­send Ströme herabregnen, nicht um deine Feinde zuschanden zu machen oder zu bezwingen, sondern um sie zu überzeugen und für dich zu gewinnen. O Maria, meine Hoffnung, o unbefleckte Mutter, er­fülle an uns die Verheißung dieses Frühlings. Ein zweiter Tempel erhebt sich auf den Ruinen des alten. Canterbury ist dahingegangen, und York ist dahin, und Durham ist dahin, und Winchester ist dahin. Es war bitter, sich von ihnen trennen zu müs­sen. Wir klammerten uns an das Bild vergangener Größe und wollten nicht glauben, daß es zunichte werden konnte; aber die Kirche in England ist ge­storben – und diese Kirche lebt wieder. Westminster und Nottingham, Beverley und Hexham, Northampton und Shrewsbury werden, wenn die Welt fortbesteht, Namen sein, so wohlklingend für das Ohr und so ergreifend für das Herz, wie die Herrlichkeiten, die wir verloren haben; und Heilige werden sich aus ihrer Mitte erheben, wenn Gott will, und Lehrer werden noch einmal Israel das Gesetz geben, und Prediger werden zu Buße und Gerechtigkeit aufrufen – wie am Anfang. Ja, meine Väter und Brüder, nicht nur Lehrer, nicht nur Prediger werden unser sein, sondern auch Mär­tyrer werden Gott den Boden wieder von neuem weihen. Wir wissen nicht, was uns bevorsteht, ehe wir unser Eigentum zurückgewinnen; wir mühen uns um ein großes, freudenvolles Werk, aber dem Maß der Gnade Gottes entspricht die Wut Seiner Feinde. Sie haben uns willkommen geheißen, wie der Löwe seine Beute begrüßt. Mag sein, daß sie sich mit der Zeit an unseren Anblick gewöhnen, mag aber auch sein, daß sie noch mehr gereizt werden. Die Kirche in England wieder errichten, ist ein zu großes Werk, als daß es in einem Winkel getan werden könnte. Wir hatten Grund zu erwarten, daß solch eine Wohltat uns nicht ohne ein Kreuz geschenkt würde. Es ist nicht Gottes Weise, daß große Segnungen ohne das vorhergehende Opfer großer Leiden herabfließen sollen. Soll sich die Wahrheit unter diesem Volk in größerem Umfang ausbreiten, wie können wir es erträumen, wie können wir erhoffen, daß Prüfung und Trübsal nicht ihren Vormarsch begleiten? Und wir haben bereits, wenn man es ohne Anmaßung sagen darf, für den Anfang unseres Werkes einen großen Vorrat an Verdiensten. Wir haben keine geringe Ausrüstung für die Eröffnung unseres Kampfes. Können wir im Ernst annehmen, daß das Blut unserer Märtyrer – vor dreihundert Jahren und seither – nie seine Entlohnung finden soll? Jene Welt- und Ordens­priester, haben sie um keines Zieles willen gelitten? Oder nicht vielmehr für ein Ziel, das sich noch nicht ganz erfüllt hat? Die lange Haft, das stickige Ver­lies, die aufreibende Ungewißheit, die tyrannische Gerichtsverhandlung, das barbarische Urteil, die grausame Vollstreckung, die Folterbank, der Gal­gen, das Messer, der siedende Kessel, die zahllosen Quälereien, die jene heiligen Opfer erduldeten, o mein Gott, sollen sie keinen Lohn finden? Sollen Deine Märtyrer unter dem Altar nicht für sich um liebevolle Rache an diesem sündigen Volk rufen und sollen sie vergeblich rufen? Sollen sie das Leben verloren haben und nicht ein besseres Leben für die Kinder jener erlangen, die sie verfolgten? Ist dies Dein Weg, o mein Gott, Gerechter und Wahrhafti­ger? Ist es gemäß Deiner Verheißung, o König der Heiligen, wenn ich es wagen darf, vor Dir von Ge­rechtigkeit zu  reden?  Hast Du nicht  selbst  am Kreuze für Deine Feinde gebetet und sie bekehrt? Hat nicht Dein erster Märtyrer durch sein liebe­volles Gebet Deinen großen Apostel gewonnen, der damals ein Verfolger war? Und an jenem Tag der Prüfung und Verwüstung Englands, als die Her­zen bei der Kreuzigung Deines mystischen Leibes mit dem Weh Mariens durchbohrt wurden, war da nicht jede Träne, die geflossen ist, und jeder Tropfen Blut, der vergossen wurde, die Saat einer künf­tigen Ernte, da jene, die in Tränen säten, in Freu­den ernten sollten?

