8. Predigt, Ende Januar 1834 (Fest der Erscheinung)
„Auf, werde Licht! Denn dein Licht ist gekommen. Die Herrlichkeit des Hern erstrahlt über dir“ (Is 60, 1).
Unser Heiland sprach zu der Samariterin: „Die Stunde kommt, da ihr weder dort auf dem Berge noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet“ (Joh 4, 21). Anläßlich des heutigen Festtages kann ich euch mit Seinen Worten, die Er bei einer anderen Gelegenheit sprach, sagen: „Heute ist dieses Schriftwort vor euch in Erfüllung gegangen“ (Lk 4, 21). Die Feier dieses Tages erinnert uns daran, daß den Heiden das Tor zum Glauben aufgetan wurde und die Kirche Gottes sich über alle Länder ausbreitete, während sie vor der Ankunft Christi auf ein einziges Volk beschränkt war. Diese Aussaat der Wahrheit auf der ganzen Welt war geweissagt worden: „Weite den Raum deines Zeltes! Man spanne weit auseinander die Decken deiner Wohnung, ohne zu sparen! Verlängere deine Zeltseile! Fest schlage die Pflöcke ein! Denn nach rechts und nach links wirst du dich breiten. Ganze Völker erbt dein Same und besiedelt verödete Städte“ (Is 54, 2.3). In diesen Worten wird die Kirche als katholisch bezeichnet. Dieser Titel unterscheidet die christliche Kirche von der jüdischen. Die christliche Kirche ist auf eine Grundlage gestellt, die sie befähigt, sich in ihren verschiedenen Zweigen über alle Länder der Erde zu erstrecken. Daher kann man in jedem Volk eine Vertretung und einen Schößling der heiligen und begnadeten Gemeinschaft finden, die ein für allemal von unserem Herrn nach Seiner Auferstehung gegründet wurde.
Diese charakteristische Gnadengabe der Kirche Christi, nämlich ihre Katholizität, gibt häufig Anlaß, uns zu freuen mit dem heiligen Paulus, der das Hauptwerkzeug ihrer Ausbreitung war. In einem Brief nennt er die Heiden „Miterben“ mit den Juden und „Glieder des gleichen Leibes und Teilhaber an Seiner Verheißung in Christus durch das Evangelium“ (Eph 3, 6). In einem anderen verbreitet er sich über „das jetzt den Heiligen geoffenbarte Geheimnis“, d. h. „Christus unter den Heiden, die Hoffnung auf die Herrlichkeit“ (Kol 1, 26.27).
Der Tag, an dem wir das Gedächtnis des Gnadenaktes der göttlichen Vorsehung feiern, trägt den Namen Erscheinung oder strahlende Offenbarung Christi an die Heidenvölker. Denn es ist der Tag, an dem die Weisen aus dem Morgenland unter Führung eines Sternes kamen, um Ihn anzubeten. So wurden sie die Erstlingsfrüchte der Heidenwelt. Der Name erklärt sich aus den Worten des Textes, der uns in einer für den Tag ausgewählten Lesung begegnet und in dem die Kirche angeredet wird. „Auf, werde Licht! denn dein Licht ist gekommen. Die Herrlichkeit des Herrn erstrahlt über dir. Denn siehe: Finsternis hält die Erde bedeckt und dichtes Dunkel die Völker. Doch über dir erstrahlt der Herr. Über dir leuchtet auf Seine Herrlichkeit. Völker wallen zu deinem Licht und Könige zum Glanz, der über dir aufstrahlt … Dein Volk wird aus lauter Gerechten bestehen. Sie werden für immer das Land besitzen, Meine sprossende Pflanzung, das Werk Meiner Hände, zu Meiner Verherrlichung“ (Is 60, 1-3. 21).
