Die geistige Gegenwart Christi in der Kirche

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6. Mai 1838

Noch eine kleine Weile, so werdet ihr Mich nicht mehr sehen; und wieder eine kleine Weile, so wer­det ihr Mich wieder sehen; denn Ich gehe zum Vater“ (Jo 16,16).

An verschiedenen Stellen der Schrift werden ganz entgegengesetzte Folgerungen gezogen aus der Wahrheit, daß Christus die Welt verläßt und zu Seinem Vater zurückkehrt; Folgerungen, die einander so entgegengesetzt sind, daß der Leser aufs erste es schwierig finden könnte, sie mitein­ander in Einklang zu bringen. Zu einem früheren Zeitpunkt Seiner öffentlichen Tätigkeit gibt unser Herr zu verstehen, daß Seine Jünger trauern sollten, wenn Er hinweg genommen sei, – daß dies die be­sondere Zeit für die Bußtrauer sei. „Können denn die Freunde des Bräutigams trauern“, fragt Er, „so­lange der Bräutigam bei ihnen ist? Es werden aber Tage kommen, da ihnen der Bräutigam genommen wird; alsdann werden sie fasten“ (Mt 9,15). Hin­gegen sagt Er in den Worten, die auf unseren Text folgen und die seine Abschiedsworte damals waren:

„Ich werde euch wieder sehen, und euer Herz wird sich freuen; und eure Freude wird niemand von euch nehmen“ (Jo 16, 22). Kurz zuvor sagt Er: „Es ist gut für euch, daß Ich hingehe“ (Jo 16, 7). Und ferner: „Ich will euch nicht als Waisen zurücklassen; Ich werde zu euch kommen. Noch eine kleine Weile, und die Welt sieht Mich nicht mehr. Ihr aber werdet Mich sehen“ (Jo 14,18.19). So ist Christi Heimgang zum Vater zugleich eine Quelle der Trauer, weil er Seine Abwesenheit, und eine Quelle der Freude, weil er Seine Anwesenheit bedeutet. Und aus der Wahrheit von Seiner Auferstehung und Himmel­fahrt kommen jene widersprüchlichen Aussagen im Christentum, die sich oft in der Schrift finden: daß wir trauern und doch immer uns freuen; daß wir nichts haben und doch alles besitzen. Das ist heute wirklich unsere Lage: wir haben Chri­stus verloren und wir haben Ihn gefunden; wir sehen Ihn nicht und doch erkennen wir Ihn. Wir umfassen Seine Füße, Er aber sagt: „Rühre Mich nicht an“ (Jo 20,17). Wie geschieht das? Folgen­dermaßen: Wir haben die sinnenfällige und be­wußte Fühlung mit Ihm verloren; wir können Ihn nicht sehen, nicht hören, nicht mit Ihm verkehren, Ihm nicht folgen von Ort zu Ort; aber wir erfreuen uns Seines geistigen, verklärten, inneren, übersinn­lichen, wirklichen Anblickes und Besitzes; eines Be­sitzes, der wirklicher und gegenwärtiger ist als je­ner, den die Apostel in den Tagen Seines Fleisches hatten, eben weil er geistig, weil er unsichtbar ist. Wir wissen, je mehr sich uns ein irdischer Gegen­stand nähert, um so weniger können wir ihn be­trachten und begreifen. Christus ist uns in der christ­lichen Kirche so nahe gekommen (wenn ich mich so ausdrücken darf), daß wir nicht in der Lage sind, Ihn anzublicken oder zu erkennen. Er tritt zu uns herein, Er beansprucht Sein erkauftes Erbe und er­greift Besitz von ihm; Er bietet Sich uns nicht dar, sondern nimmt uns in Sich auf. Er macht uns zu Seinen Gliedern. Unser Antlitz ist Ihm sozusagen abgewendet; wir sehen Ihn nicht, wissen nur durch den Glauben um Seine Gegenwart, denn Er ist über uns und in uns. Und so können wir zu gleicher Zeit klagen, weil wir uns Seiner Gegenwart nicht so be­wußt sind, wie die Apostel sie vor Seinem Tod gekostet haben; und zugleich dürfen wir uns freuen, weil wir wissen, daß wir sie sogar mehr als jene besitzen, nach der Schriftstelle: „Den ihr, ohne Ihn gesehen zu haben  (nämlich mit den leiblichen Augen), lieb habt; an Den ihr, ohne Ihn jetzt zu sehen, glaubet, über Den ihr euch freut mit unaus­sprechlicher und herrlicher Freude, wenn ihr das Ziel eures Glaubens erlanget, nämlich das Heil eurer Seelen“ (1 Petr 1, 8. 9).