Und wie jenes Leiden der Märtyrer noch nicht ver­golten ist, so ist es vielleicht auch noch nicht er­schöpft. Etwas bleibt womöglich noch übrig, das er­tragen werden muß, um das erforderliche Opfer zu vollenden. Möge Gott es verhindern um dieses armen Volkes willen! Dürften wir indes überrascht sein, meine Väter und Brüder, wenn der Winter auch heute noch nicht ganz vorüber wäre? Hätten wir irgendein Recht, es als ungewöhnlich anzusehen, wenn auf diesem englischen Boden die Frühlings­zeit der Kirche sich als ein englischer Frühling er­weisen sollte, als eine ungewisse, sorgenvolle Zeit der Hoffnung und der Furcht, der Freude und des Leidens, – der glänzenden Verheißung und aufblü­henden Hoffnung, jedoch zugleich der scharfen Win­de, der kalten Schauer und der plötzlichen Stürme? Eines nur weiß ich, – dem Ausmaß unserer Not wird auch das Maß unserer Kraft angemessen sein. Des einen bin ich gewiß: je mehr der Feind gegen uns wütet, desto mehr werden die Heiligen im Him­mel für uns flehen; je schrecklicher unsere Prüfun­gen von Seiten der Welt sind, umso näher werden uns unsere Mutter Maria, unsere guten Patrone und Schutzengel sein; je böswilliger die Anschläge der Menschen gegen uns sind, desto lauter wird der Flehruf aus dem Herzen der ganzen Kirche zu Gott für uns emporsteigen. Wir werden nicht als Waisen zurückgelassen werden; wir werden die Kraft des Trösters in uns haben, der der Kirche und jedem ihrer Glieder verheißen ist. Meine Väter, meine Brüder im Priestertum, es kommt mir von Herzen, wenn ich mit voller Überzeugung erkläre, daß keiner unter euch hier anwesend ist, der, wäre es Got­tes Wille, nicht bereit wäre, ein Märtyrer zu werden um Seinetwillen. Ich behaupte nicht, daß es euer Wunsch ist; ich behaupte nicht, daß der Wille nicht von Natur aus darum betet, dieser Kelch möge vor­übergehen; ich spreche nicht von dem, was ihr aus eurer eigenen Kraft zu tun vermögt, aber in der Kraft Gottes, in der Gnade des Geistes, im Panzer der Gerechtigkeit, kraft der Tröstungen und kraft des Friedens der Kirche, vermöge des Segens der Apostel Petrus und Paulus und im Namen Christi könnet ihr vollbringen, was die Natur nicht zu tun vermag. Durch die Fürbitte der Heiligen im Him­mel, durch die Bußübungen, die guten Werke und die Gebete des Volkes Gottes auf Erden würdet ihr sozusagen über die Wogen der gewaltigen Tiefe machtvoll getragen und durch die Fülle der Gnade über euch selbst hinausgehoben werden, ob die Natur es wollte oder nicht. Ich meine nicht gewalt­tätig oder in ungutem Kampfgeist, sondern gelas­sen, beschwingt, sanftmütig und freudig bewegt werdet ihr zu Pferd steigen und in die Schlacht reiten, wie auf sausenden Engelsschwingen, wie eure Väter ehedem taten und den Preis errangen. Ihr, die ihr Tag für Tag das unbefleckte Lamm Gott dar­bringt, ihr, die ihr das fleischgewordene Wort unter den sichtbaren Zeichen, die Er festgesetzt hat, in euren Händen haltet, ihr, die ihr immer wieder den Kelch des großen Opferlammes bis zur Neige leert: wer soll euch Furcht einjagen? Was soll euch ver­wirren? Was euch verführen? Wer soll euch Einhalt gebieten, ob ihr zu leiden oder zu handeln habt, ob es gilt, das Fundament der Kirche in Tränen zu legen oder in Jubel dem Werk die Krone aufzusetzen? Meine Väter, meine Brüder, noch ein Wort. Es mag nämlich den Eindruck erwecken, als sei es verkehrt, wenn ich euch in dieser Weise anspreche; aber ich habe, um diesen Eindruck zu mindern, noch eine Art Entschuldigung vorzubringen. Als das engli­sche Kolleg in Rom zu Beginn der Leiden Englands durch die Obsorge eines großen Papstes gegründet worden war und dort die Missionare für das Bekennertum und das Martyrium hier ausgebildet wurden, wer war es, der die blonde angelsächsische Jugend, die auf den Straßen der großen Stadt an ihm vorbeiging, mit den Worten begrüßte: „Salvete, flores martyrum, seid gegrüßt, ihr Blüten der Mär­tyrer“? Und wenn jeder einzelne von ihnen an der Reihe war, jenes friedliche Heim zu verlassen und zum Kampf auszuziehen, – zu wem begaben sie sich, ehe sie Rom verließen, den Segen zu empfan­gen, der sie für ihr Werk stärken sollte? Sie kamen, um den Segen eines Heiligen zu empfangen; sie kamen zu einem stillen alten Mann, der nie Blut gesehen hatte, außer wenn er seine Bußwerke tat; auch er hatte sich freilich danach gesehnt, für Chri­stus zu sterben, zur Zeit, als der große heilige Fran­ziskus den Weg nach dem fernen Osten eröffnete, er wurde aber gleichsam als Wachposten in der hei­ligen Stadt festgehalten und machte fünfzig Jahre lang die Runde, während seine Brüder im Kampf standen. O das Feuer jenes Herzens, es war zu groß für sein gebrechliches Gehäuse, es quälte ihn, zu Hause bleiben zu müssen, während die ganze Kirche an der Front stand! Und daher kamen diese blond gelockten Fremden zu ihm, ehe sie sich auf den Weg zum Schauplatz ihrer Leiden machten, da­mit der ganze Eifer und die ganze Liebe, die in jener feurigen Brust eingeschlossen waren, ein Ven­til fänden und überfließen möchten von ihm, der zu Hause festgehalten wurde, auf jene, die dem Feind die Stirne bieten sollten. Daher kamen diese jugendlichen Kämpfer, einer nach dem andern, so wie sie an der Reihe waren, zu dem alten Mann; und sie alle, einer nach dem andern, blieben stand­haft und gewannen Krone und Palme, – alle außer einem, der nicht hingegangen war und nicht hatte hingehen wollen, um den heilsamen Segen zu emp­fangen.

