Artikel von Paul Shrimpton aus dem Englischen (➞ link) übersetzt.
Vor achtzig Jahren, am 18. Februar 1943, wurden Hans Scholl und seine Schwester Sophie beim Verteilen von Anti-Nazi-Flugblättern in der Münchner Universität erwischt. Sie wurden vor den Volksgerichtshof, das formal höchste Gericht des NS-Staates gestellt, das 1934 auf Befehl Hitlers zur Aburteilung von Landes- und Hochverrat errichtet wurde, weil sich der Diktator über seiner Ansicht nach „zu milde Urteile“ gegen NS-Gegner der freien Justiz geärgert hatte. In einem Schauprozess am 22. Februar 1943 wurden die beiden zusammen mit Christoph Probst vom „Blutrichter“ Roland Freisler wegen Hochverrats zum Tode verurteilt und noch am selben Tag hingerichtet.
Die Weiße Rose und ihr bleibendes Zeugnis
Die Scholls gehörten zu einer Gruppe von Studenten, die sich unter dem Pseudonym „Weiße Rose“ gegen den Nationalsozialismus aussprachen und Tausende von Flugblättern verteilten, in denen sie die Deutschen auf ihre moralische Pflicht hinwiesen, sich Hitler und seiner „atheistischen Kriegsmaschine“ zu widersetzen. Sie verurteilten auch die Verfolgung der Juden in dem Jahr, als Hitler mit der Umsetzung der „Endlösung“ begann – und gehörten zu den wenigen, die schon damals öffentlich über den Holocaust sprachen.
Die Geschwister Scholl und die Weiße Rose sind in Deutschland feste Begriffe. Fast 200 Schulen sind nach Sophie Scholl benannt, die Fernsehserie „Die größten Deutschen“ kürte sie zur größten deutschen Frau aller Zeiten, und der Film Sophie Scholl: Die letzten Tage (2005) wurde für einen Oscar in der Kategorie „Bester fremdsprachiger Film“ nominiert.
Nach den Verschwörern des gescheiterten Attentats vom 20. Juli 1944 auf Hitler sind die Studenten der Weißen Rose das bekannteste Beispiel für den deutschen Widerstand gegen die Nazis. Die Tatsache, dass es so wenige ähnliche Taten gab, zeigt, wie schwierig und gefährlich der Widerstand und wie erfolgreich die Taktik der Nazis war, das Gewissen zu betäuben und alles auszuschalten, was ihnen im Weg stand. Es erforderte große Entschlossenheit, eine Form des inneren oder passiven Widerstands aufrechtzuerhalten.
Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens
Es mag überraschen, dass sowohl Hans als auch Sophie anfangs begeisterte Mitglieder der Hitlerjugend waren; sie traten ihr entgegen dem Wunsch ihres Vaters bei, als die Mitgliedschaft noch freiwillig war und wurden sogar Gruppenleiter. Doch ihre Erfahrungen desillusionierten sie und sie begannen, sich vehement gegen jede Erscheinungsform des Nationalsozialismus zu wenden.
Auf der Suche nach einem Sinn für ihr Leben entdeckten sie in christlichen Schriftstellern, sowohl in frühen als auch in zeitgenössischen, Antworten auf ihre tiefsten Sehnsüchte. Aus ihren Briefen und Tagebüchern wissen wir, dass sie stark von den Bekenntnissen des heiligen Augustinus, den Pensées von Pascal und dem Tagebuch eines Landpfarrers von George Bernanos beeinflusst waren. Darüber hinaus hat sich herausgestellt, dass ihr Leben auch von den Schriften des heiligen John Henry Newman geprägt wurde.
Inspiration durch Newmans Schriften
Der Mann, der die Münchner Studenten auf die Schriften Newmans aufmerksam machte, war der Philosoph und Kulturhistoriker Theodor Haecker. Haecker war nach der Übersetzung von Newmans „Grammar of Assent“ im Jahr 1921 zum Katholizismus übergetreten, und Newman war für den Rest seines Lebens sein Leitstern. Er übersetzte sieben Werke Newmans und las bei den illegalen Geheimtreffen, die Hans Scholl für seine Freunde einberief, mehrmals Auszüge daraus vor. So seltsam es klingen mag, aber die Einsichten des Oxforder Akademikers waren ideal geeignet, um diesen Studenten zu helfen, die Katastrophe, die sie erlebten, zu verstehen.