Über diese große und geheimnisvolle Gabe, die Gegenwart Christi, unsichtbar den Sinnen, zugäng­lich im Glauben, möchte ich im folgenden einiges sagen. Scheint doch von ihr in den Worten unseres Textes die Rede zu sein, auf sie wird auch sonst in dieser Osterzeit hingewiesen. Beachtet nun, worin die Verheißung dieses Textes und der folgenden Verse besteht – eine neue Ära werde anheben oder „ein Tag des Herrn“, wie es in der Schrift heißt. Wir wissen, wie oft in der Schrift die Rede ist von der Furchtbarkeit und von der Huld des Tages des Herrn, der eine bestimmte, besondere Zeit der Heimsuchung, der Gnade, des Gerichtes, der Wiederherstellung, Gerechtigkeit und Herrlichkeit zu sein scheint. Vieles wird über den Tag des Herrn im Alten Testament gesagt. Zu Anfang lesen wir von jenen erhabenen Tagen, sieben an der Zahl, vollendet ein jeder, vollendet alle zusammen, an denen alle Dinge vom allmächtigen Gott geschaffen, vollendet, gesegnet, anerkannt und gutgeheißen wurden. Doch alle Dinge werden enden mit einem noch größeren Tag, der anbrechen wird mit der Ankunft Christi vom Himmel her und dem Gericht; dies ist im besonderen der Tag des Herrn, und er wird für alle Gläubigen eine Ewigkeit von Glück in Gottes Gegenwart herbeiführen. Ein anderer besonderer Tag, vorausgesagt und schon erfüllt, ist jene lange Zeit, die dem Tag des Himmels vorausgeht und ihn vorbereitet, nämlich der Tag der christlichen Kirche, der Tag des Evangeliums, der Tag der Gnade. Das ist der von den Propheten viel­genannte Tag, es ist auch der Tag, von dem unser Heiland in der vorliegenden Stelle spricht. Beachtet, welch feierlicher, welch hoher Tag es ist. Seine Beschreibung lautet: „Ich werde euch wiedersehen und euer Herz wird sich freuen; und eure Freude wird niemand von euch nehmen. An jenem Tag werdet ihr Mich um nichts mehr bitten. Wahrlich, wahrlich, Ich sage euch, wenn ihr den Vater in Meinem Namen um etwas bitten werdet, so wird Er es euch geben. Bisher habt ihr um nichts in Meinem Namen gebeten. Bittet, und ihr werdet empfangen, auf daß eure Freude vollkommen werde … An jenem Tag werdet ihr in Meinem Namen bitten; und Ich sage euch nicht, daß Ich den Vater für euch bitten werde; denn der Vater Selbst liebt euch, weil ihr Mich geliebt und geglaubt habt, daß Ich von Gott ausge­gangen bin. Ich bin vom Vater ausgegangen und in; die Welt gekommen; Ich verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater“ (Jo 16, 22-28). Der Tag also, der mit der Auferstehung über der Kirche auf dämmerte und bei der Himmelfahrt in vollem Glanz erstrahlte, jener Tag, der keinen Untergang kennt, der nicht enden, sondern einmünden wird in die herrliche Erscheinung Christi vom Himmel her, da Sünde und Tod vernichtet werden sollen, dieser Tag, in dem wir jetzt leben, wird in jenen Worten Christi beschrieben als ein Zustand besonderer gött­licher Offenbarung, besonderer Einführung in die Gegenwart Gottes. In Christus, sagt der Apostel, „haben wir durch den Glauben Zutritt zu dieser Gnade, in der wir stehen“ (Röm 5,2). „Er hat uns mitauferweckt und mitversetzt in den Himmel in Christus Jesus“ (Eph 2, 6). „Euer Leben ist verbor­gen mit Christus in Gott“ (Kol 3, 