Wir wissen alle, daß diese und andere ähnlich lautende Weissagungen bis zu einem gewissen Grad bei der Ankunft Christi in Erfüllung gingen. Damals breitete sich Seine auf die Apostel und die Propheten gegründete Kirche in wunderbarer Weise wie die Äste eines Baumes ringsum aus, von Jerusalem als dem Mittelpunkt über die heidnische Welt hin. Sie sammelte Menschen aller Stände und Sprachen und jedweder geistiger Prägung um sich und formte sie nach dem einen Muster, dem Musterbild ihres Heilandes, in Wahrheit und Gerechtigkeit. So wurden in dieser Zeit die Weissagungen über die Kirche in zweifacher Hinsicht erfüllt, nämlich hinsichtlich ihrer Heiligkeit und hinsichtlich ihrer Katholizität.
Man stellt oft die Frage: Hat damals und seither diese Weissagung ihre volle Erfüllung gefunden? Oder haben wir noch auf eine vollkommenere Verchristlichung der Welt zu warten, als sie bisher gewährt worden ist? Gewöhnlich neigt man heutigen Tages zur Annahme des letzteren, in dem Sinne, daß die von Gott eingegebenen Weissagungen sicher mehr bedeuten, als tatsächlich verwirklicht worden ist.
So viel nun, nehme ich an, liegt ganz klar zutage, daß das Evangelium in allen Ländern gepredigt werden muß, bevor das Ende kommt: „Diese frohe Botschaft vom Reiche wird in der ganzen Welt allen Völkern zum Zeugnis gepredigt werden; erst dann wird das Ende kommen“ (Mt 24, 14). Ob sie so gepredigt worden ist, ist eine Tatsachenfrage, die nicht von der Weissagung, sondern von der Geschichte entschieden werden muß. Das können wir auf sich beruhen lassen. Was aber die andere Erwartung angeht, daß eine Zeit größerer Reinheit der Kirche bevorsteht, so darf man das nicht ohne weiteres zugestehen. Gerade die oben angeführten Worte Christi sprechen keineswegs vom Evangelium so, als ob es auf eine Bekehrung der ganzen Welt abziele, sondern sie beschreiben es nur als ein Zeugnis vor allen Völkern, wie wenn die meisten ihm nicht gehorchen würden. Diese Andeutung läuft parallel zu der Beschreibung der jüdischen Kirche bei St. Paulus, daß hier der Glaube und der Gehorsam sich nur in einem Rest aus dem ganzen Volk verwirkliche (cf. Röm 11, 5). Ferner erhält sie eine Beleuchtung durch die Worte des heiligen Johannes in der Geheimen Offenbarung. Er spricht von den „aus den Menschen Erkauften“, die nur einen Rest darstellen, „als Erstlinge für Gott und das Lamm“ (Offb 14, 4).
Ich will offen zugeben, daß wir anfangs einen Widerwillen verspüren, diese Meinung anzunehmen, angesichts jener Stellen, die uns im elften Kapitel beim Propheten Isaias begegnen, in denen die Verheißung gegeben wird, „man wird nichts Böses, kein Unrecht mehr tun auf Meinem ganzen heiligen Berg. Denn das Land ist voll der Erkenntnis des Herrn, wie die Wasser den Meeresgrund bedecken“ (Is 11, 9). Nach meiner Ansicht ist es beim Gedanken an solche Stellen natürlich, nach etwas Ausschau zu halten, was man gewöhnlich das Tausendjährige Reich nennt. Es kann daher lehrreich sein, in dieser Hinsicht zum heutigen Tag einige erläuternde Ausführungen über den Zustand und die Aussichten der christlichen Kirche zu machen.
