Die Macht des Kreuzes

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Kreuz Kloster ThalbachO mein Gott, wem wäre aus natürlicher Einsicht der Ge­danke gekommen, eine deiner Vollkommenheiten bestehe darin, dich selbst zu und deine Absichten durch eigene De­mütigung und eigenes Leiden zur Ausführung zu bringen? Du hattest von Ewigkeit in unaussprechlicher Seligkeit ge­lebt. Mein Gott, so viel hätte ich wohl verstanden: als du eine Welt von Geschöpfen ins Dasein riefst und um dich schartest, wurden Vollkommenheiten, die vorher keine Be­tätigung hatten, in dir offenbar. Du konntest deine Macht nicht zeigen, weil es nichts gab, um sie zu gebrauchen. Auch deine wunderbare, liebevolle Vorsehung, deine Treue und werktätige Fürsorge für jene, die du erschaffen hast, konntest du jetzt erst kundtun. Wer aber wäre auf den Ge­danken gekommen, die Erschaffung des Weltalls schließe zugleich deine Erniedrigung ein? O du großer Gott, du hast dich selbst erniedrigt, hast dich herabgelassen, unser Fleisch und Blut anzunehmen, und bist am Kreuz erhöht worden! Ich preise und verherrliche dich tausendmal mehr, weil du in Schmerzen deine Macht kundgetan hast, als wenn du dein Werk ohne Leiden vollbracht hättest. Es ist deiner Unendlichkeit würdig, so über alle unsere Gedanken hinauszugehen und sie zu übersteigen.

O mein Herr Jesus, ich glaube, daß nichts Großes ge­schieht ohne Leiden und Demütigung und daß durch Demü­tigung und Leiden alles möglich ist; das will ich mit deiner Gnade immer glauben und festhalten; ich weiß, daß es wahr ist und wahr sein wird bis zum Ende der Welt. Ich glaube, o mein Gott, daß Armut besser ist als Reichtum, Not besser als Vergnügen, Verborgenheit und Verachtung besser als Ansehen, Schimpf und Tadel besser als Lob und Ehre. Mein Herr, ich bitte dich nicht, diese Prüfungen über mich kommen zu lassen, weil ich nicht weiß, ob ich sie zu ertra­gen vermag; aber ich will wenigstens Wohlergehen und Mißgeschick in diesem Sinne hinnehmen. Ich will nie auf Reichtum, hohe Stellung, Macht und Ehre vertrauen. Ich will mein Herz nicht an weltliche Erfolge und Vorteile hän­gen. Ich will nie danach verlangen, was die Menschen Ge­winne des Lebens nennen. Mit deiner Gnade will ich jene hochhalten, die verachtet und vernachlässigt werden, will die Armen schätzen, die Leidenden ehren und deine Heili­gen und Bekenner bewundern und hochachten und meinen Anteil trotz der Welt unter ihnen suchen.

Endlich, o mein Herr und Heiland, bin ich wohl zu schwach, dich um Leiden als Gnade zu bitten; dazu fehlt mir die Kraft; aber ich will wenigstens um deine Gnade beten, die Leiden, die du in deiner Liebe und Weisheit mir schickst, geduldig anzunehmen. Gib, daß ich Not und Ta­del, Enttäuschung, Verleumdung, Angst und Sorge so er­trage, wie du es willst, o mein Jesus, und wie du es durch dein eigenes Leiden mich gelehrt hast. Ich verspreche auch, daß ich mit deiner Gnade nie mich rühmen, nie irgendwel­che Auszeichnung suchen oder den Großen der Welt schmeicheln, nie mich selbst über andere erheben will. Ich will mich bemühen, Beleidigungen gelassen zu ertragen und Böses mit Gutem zu vergelten. Ich will mich selbst in allem demütigen, schweigen, wenn ich mißhandelt werde, geduldig sein, wenn Not und Sorge kein Ende nehmen, und alles ertragen aus Liebe zu dir und zu deinem Kreuze, weil ich weiß, daß ich auf diesem Wege die Verheißungen die­ses und des zukünftigen Lebens erlangen werde.

Aus: John Henry Newman,  Betrachtungen und Gebete, pp. 133-135.