3). „Unser Wan­del ist im Himmel, woher wir auch den Heiland erwarten, den Herrn Jesus Christus“ (Phil 3,20). „Gott, der befahl, daß aus Finsternis Licht leuch­tete, hat eure Herzen erleuchtet, das Licht der Er­kenntnis der göttlichen Herrlichkeit strahlen zu lassen auf dem Antlitz Jesu Christi“ (2 Kor 4, 6). „Ihr alle, die ihr in Christus getauft seid, habt Chri­stus angezogen“ (Gal 3, 27). Und unser Herr sagt: „Ich werde ihn lieben und Mich ihm offenbaren … Wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen“ (Jo 14, 21.23). Auf diese Weise stehen wir Christen in den Höfen Gottes, des Allerhöch­sten, und schauen gewissermaßen Sein Angesicht; denn Er, der einst auf Erden war, hat jetzt diesen sichtbaren Schauplatz geheimnisvoll nach zwei Sei­ten hin verlassen, Er ist heimgekehrt zu Seinem Vater und zugleich eingekehrt in unser Herz, und hat so den Schöpfer mit Seinen Geschöpfen vereint; gemäß Seinen eigenen Worten: „Ich will euch nicht als Waisen zurücklassen; Ich will zu euch kommen. Noch ein kleine Weile, und die Welt sieht Mich nicht mehr. Ihr aber werdet Mich sehen, weil Ich lebe, und auch ihr werdet leben. An jenem Tag werdet ihr erkennen, daß Ich in Meinem Vater bin, und ihr in Mir und Ich in euch“ (Jo 14,18-20). Zu diesem Geheimnis möchte ich nun bemerken, einmal: Christus ist jetzt wirklich bei uns, wie immer die Art der Gegenwart auch sein mag. Dies sagt Er Selber ausdrücklich: „Siehe, Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt“ (Mt 28, 20). Er sagt sogar: „Wo zwei oder drei in Meinem Namen ver­sammelt sind, da bin Ich mitten unter ihnen“ (Mt 18, 20). In einem schon öfters angeführten Abschnitt heißt es: „Ich will euch nicht als Waisen zurück­lassen; Ich werde zu euch kommen.“ Christi Gegen­wart wird uns also immer noch verheißen, obwohl Er zur Rechten des Vaters ist. Du wirst sagen: „Ja; Er ist gegenwärtig als Gott.“ Nein, entgegne ich; mehr als das, Er ist der Christus und der Christus ist verheißen, und Christus ist Mensch so gut wie Gott. Das erhellt auch zweifellos aus den Worten unseres Textes. Er sagte, Er gehe hinweg. Ging Er hinweg als Gott oder als Mensch? „Eine kleine Weile, und ihr werdet Mich nicht mehr sehen“; das war bei Seinem Tod. Er ging hinweg als Mensch, Er starb als Mensch; wenn Er also verheißt wiederzukommen, muß Er sicher damit meinen, daß Er als Mensch zurückkehren werde, in dem einzigen Sinn nämlich, in dem Er zurückkehren kann. Als Gott ist Er ja immer gegenwärtig, war Er nie anders als gegen­wärtig, ging Er nie hinweg; als Sein Leib am Kreuze starb und begraben wurde, als Seine Seele an den Ort der Geister ging, war Er immer noch bei Seinen Jüngern in Seiner göttlichen Allgegenwart. Die Trennung von Seele und Leib konnte Seine leidens­unfähige, ewige Gottheit nicht berühren. Wenn Er also sagt, Er werde weggehen und wiederkommen und für immer bleiben, spricht Er nicht nur von Sei­ner allgegenwärtigen göttlichen Natur, sondern auch von Seiner menschlichen Natur. Als der Chri­stus, sagt Er, werde Er, der menschgewordene Mitt­ler, allzeit bei Seiner Kirche bleiben. Aber weiter; ihr mögt euch bewogen fühlen. Seine Worte so zu erklären: „Er ist wiedergekommen, aber in Seinem Geist; d. h. Sein Geist ist statt Seiner gekommen; und wenn es heißt, Er sei bei uns, be­deutet das nur, daß Sein Geist bei uns ist.