Die Weltordnung hängt in einer uns unbekannten Weise sowohl von Gottes Vorsehung als auch von menschlicher Tätigkeit ab. Jedes Geschehnis, jede Art von Handlung, hat zwei Gesichter. Das eine ist göttlich und vollkommen, das andere ist menschlich und ist gezeichnet mit seiner Sünde. Sodann muß ich darauf hinweisen, daß die Heilige Schrift mit Vorliebe die Welt von der Vorsehung her darstellt. Sie schreibt alle Geschehnisse in ihr Gottes Lenkung und Leitung zu als der Kraft, die alles in Gang bringt. Sie führt die Ereignisse auf Seine alleinige Tätigkeit zurück oder betrachtet sie nur insoweit, als Er in ihnen wirkt. So heißt es von Ihm, daß Er Pharaos Herz verhärtet und die Juden vom Glauben an Christus abgehalten hat. Damit ist Seine absolute Oberherrschaft über alle menschlichen Angelegenheiten und Wege ausgedrückt. Gewöhnlich betrachtet die Schrift das Heilswerk nicht in seinem tatsächlichen Zustand, sondern so, wie Sein Wirken es gestalten möchte und insoweit als es ihm wirklich gelingt, es zu gestalten. Z. B.: „Gott aber, der an Erbarmen reich ist, hat in Seiner großen Liebe zu uns, obwohl wir durch unsere Vergehen tot waren, uns mit Christus lebendig gemacht“ (Eph 2, 4. 5). Nach diesen Worten wäre in den Herzen der Epheser keine Spur von Adams Sünde und geistigem Tod zurückgeblieben. So heißt es später: „Einst waret ihr Finsternis, jetzt aber seid ihr Licht im Herrn“ (Eph 5, 8).
Mit anderen Worten, die Schrift spricht gewöhnlich mehr vom göttlichen Plan und Wesen des Werkes als von dem Maß der Erfüllung, das in dieser oder jener Zeit erreicht wird. So wurden nach der Ausdrucksweise des heiligen Paulus die Epheser auserwählt, damit sie „heilig und untadelhaft vor Ihm in Liebe seien“ (Eph 1, 4). Oder die Schrift spricht von der christlichen Berufung, wie z. B. in den Worten: „Ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen“ (Gal 3, 27); oder von dem Ziel der göttlichen Gabe während eines großen Zeitraumes und von ihren endgültigen Früchten. So lesen wir die Worte: „Christus liebte die Kirche und gab Sich für sie hin, um sie zu heiligen und zu reinigen im Wasserbad durch das Wort, um Sich die Kirche herrlich zu gestalten, so daß sie nicht Fleck oder Runzel oder etwas dergleichen hat, daß sie vielmehr heilig und makellos sei“ (Eph 5, 25–27). Hier werden die Taufe und das endgültige Heil in einem unlösbaren Zusammenhang gesehen. Diese Methode der Schriftauslegung gestattet eine sehr ausgedehnte Anwendung; ich will es im folgenden beleuchten.
Bei unserer Auseinandersetzung gehen wir von dem Grundsatz aus: Gott ist zwar in sich eins; eins ist Sein Wille, eins Sein Ziel, eins Sein Werk. Sein und Tun sind bei ihm absolut vollendet und vollkommen, unabhängig von Zeit und Raum; Er ist höchster Herr über die leblose und belebte Schöpfung. Anderseits scheint Er in Seinem tatsächlichen Verfahren mit dieser Welt, nämlich in allen den Dingen, in denen wir Seine Vorsehung wahrnehmen, zu wirken durch Fortschritt, durch Mittel und Zweck, von Stufe zu Stufe, durch schwer erkämpfte Siege, durch wiedergutgemachte Fehler und durch den Einsatz von Opfern. (Er hat es ja mit Menschen zu tun, die unvollkommen sind, einen eigenen Willen haben, in der Zeit leben und von äußeren Umständen bestimmt werden). Nur wenn wir wie die Engel Sein Walten von weitem betrachten, sehen wir dessen Harmonie und Einheit. Die Schrift dagegen nimmt das Ende voraus und stellt gerade an die Spitze und den Ausgangspunkt alle die Dinge, die zu ihrer Erfüllung in irgendwelcher Beziehung stehen.