Meine Väter, meine Brüder, dieser alte Mann war mein eigener heiliger Philipp. Habt Nachsicht mit mir um seinetwillen. Habe ich zu ernst gesprochen – sein mildes Lächeln wird es mäßigen. Wie er vor dreihundert Jahren in Rom mit euch war, als unser Tempel einfiel, so ist es sicher auch jetzt, da er sich wieder erhebt, ein glückliches Zeichen, wenn er sich sogar auf den Weg zu euch gemacht hat; und wenn er gleichsam zur Erinnerung daran, daß er zu Hause Fürbitte für euch einlegte, und zur Be­stätigung der Beziehungen, die er damals mit euch einging, nun den Wunsch hegt, einen Namen unter euch zu haben, von euch geliebt zu werden und euch womöglich einen Dienst zu erweisen – hier in eurem eigenen Land.

10. Predigt: Predigten zu verschiedenen Anlässen, Schwabenverlag Stuttgart 1961, pp. 193-215.


[1] Widmung in der ersten Ausgabe: Den Vätern der Synode zu Oscott, dem anwesenden Klerus, die in der Kraft des Allerhöchsten ein Werk begonnen haben, das sie überleben wird, ist diese Predigt, gehalten vor ihrer erlauchten Ge­genwart, in Demut und Liebe gewidmet von ihrem erge­benen Diener in Christus, dem Verfasser.

[2] Newman meint hier nicht den Kirchenlehrer Augustinus, sondern den Benediktinermönch Augustinus, den Papst Gregor der Große an der Spitze von vierzig Mönchen zur Missionierung nach England schickte und der der erste Erz­bischof von Canterbury war. – A. d. Ü.