“ Zweifel­los kann niemand diese überaus huldvolle und tröst­liche Wahrheit leugnen, daß der Heilige Geist gekommen ist; aber warum ist Er gekommen? Die Abwesenheit Christi zu ersetzen oder Seine Gegen­wart zu vollziehen? Sicher, um Ihn gegenwärtig zu machen. Keinen Augenblick dürfen wir annehmen, Gott der Heilige Geist komme in der Weise, daß Gott der Sohn fernbleibe. Nein; Er ist nicht so gekommen, daß Christus nicht kommt, Er kommt vielmehr so, daß in Seiner Ankunft Christus kommt. Durch den Heiligen Geist haben wir Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn. „In Christus sind wir mit erbaut zu einer Wohnung Gottes im Geiste“, sagt der heilige Paulus (Eph 2, 22). „Ihr seid der Tempel Gottes und der Geist Gottes wohnt in euch“ (1 Kor 3,16). „Gestärkt durch Seinen Geist am inne­ren Menschen, daß Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne“ (Eph 3,17). Der Heilige Geist bewirkt die Einwohnung Christi im Herzen, der Glaube heißt sie willkommen. Auf diese Weise nimmt der Geist nicht die Stelle Christi in der Seele ein, sondern Er sichert Christus diesen Platz. Der heilige Paulus betont mit Nachdruck diese Gegen­wart Christi in jenen, die Seinen Geist haben. „Wisset ihr nicht“, sagt er, „daß eure Leiber Glie­der Christi sind?“ (1 Kor 6,15). „Durch einen Geist sind wir alle zu einem Leib getauft … Ihr seid der Leib Christi und, als Teile betrachtet, seine Glieder“ (1 Kor 12,13. 27). „Erkennet ihr nicht, daß Jesus Christus in euch ist, es sei denn, ihr seid verwor­fen?“ (2 Kor 13, 5). „Christus in euch, die Hoffnung zur Herrlichkeit“ (Kol 1, 27). Und Johannes sagt: „Wer den Sohn hat, der hat auch das Leben; wer den Sohn nicht hat, der hat auch das Leben nicht“ (1 Jo 5,12). Und unser Herr Selbst: „Bleibet in Mir, so bleibe Ich in euch. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in Mir bleibt und Ich in ihm, der bringt viele Frucht“ (Jo 15,4. 5). Der Heilige Geist würdigt Sich also, zu uns zu kommen, damit durch Seine Herabkunft Christus zu uns komme, nicht fleischlich oder sichtbar, sondern daß Er in uns eingehe. Und auf diese Weise ist Er beides: gegen­wärtig und abwesend; abwesend, weil Er die Erde verlassen hat, gegenwärtig, weil Er die gläubige Seele nicht verlassen hat; oder wie Er Selbst sagt: „Die Welt sieht Mich nicht mehr, ihr aber werdet Mich sehen“ (Jo 14,19).

Ihr werdet fragen: wie kann Er im Christen und in der Kirche gegenwärtig sein, und doch nicht auf der Erde sein, sondern zur Rechten Gottes? Ich ent­gegne, daß die christliche Kirche aufgebaut ist aus gläubigen Seelen, und wie kann einer von uns sagen, wo die Seele wesentlich und wirklich ist? Die Seele handelt zwar durch den Leib und sie nimmt durch den Leib wahr; aber wo ist sie? Oder was hat sie mit dem Ort zu tun? Oder warum sollte es un­glaublich sein, daß die Kraft des Geistes die Seele so heimsuche, daß sich ihr eine göttliche Offenbarung erschließt, die sie freilich nicht wahrnimmt, weil ihre jetzigen Wahrnehmungen nur durch den Leib gehen? Wer wird der Macht des gütigen Gottes­geistes