Wir finden eine Veranschaulichung dieses Grundsatzes in der Berufung Abrahams. In jedem Zeitalter galt, daß der Gerechte aus dem Glauben leben muß. Doch es war in Gottes tiefem Rat beschlossen, daß diese Wahrheit, soweit Seine Offenbarungen darüber ergingen, eine Zeitlang teilweise verdunkelt werden würde. Die Menschen sollten durch das Sichtbare geführt werden, indem Wunder und zeitliche Anordnungen den Platz der still wirkenden Vorsehung und des geistigen Dienstes einnahmen. Gegen Ende des jüdischen Gesetzes kam die ursprüngliche Lehre zum Vorschein. Wie dann der göttliche Glaubensinhalt in die Welt hineingeboren wurde, verkündeten die Apostel diese Lehre autoritativ als die Grundlage jeglicher wohlgefälliger Gottesverehrung. Beachtet aber, sie war bereits in der Person Abrahams vorweggenommen. Der Neue Bund, dessen Verkündigung erst nahezu zweitausend Jahre später zu erfolgen hatte, wurde in seiner Person geoffenbart und getätigt. „Abraham glaubte Gott, und dies wurde ihm als Rechtfertigung angerechnet“ (Röm 4, 3). „Abraham jubelte, daß er Meinen Tag sehen würde; er sah ihn und freute sich“ (Joh 8, 56). Ja, in dem geforderten Opfer seines geliebten Sohnes war das wahre Lamm, das Gott zum Brandopfer ausersehen hatte, vorgebildet. So wurden in der Berufung des Patriarchen, in dessen Samen alle Völker der Erde gesegnet werden sollten, die großen Umrisse des Evangeliums vorausbezeichnet. Dies sind seine Berufung in der Unbeschnittenheit, seine Rechtfertigung durch den Glauben, sein Vertrauen auf Gottes Macht, Tote zu erwecken, seine Ausschau nach dem Tag Christi und die ihm gewährte Vision des Sühnopfers auf Kalvaria.
Wir nennen diese Anzeichen, volkstümlich ausgedrückt, Prophezeiung, und ohne Zweifel sind sie das für uns. Wir sollen sie daher dankbar annehmen und gebrauchen. Im eigentlichen Sinn sind sie aber vielleicht nur bloße Beispiele der einheitlichen Entfaltung von Gottes Wort und Tat, der Abschluß der Ereignisse von Anfang an, die Einführung derselben ein für allemal, wenn sie auch entsprechend unseren beschränkten Fähigkeiten auf diesem vergänglichen Schauplatz nur allmählich zur Entfaltung kommen. Danach wäre zur Zeit der Berufung Abrahams die Ordnung der jüdischen Heilsgeschichte wie auch das Kommen Christi (sozusagen) verwirklicht. In einem gewissen Sinn ist sie somit tatsächlich zu Ende. Christus wird daher an einer Stelle „das Lamm, das geschlachtet ist seit Anbeginn der Welt“ genannt (Offb 13, 8), an einer anderen heißt es: „Levi bezahlte den Zehnten“ an Melchisedek „in Abraham“ (Hebr 7, 9).
Ähnliche Ausführungen könnte man über die Berufung und Regierung Davids und den Bau des zweiten Tempels machen.[1]
Gleicherweise besaß die christliche Kirche am Tag ihrer Geburt jene ganze Fülle von Heiligkeit und Frieden, die ihr zugesprochen wird und in ihr versiegelt liegt. Das gebührte ihr, wenn man sie als Plan Gottes betrachtet – betrachtet in ihrem Wesen, wie sie sich zu allen Zeiten und unter jeglichen Umständen verwirklicht, – betrachtet als Gottes Werk ohne jede menschliche Mithilfe -, betrachtet als Gottes Werk in ihrem Zweck und in ihrer glücklichen Vollendung. Auf diese Weise sind die ihr auf Erden beigelegten Titel ein Bild dessen, was sie im Himmel vollständig sein wird. Dasselbe könnte auch am Beispiel der jüdischen Kirche gezeigt werden. So in des Jeremias Beschreibung: „Ich lohnte dir deine junge Liebe, deine bräutliche Minne, da du in der Wüste Mir folgtest, im Lande ohne Aussaat. Israel galt dem Herrn als heiliges Gut, als Erstling Seines Ertrages“ (Jer 2, 2. 3). Was die christliche Kirche angeht, wurde soeben eine Stelle angeführt, die ihre Herrlichkeit von ihrer ersten Gründung an beschreibt. Dazu füge ich beispielshalber die folgende hinzu: „Die Völker werden deine Gerechtigkeit sehen und alle Könige deine Herrlichkeit, und man wird dich nennen mit neuem Namen, den der Mund des Herrn bestimmen wird. Dann wirst du eine prächtige Krone sein in der Hand des Herrn und ein Königsstirnreif in der Hand deines Gottes … Wie der Bräutigam an der Braut sich freut, so freut an dir sich dein Gott“ (Is 62, 2. 