Grenzen setzen wollen? Wie wissen wir z. B., ob Er nicht Christi Gegenwart dadurch in uns be­wirkt, daß Er unsere Gegenwart in Christus wirkt? Wie die Erde sich um die Sonne dreht und man dennoch sagt, die Sonne bewege sich, so mag in Wirklichkeit unsere Seele zu Christus emporge­hoben werden, wiewohl es heißt, Er komme zu uns. Es hat doch keinen Sinn, darauf zu bestehen, daß das Geheimnis nur auf eine einzige Weise vorstell­bar sei, wo es bei Gott zehntausend Weisen gibt, von denen wir nichts wissen. Die Schrift hat genug Be­richte, die zeigen, daß es Einflüsse auf die Seele gibt, so wunderbar, daß wir nicht in der Lage sind zu entscheiden, ob die Seele, solange sie ihnen unter­worfen ist, im Körper bleibt oder nicht. Der heilige Paulus sagt über sich selbst: „Ob mit dem Leib, ich weiß es nicht, oder ob außerhalb des Leibes, ich weiß es nicht, Gott weiß es …, ward ich in den dritten Himmel entrückt.“ Und er wiederholt seine Aus­sage: „Ich kenne einen Menschen“, damit meint er sich selbst, „ob mit dem Leib, ich weiß es nicht, oder außerhalb des Leibes, ich weiß es nicht, Gott weiß es, der in das Paradies entrückt wurde und geheime Worte hörte, die ein Mensch nicht aussprechen darf“ (2 Kor 12,2. 3. 4). Paulus wurde in das Paradies entrückt, obgleich sein Leib dort blieb, wo er war; ob aber seine Seele von ihm getrennt wurde, war eine Frage, die er nicht entscheiden konnte. Wie können wir uns da herausnehmen zu entscheiden, was der Heilige Geist an gläubigen Seelen jetzt wirken kann oder nicht, und ob Er nicht ihnen und in ihnen Christus dadurch offenbart, daß Er sie zu Christus führt? Denkt ferner an die Macht Satans, da er unserem Herrn alle Königreiche der Welt „in einem Augenblick“ zeigte; kann der allmächtige Geist nicht weit mehr an uns tun, als was der Böse an unserem Herrn tat? Kann Er nicht in weniger als einem Augenblick unsere Seele in Gottes Gegen­wart versetzen, während unser Leib auf Erden bleibt?

Und weiter; wie wir über unsere eigene Seele also wenig wissen, so sind wir anderseits völlig in Unkenntnis über den Zustand, in dem unser ge­benedeiter Herr Sich jetzt befindet, und über die Beziehung dieser sichtbaren Welt zu Ihm; in Un­kenntnis, ob es Ihm nicht möglich ist, auf geheimnis­volle Weise zu uns zu kommen, obwohl Er zur Rechten Gottes sitzt. Trat Er nicht nach Seiner Auf­erstehung in einen Raum, dessen Türen verschlos­sen waren, und ließ Er es nicht geschehen, daß man Ihn berührte, zum Beweis, daß Er kein Geist war? Obwohl Er mit unserer Natur bekleidet und voll­kommener Mensch ist, ist Sein verherrlichter Leib doch nicht durch jene Gesetze begrenzt, denen unser sterblicher Leib unterliegt.

Aber noch weiter; mag es schwer zu begreifen sein oder nicht, die Schrift gibt uns tatsächlich mindestens ein Beispiel Seines Erscheinens nach der Himmel­fahrt, wie um uns zu überzeugen, daß Seine Gegen­wart, auch wenn sie geheimnisvoll ist, dennoch Er­eignis werden kann. Wir alle wissen, daß Er Sich oft gewürdigt hat, Seinen Heiligen in Visionen zu erscheinen. So erschien Er nach dem Bericht der Geheimen Offenbarung dem heiligen Johannes; Er erschien dem heiligen Paulus, als er in Korinth war, mehrere Male in Jerusalem, und auf dem Schiff. Diese Erscheinungen waren nicht die wirk­liche Gegenwart Christi, wie wir annehmen dürfen, sondern von Gott bewirkte Eindrücke und Über­schattungen des Geistes. Auf gleiche Weise können wir die Vision des heiligen Stephanus erklären. Als jener heilige Märtyrer ausrief: „Siehe, ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen“ (Apg 7,55), hatte er vermutlich diesen großen Anblick nicht in Wirklichkeit, son­dern nur eine Erscheinung davon. Diese Erschei­nungen, so wiederhole ich, können Visionen sein; aber was sollen wir über die Erscheinung sagen, die Christus dem heiligen Paulus bei dessen Bekehrung gewährte, als er auf dem Weg nach Damaskus war? Denn da sah und hörte er den Herrn Jesus offenbar ganz nah. „Er fiel auf die Erde und hörte eine Stimme, die zu Ihm sprach: Saulus, Saulus, warum verfolgst du Mich? Und er sprach: Wer bist Du, Herr? Und der Herr antwortete: Ich bin Jesus, den du verfolgst“ (Apg 9, 4. 5). Wie geschah das? Wir wissen es nicht. Kann ein Leib an zwei Orten zu­gleich sein? Ich will dies nicht behaupten; ich sage nur: hier liegt ein Geheimnis vor. Im Gegensatz zu dieser wirklichen Schau des Herrn wird uns an­schließend berichtet, daß der Herr dem Ananias „in einem Gesicht“ erschien. Als dann Ananias zu Saulus kam, sagte dieser, Gott habe ihn erwählt, „den Gerechten zu sehen und die Stimme aus Sei­nem Mund zu hören“ (Apg 22,14). Aus diesem Grund auch sagt er selbst in seinem Brief an die Korinther: „Bin ich nicht ein Apostel? Bin ich nicht frei? Habe ich nicht unseren Herrn Jesus Christus gesehen?“ (1 Kor 9,1). Hätte er das gesagt, wenn er nur eine Vision von Ihm gehabt hätte? Hatte er nicht schon mehrere Visionen von Ihm, nicht nur eine? Und nach dem Bericht, daß unser Herr dem Petrus, den Elfen und fünfhundert Brüdern zugleich und dem heiligen Jakobus erschienen ist, fügt er noch hinzu: „Zuletzt aber von allen ist Er auch mir, einer Fehlgeburt, erschienen“ (1 Kor 15, 8). Das heißt, er spricht davon, daß er mit einer Schau Chri­sti in einem so wirklichen, wahren und buchstäb­lichen Sinn begnadet worden ist, wie es bei den anderen Aposteln der Fall war. Paulus sah damals und hörte damals Den sprechen, der zur Rechten Gottes ist. Und diese wirkliche Schau scheint aus einem bestimmten, uns unbekannten Grund für das Amt eines Apostels notwendig gewesen zu sein; als es sich nämlich um die Wahl eines Apostels an Stelle des Judas handelte, sagt Petrus in Übereinstimmung mit den eben angeführten Worten des heiligen Pau­lus: „Aus den Männern, die uns beigesellt waren… von der Taufe des Johannes an bis zu dem Tage, da Er von uns weg hinaufgenommen wurde, muß einer dazu bestimmt werden, mit uns Zeuge Seiner Auferstehung zu sein“ (Apg 1, 21. 22). Weiter sagt er zu Kornelius: „Diesen hat Gott am dritten Tag erweckt und zeigte Ihn offen nicht dem ganzen Volk, sondern den von Gott vorher auserwählten Zeugen, nämlich uns“ (Apg 10, 40. 41). Wenn Paulus nur eine Vision von Christus, nicht aber Christus „wahr­haft und wirklich sah“, so war er in diesem Fall kein Zeuge Seiner Auferstehung. Sah er Ihn aber tat­sächlich, dann kann Christus auch uns gegenwärtig sein wie ihm.