3. 5). „Mögen weichen die Berge und wanken die Hügel, so soll doch Meine Liebe nicht weichen von dir, Mein Heilsbund nicht wanken, spricht dein Erbarmer, der Herr. Alle deine Kinder sind Jünger des Herrn, und groß ist deiner Kinder Frieden“ (Is 54, 10.13). „Siehe, in Meinen Händen trag Ich dich gezeichnet. Deine Mauern stehen Mir allzeit vor Augen … Erhebe deine Augen und sieh: Sie sammeln sich alle und kommen zu dir. So wahr Ich lebe – spricht der Herr -: Du wirst sie dir alle antun wie einen Schmuck, dich mit ihnen umgürten wie eine Braut“ (Is 49, 16.18). „Von Gewalt wird man künftig nicht hören in deinem Lande, von Verheerung und Zerstörung in deinen Grenzen. Sieg nennt man deine Mauern, Ruhm deine Tore“ (Is 60, 18). Der Inhalt dieser Stellen, die sich in ihrem Zusammenhang sicher auf die Zeit der Ankunft Christi beziehen, verheißen der Kirche in gedrängter Form und einheitlicher Schau eine Universalität und eine Reinheit, die ihre Erfüllung nur im Lauf der Geschichte vom Ersten bis zum Letzten finden wird.
Erwägt ferner die uns von Christi Königreich gegebenen Schilderungen. Zunächst trägt es, obwohl es auf der Erde ist, den Namen „Himmelreich“. Dann wird es im Engelsgesang gemäß der messianischen Weissagung vom „Friedensfürst“ als Friede auf Erden verkündet, obwohl Er Selbst von der irdischen, nicht von der göttlichen Seite Seiner Sendung erklärt, Er sei gekommen, „nicht den Frieden auf die Erde zu bringen, sondern das Schwert“ (Mt 10, 34). Beachtet weiter, mit welchen Worten Gabriel der Jungfrau ihren Sohn und Herrn verkündet: „Er wird groß sein und der Sohn des Allerhöchsten genannt werden. Gott der Herr wird Ihm den Thron Seines Vaters David geben; und Er wird in Ewigkeit über das Haus Jakob herrschen, und Seines Reiches wird kein Ende sein“ (Lk 1, 32. 33). Ezechiel hat über den gleichen Heiland geweissagt: „Ich werde über sie einen Hirten bestellen, der sie weiden soll … Einen Friedensbund werde Ich mit ihnen schließen und die wilden Tiere aus dem Land verbannen, so daß sie in der Wüste sicher wohnen und in den Wäldern schlafen können. Ich werde ihnen und dem Lande rings um Meinen Berg Segen spenden und Regen senden zur rechten Zeit; segenspendender Regen soll es sein“ (Ez 34, 23.25.26). Man darf nicht übersehen, daß in den beiden eben angeführten Stellen die christliche Kirche einfach als die Fortsetzung der jüdischen betrachtet wird, wie wenn das Evangelium schon unter dem Gesetz keimhaft bestanden hätte.
Beim ersten Auftreten Christi – es ist eine so unleugbare und beglückende Wahrheit, die man überhaupt nicht bezweifeln möchte – besaßen Seine Jünger eine Reinheit der Geisteshaltung, die bei weitem alles überragte, was wir in der heutigen Kirche sehen. Jene Herrlichkeit auf ihrem Antlitz, die gleiche wie einst auf dem Antlitz des Moses, die vom Verkehr mit ihrem Heiland auf dem heiligen Berg herrührte, ist das Unterpfand einer späteren Vollendung. Sie ist ein Wahrzeichen für uns in dunkler Zeit, daß Seine Verheißung feststeht und der Erfüllung fähig ist. „In Freude und Herzenseinfalt priesen sie beharrlich Gott und sie waren beim ganzen Volk beliebt“ (Apg 2, 46.47). Das war ein Pfand der ewigen Glückseligkeit, ähnlich wie die Unschuld des Kindes ein Vorläufer heiliger Unsterblichkeit ist und wie das reine und weiße Taufkleid von feinem Linnen die Gerechtigkeit der Heiligen bedeutet; – ein Pfand wie die an David, Salomon, Cyrus oder Josue, den Hohenpriester, ergangenen vorbildhaften Verheißungen. Doch zeugen zu gleicher Zeit die Verderbnis in der Urkirche, der Unglaube der Galater und die Ausschreitungen der Korinther allzu deutlich davon, daß ihre erste Herrlichkeit nur ein Pfand war, Einzelfälle ausgenommen – ein Pfand für Gottes Absicht und ein Zeugnis für die menschliche Verkommenheit.