Wiederum kann man behaupten: „Der heilige Pau­lus war sich bei seiner Bekehrung der Gegenwart Christi bewußt und sah wirklich die Herrlichkeit des Paradieses und hörte seine Laute, wir hingegen sehen und hören nichts. Wir sind also nicht in der Gegenwart Christi, sonst wären wir uns ihrer be­wußt.“ Um nun diesem Einwand zu begegnen, wol len wir uns dem Bericht von den Erscheinungen zuwenden, die Er Seinen Jüngern nach Seiner Auf­erstehung gewährte. Sie sind von hoher Bedeutung, einmal, weil sie zeigen, daß eine solch unbewußte Einigung mit Christus nicht unmöglich ist; sodann, daß es wohl dieselbe Art von Einigung ist, wie sie uns heute gewährt ist; das geht hervor aus dem Umstand, daß Er in jener Zeit der vierzig Tage nach Seiner Auferstehung dieselbe Beziehung zur Kirche einzunehmen begann, wie Er sie auch heute noch hat, und daß Er uns damit wohl die Weise Seiner Gegenwart andeuten wollte, wie sie jetzt ist. Beachtet nun, welche Weise Seiner Gegenwart in der Kirche nach Seiner Auferstehung war. Es war so: Er kam und ging, wie es Ihm gefiel; jene mate­riellen Dinge, wie z.B. die verschlossenen Türen, waren keine Hindernisse für Sein Kommen; Seine Jünger erkannten Ihn von sich aus nicht, wenn Er zugegen war. Markus sagt, Er erschien zwei Jün­gern, die auf das Land nach Emmaus gingen, „in einer anderen Gestalt“ (Mk 16,12). Der heilige Lukas, der einen ausführlichen Bericht darüber hat, sagt zwar, daß ihnen das Herz brannte, während Er mit ihnen redete. Aber es ist bemerkenswert, daß die beiden Jünger sich wohl im Augenblick dessen nicht bewußt waren; erst als sie rückwärts schauten, wurden sie sich dessen, was gewesen war, bewußt, indes es sie nicht berührt hatte, während es vor sich ging. „Brannte nicht“, sagten sie, „brannte nicht unser Herz in uns, als Er mit uns ging und redete und uns die Schrift aufschloß?“ (Lk24,32). Aber zu jener Zeit scheinen ihre Herzen so gut wie ihre Augen gehalten gewesen zu sein (wenn wir den Ausdruck gebrauchen dürfen). Sie nahmen zwar Eindrücke auf, konnten es jedoch nicht innewerden, daß sie diese empfingen; nachher freilich wurden sie sich dessen bewußt, was geschehen war. Achten wir auch darauf, wann es geschah, daß ihre Augen geöffnet wurden; hier stehen wir plötzlich vor dem höchsten und erhabensten Sakrament des Evange­liums, denn daß ihre Augen geöffnet wurden, ge­schah in dem Augenblick, da Er das Brot segnete und brach. Hierauf liegt offensichtlich ein beson­derer Nachdruck, denn anschließend spielt Lukas in seinem Bericht über das gnadenvolle Ereignis in besonderer Weise darauf an; „sie erzählten, was sich auf dem Wege zugetragen und wie sie Ihn am Brotbrechen erkannt hätten“. Denn so war es be­schlossen, daß Christus nicht im gleichen Augen­blick gesehen und erkannt werden sollte; zuerst wurde Er gesehen, dann wurde Er erkannt. Nur im Glauben wird Seine Gegenwart erkannt; im Sehen wird Er nicht erkannt. Als Er die Augen Seiner Jünger öffnete, verschwand Er sofort. Er hob Seine sichtbare Gegenwart auf und hinterließ nur ein Denkmal Seiner Selbst. Er entschwand dem Blick, um uns in einem Sakrament gegenwärtig sein zu können, und um Seine sichtbare Gegenwart mit einer unsichtbaren Gegenwart zu verbinden, offen­barte Er Sich für einen Augenblick ihrem geöffneten Blick; Er offenbarte Sich, wenn ich so sagen darf, indem Er den Ort der Verborgenheit, da Er geschaut wird, aber ohne Erkenntnis, mit dem vertauschte, da Er erkannt wird, aber ohne Schau. Oder weiter; betrachtet den Bericht über Seine Er­scheinung vor der heiligen Maria Magdalena. Wäh­rend sie am Grab stand und weinte, erschien Er, aber sie erkannte Ihn nicht. Als Er Sich zu erkennen gab, entschwand Er zwar nicht sofort, aber Er wollte nicht, daß sie Ihn berührte; um dadurch gleichsam auf andere Weise zu zeigen, daß Seine Gegenwart in Seinem neuen Reich nicht die der Sinne sei. Die beiden Jünger durften Ihn nicht sehen, nachdem sie Ihn erkannt hatten, Maria Magdalena durfte Ihn nicht berühren. Später freilich durfte der heilige Tho­mas Ihn sehen und berühren; er besaß die volle Ge­wißheit der Sinne: doch beachtet, was unser Herr zu Ihm sagt: „Thomas, weil du Mich gesehen hast, hast du geglaubt; selig, die nicht sehen und doch glau­ben“ (Jo 20, 29). Glauben ist besser als Sehen oder Berühren.