Dieselbe Deutung kann man auf die Schrift anwenden hinsichtlich des Auserwählten Volkes Gottes, das die Kirche Christi nur unter einem anderen Namen ist. Auf Grund ihrer Auserwählung wurden ihnen als einer Gemeinschaft die Gaben der Rechtfertigung, der Heiligkeit und des endgültigen Heils verliehen. Christi Vollkommenheit ist über sie ausgegossen. Sie strahlen Sein Bild wider, so daß sie Seinen Namen erhalten, weil sie in Ihm sind und als Geliebte Gottes im Geliebten. So sind in ihrer Erwählung die aufeinander folgenden Vorrechte der Erben des Lichtes versiegelt, damit sie zur rechten Zeit entfaltet und genossen werden. Nach Gottes Absicht – gemäß Seinem Erbarmen – in dem Ziel und in den letzten Auswirkungen Seines Heilswerkes heißt berufen und auserwählt sein soviel wie gerettet sein. „Denn die Er vorhergesehen hat, die hat Er auch vorherbestimmt. Und die Er vorherbestimmt hat, die hat Er auch berufen, die Berufenen rechtfertigt Er und die Gerechtfertigten verherrlicht Er“ (Röm 8, 29.30). Beachtet, daß von dem ganzen Plan wie von etwas Vergangenem die Rede ist. Denn in Seinem tiefen Ratschluß schaute Er von Ewigkeit her das eine gesamte Werk. Nach diesem Beschluß ist seine frühere oder spätere Verwirklichung nur eine Frage der Zeit. Wie das Lamm seit Grundlegung der Welt geschlachtet war, so waren auch Seine Erlösten von Anfang an nach Seinem Vorherwissen in eins versammelt. Die Tatsache, daß manche einstmals Auserwählte abfallen würden (wie wir wissen), widerspricht der feierlichen Ankündigung der eben angeführten Stellen nicht, genau so wenig, wie die Ankündigung eines Ereignisses als eines vergangenen und vollendeten, obgleich es unvollendet und zukünftig ist. Seine Sprache schließt alle Zufälligkeiten aus. Gegenwart und Zukunft, Aufschub und Versagen verschwinden vor dem Gedanken an Sein vollkommenes Werk. Daher kommt die doppelte Bedeutung des Wortes „auserwählt“ in der Schrift. Es bezeichnet die zum Heil Berufenen und anderseits die tatsächlich am Jüngsten Tag dieser Berufung entsprechende Frucht. Denn Gottes Vorsehung entfaltet sich nach großen und umfassenden Gesetzen, und Sein Wort ist der Spiegel Seiner Pläne, nicht menschlichen Teilerfolges, der Seinen gnädigen Willen durchkreuzt.
Die Kirche gewinnt also, als streitbares Heer betrachtet, das vom Ort der Knechtschaft nach Kanaan zieht, den Sieg und erfüllt die über sie gegebene Weissagung, auch wenn viele Soldaten in der Schlacht fallen. Solange letztere in ihren Reihen bleiben, sind sie in ihre Segnungen eingeschlossen, insofern sie Teilnehmer an den der Auserwählung entströmenden Gaben sind. Daher wird so großer Nachdruck auf die Verpflichtung zum gemeinsamen Gottesdienst gelegt. Wenn nämlich die Menge der Gläubigen so zusammenkommt, beanspruchen sie einmütig die Gnade, die über den einen ungeteilten Leib des mystischen Christus ausgegossen wird. „Wo zwei oder drei in Seinem Namen versammelt sind, ist Er mitten unter ihnen“ (Mt 18, 20). Ja, noch mehr – gepriesen sei Sein Name – Er ist so eins mit ihnen, daß sie nicht sich selbst gehören, daß sie die Erdenmakel eine Zeitlang verloren haben, in Seiner unendlichen Heiligkeit erstrahlen und die Verheißung Seiner ewigen Huld besitzen. Die Kirche ist, als Einheit betrachtet, immer noch Sein Bild wie am Anfang, rein und fleckenlos, Seine Braut voll innerer Schönheit, die Mutter der Heiligen. Die Schrift sagt nämlich von ihr: „Aber nur eine ist Meine Taube, ist Meine Reine: Nur sie ist ihrer Mutter Einzige, jener, die sie gebar, am liebsten … Ganz schön bist du, Meine Freundin, kein Fehl ist an dir“ (Hl 6, 8; 4, 7).
Was von der Kirche als Ganzem gilt, gilt in der Sprache der Heiligen Schrift in einem gewissen Sinn auch von jedem einzelnen Glied. Wie der ganze Leib, glaube ich, nach dem Bild Christi, das allmählich und in der festgesetzten Zeit in ihr Gestalt annimmt, geformt wurde, so wurde in ähnlicher Weise jeder von uns, als er Christ wurde, mit Gaben beschenkt, die im ewigen Heil gipfeln. Der heilige Petrus sagt, daß wir durch die Taufe „gerettet“ sind (1 Petr 3, 21). Nach dem heiligen Paulus sind wir gemäß der göttlichen Gnade durch das „Bad der Wiedergeburt“ gerettet (Tit 3,5). Unser Herr verbindet das Wasser mit dem Geist (Cf. Joh 3, 5), der heilige Paulus verknüpft die Taufe und das Anziehen Christi (Anm. 4: Gal 3, 27) und an einer anderen Stelle unsere „Heiligung und Rechtfertigung im Namen des Herrn Jesus und durch den Geist unseres Gottes“ (1 Kor 6, 11). Den gleichen Sinn haben die Worte unseres Herrn: „Wer Mein Wort hört und Dem glaubt, der Mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern ist vom Tod zum Leben übergegangen“ (Joh 5,24).
Diese Ausführungen habe ich gemacht in der Absicht, einerseits die wahre Gesinnung zu zeigen, mit der wir die prophetischen Worte über die christliche Kirche aufnehmen müssen, anderseits die ihr und ihren einzelnen Gliedern gewährten Vorrechte darzutun. Nichts ist dem Geist des Evangeliums mehr zuwider als der Hunger nach Zeichen und Wundern. Die uns gegebene Regel für die Schrifterklärung ist besonders dazu geschaffen, uns von solchen Irrfahrten des Herzens abzubringen. Es ist unsere Aufgabe, ja es ist sogar unser Glück, im Glauben zu wandeln. Daher wollen wir (mit Gottes Hilfe) Seine Verheißungen im Glauben hinnehmen. Wir wollen an ihre Erfüllung glauben und uns ihrer Früchte erfreuen, bevor wir sie sehen. Wir wollen voll und ganz anerkennen und fest davon überzeugt sein, daß Sein Wort nicht leer zu Ihm zurückkehren kann, seine Sendung hat und im Wesentlichen die Erfüllung gelingen muß. Wir wollen den Heiligen Geist anbeten, der kommt und geht, wie Ihm beliebt, und der täglich Wunder wirkt, von denen die Welt nichts weiß. Wir wollen die Taufe und die anderen christlichen Gnadenmittel für wirksame Zeichen der Gnade, nicht für bloße Formen und Schatten halten, obwohl die Menschen sie mißbrauchen und entweihen. Besonders was unsere unmittelbare Frage angeht, wollen wir umdenken und als besonnene und ernste