Doch dies mag genügen, um daraus Gedanken über diesen hochheiligen und erhebenden Gegenstand abzuleiten. Christus hat uns verheißen, bis zum Ende bei uns zu bleiben, – zu bleiben, nicht nur wie Er in der Einheit des Vaters und des Sohnes ist, nicht nur in der Allgegenwart der göttlichen Natur, sondern persönlich als der Christus, als Gott und Mensch; nicht in einer örtlichen und sinnlich wahr­nehmbaren Gegenwart, und doch wirklich, in unse­rem Herzen und für unseren Glauben. Und es ist der Heilige Geist, der diese gnadenvolle Vereini­gung bewirkt. Wie Er sie wirkt, wissen wir nicht; worin sie genau besteht, wissen wir nicht. Wir sehen Ihn nicht; doch müssen wir glauben, daß wir Ihn besitzen, – daß wir durch Ihn hingeführt wor­den sind zu der Kraft Seiner heilenden Hand, Seines lebenspendenden Atems, des Mannas, das von Sei­nen Lippen fließt, und des Blutes, das aus Seiner Seite strömt. Erst im Jenseits werden wir zurück­schauend uns der erhabenen Weise bewußt sein, wie wir begnadigt worden sind. Das ist der Tag des Herrn, an dem wir zur Erkenntnis kommen, gleich­sam in Erfüllung der Prophetenworte: „Es wird kommen der Herr, mein Gott, und alle Seine Heiligen mit Ihm. Kein Licht wird es mehr geben an jenem Tag, noch Kälte und Frost. Ein einziger Tag wird es sein, nur dem Herrn bekannt, ohne Wechsel von Tag und Nacht; selbst zur Abendzeit wird es licht sein“ (Zach 14, 57). Ja, schon bevor das Ende kommt, werden die Christen bei einem Rückblick auf die vergangenen Jahre wenigstens in etwa empfinden, daß Christus mit ihnen gewesen ist, obwohl sie es im Augenblick nur glaubten, nicht wußten. Sie werden sich dann sogar entsinnen, daß ihnen das Herz brannte. Ja, obwohl sie damals so gut wie nichts zu glauben schienen, werden sie den­noch später, wenn sie es am wenigsten erwarten, nach aufrichtiger Rückkehr zu Ihm, etwas wie himm­lischen Duft und Vorgeschmack der Unsterblichkeit verkosten, die ihren Geist empor tragen, gleichsam zum Zeichen, daß Gott mit ihnen war, und alles, was geschah und ihnen vordem irdisch erschien, mit den Strahlen der Herrlichkeit umkleiden. Und dies gilt in einem gewissen Sinn von allen Riten und Gnadenmitteln der Kirche, ja auch von allen gna­denreichen Fügungen, die über uns kommen. Ob­wohl diese zu jener Zeit bedeutungslos schienen, kein starkes Gefühl wachriefen oder sogar schmerz­lich und bitter waren, später dann, wenn wir zurückschauen, erscheinen sie verklärt, freilich nur wenn wir uns ihnen im Glauben nahen und unter­werfen, und dann empfinden wir, daß es für uns gut war, hier gewesen zu sein. Und wir besitzen in ihnen, gleichsam zur Belohnung unseres Gehorsams, ein Zeugnis, daß Christus Seine Verheißung erfüllt hat und, wie Er gesagt hat, durch Seinen Geist hier zugegen ist, obwohl Er beim Vater ist. Möge Er uns befähigen, Seine Güte in Fülle zu erproben und des Segens volles Maß zu erlangen. „Des Stromes Wogendrang erfreute die Gottesstadt geheiligt hat der Höchste Seine Wohnung. In ihrer Mitte wohnt Gott; darum wankt sie nimmer- Gott schützt sie schon am frühen Morgen .. Seid still und erkennet: Ich bin Gott: Ich will erhöht werden unter den Völkern und will erhöht werden auf Er­den! Der Herr der Heere ist mit uns, und Jakobs Gott ist unser Schirmherr“ (Ps 45, 5.6.11.12).

John Henry Newman, Deutsche Predigten, Band VI, 10; Schwabenverlag 1954, 133-149.