Menschen nicht irgendeine sichtbare Entfaltung der göttlichen Herrlichkeit im Aufbau Seiner Kirche erwarten. Wir sehen ja, daß alle ihre Schönheit im Innern ist, in jenem inneren Heiligtum, das geformt ist aus gläubigen Herzen und bewohnt vom Geist der Gnade. Wir wollen, so Gott will, alle weltlichen und politischen Anschauungen über den Sieg Seines Reiches ausschalten. Während wir uns bemühen, dessen Bruchstücke zu vereinen, die durch satanische Bosheit überallhin zerstreut wurden, das Verschleuderte wieder zu gewinnen, das Befleckte zu reinigen, das Schwache zu stärken, es nach Christi Willen in allen seinen Teilen zu einer streitenden Kirche zu machen, wollen wir trotzdem (mit Gottes Hilfe) auf keinen sichtbaren Lohn unserer Mühen rechnen. Wir wollen uns bescheiden mit dem Glauben an den Triumph unserer Sache, wenn wir auch dem äußeren Schein nach ihre Niederlage sehen. Schweigend wollen wir den Spott der Feinde Christi tragen und uns geduldig der Schande und den Leiden unterwerfen, die der Irrtum Seiner Anhänger über uns bringt. Wir wollen solche Beleidigungen ertragen, über welche die ersten Heiligen gestaunt hätten und für deren Wiedergutmachung die Märtyrer gestorben wären. Voll Eifer laßt uns für den Herrn, nicht aber für Menschen arbeiten. Wir sollten uns dabei bewußt sein, daß auch die Apostel die Sünden in den von ihnen gegründeten Gemeinden sahen. Der heilige Paulus sagte voraus, daß „böse Menschen und Verführer es immer ärger treiben würden“ (2 Tim 3, 13). Der heilige Johannes scheint sogar außerordentlichen Unglauben als das untrügliche Zeichen für die Zeiten des Evangeliums zu betrachten, wie wenn das Licht die Dunkelheit seiner Hasser vertiefte. „Meine Kindlein, es ist die letzte Stunde; und wie ihr gehört habt, wird der Antichrist kommen; ja schon jetzt sind viele Antichristen geworden, woraus wir erkennen, daß die letzte Stunde da ist“ (1 Joh 2, 18).
Wir wollen daher in unserem Innern nach der Erscheinung Christi suchen. Wir wollen uns zu Seinem heiligen Altar wenden und uns Ihm nähern um des Feuers der Liebe und Reinheit willen, das dort brennt. Wir wollen aus der in der Taufe uns geschenkten Erleuchtung Trost schöpfen. Wir wollen ausruhen und unsere Genugtuung finden in Seinen Gnadenmitteln und in Seinem Wort. Wir wollen Seinen Namen loben und preisen, sooft Er uns Seine Herrlichkeit zu zeigen Sich würdigt, wenn wir zufällig einem Seiner Heiligen begegnen. Stets wollen wir Ihn bitten, diese Herrlichkeit an unserer eigenen Seele zu offenbaren.
[1] Bezüglich des ersten Tempels finden wir offensichtlich nicht die gleiche Verbindung des mystischen mit dem zeitlichen Sinn. Die Weissagung über Salomons Tempel ist leicht verständlich. Vielleicht bezieht sie sich einzig und allein auf den eigentlichen Tempel selbst. Der Bau des zweiten Tempels dagegen ist begleitet von einer ganz anderen Art von Weissagung. Aggäus, Zacharias und Malachias haben eine symbolische Weissagung geäußert, die mit ihm oder seinem Priestertum und Gottesdienst in Verbindung steht. Weshalb dieser Unterschied? Ich denke, daß die Antwort klar ist. Es ist ein Unterschied, der offensichtlich seinen Grund in der engeren Verbindung des zweiten Tempels mit dem Evangelium hat. Als Gott ihnen den ersten Tempel gab, war er zum Fall und zur Neuerstehung unter und während der ersten Heilsordnung bestimmt. Die ältere Weissagung galt daher der eigentlichen Geschichte des ersten Tempels. Als Er ihnen aber den zweiten Tempel gab, war die Zeit des Christentums in näherer Sicht. Bei der zweiten Erbauung war das Evangelium schon in Aussicht. Daher ist die Weissagung über seine Wiederherstellung dadurch gekennzeichnet, daß ihr Blick auf das Evangelium ausgerichtet ist.
– Davison on Prophecy, Discourse 6, part IV