Haeckers Einfluss zeigt sich bereits in den ersten drei Flugblättern der Weißen Rose, doch im vierten wird er zur dominierenden Stimme: Dieses Flugblatt, das am Tag nach der Verlesung einiger eindringlicher Newman-Predigten durch Haecker geschrieben wurde, endet mit den Worten: „Wir schweigen nicht, wir sind Euer böses Gewissen, die Weiße Rose läßt Euch keine Ruhe! Bitte vervielfältigen und weitersenden!“ (➞ ganzes Flugblatt)
Briefe von Verliebten – Herz spricht zu Herz
Als Sophies Verlobter, ein Luftwaffenoffizier namens Fritz Hartnagel, im Mai 1942 an der Ostfront eingesetzt wird, schenkt Sophie ihm zum Abschied zwei Bände von Newmans Predigten. Nachdem er das Gemetzel in Russland miterlebt hatte, schrieb Fritz an Sophie, dass die Lektüre von Newmans Worten an einem so schrecklichen Ort wie die Verkostung von Tropfen kostbaren Weins war. In einem anderen Brief schrieb Fritz: „Doch wir wissen, von wem wir erschaffen sind und dass wir in einem Verhältnis von moralischer Verpflichtung zu unserem Schöpfer stehen. Das Gewissen gibt uns die Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.“
Diese Worte wurden dem Inhalt nach aus einer Predigt Newmans in Oxford mit dem Titel „Das Zeugnis des Gewissens“ übernommen. Newman erklärt, dass das Gewissen ein Echo der Stimme Gottes ist, das jeden Menschen in konkreten Situationen erleuchtet und zum Tun der Wahrheit anspornt. Wir alle, so argumentiert er, haben die Pflicht, vor allen anderen Erwägungen einem guten Gewissen zu gehorchen.
Während des Verhörs bei ihrem Prozess sagte Sophie, dass es ihr christliches Gewissen gewesen sei, das sie gezwungen habe, sich dem Naziregime gewaltlos zu widersetzen. Dasselbe galt für Hans: Wie seine Schwester hatte auch er in Newman und anderen christlichen Schriftstellern die Mittel und die Inspiration gefunden, um der brutalen und dämonischen Welt um ihn herum einen Sinn zu geben.
Fritz Hartnagel wurde aus Stalingrad evakuiert, kurz bevor die deutsche Armee kapitulierte. In seinem letzten Brief an Sophie beklagt er den Verlust der beiden Bände der Newman-Predigten, die sie ihm geschenkt hatte – nicht wissend, dass Sophie bereits tot war, als er schrieb. Als Fritz Sophies Eltern besuchte, schenkte er ihnen eine von Theodor Haecker übersetzte Sammlung von Newman-Predigten. Haecker selbst besuchte auch die Scholls und signierte das Besucherbuch mit Newmans eigenem Motto Cor ad Cor Loquitur („Herz spricht zu Herz“)
Ergänzung 10.03.2023:
Am 6. März 2023 ist Traute Lafrenz-Page gestorben, die letzte Überlebende der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“. Sie lebte im US-Bundesstaat South Carolina und wurde 103 Jahre alt. 2019 wurde sie mit dem Verdienstkreuz 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Gerne schließen wir uns dem Nachruf der Weiße Rose Stiftung an:
„Mit Trauer und großer Anerkennung würdigt die Weiße Rose Stiftung ihren mutigen Widerstand und ihr bleibendes Zeugnis. Über Jahrzehnte war Traute Lafrenz eine diskrete und eindrucksvolle Zeugin der Weißen Rose.“
Weiße Rose Stiftung
Über den Autor
Paul Shrimpton
Paul Shrimpton lebt seit 1977 in Oxford, wo er am Balliol College studierte und anschließend an der Magdalen College School zu unterrichten begann. Als Bildungshistoriker erforscht er seit drei Jahrzehnten die Bildungsidee und -praxis von John Henry Newman. Neben verschiedenen Studien und Fachartikeln hat er drei Bücher veröffentlicht: A Catholic Eton? Newman’s Oratory School (2005), eine Studie über die Gründung und das frühe Entwicklung der ersten katholischen öffentlichen Schule in England; The ‚Making of men‘: the Idea and reality of Newman’s university in Oxford and Dublin (2014); und Conscience before conformity: Hans and Sophie Scholl and the White Rose resistance in Nazi Germany (2018). Letzteres ist eine Studie über den kulturellen und religiösen Hintergrund der Studenten der Weißen Rose, die den Einfluss von Newman und anderen christlichen Denkern herausstellt. Er hat auch eine kritische Ausgabe von Newmans Dubliner Universitätsunterlagen fertiggestellt, My Campaign in Ireland, Part I (2021). Seine kritische Ausgabe von My Campaign in Ireland, Part II erschien 2022, zusammen mit einer Festschrift für den großen Newman-Forscher Ian Ker mit dem Titel Lead Kindly Light. Essays for Ian Ker.
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Conscience Before Conformity
Dieses Buch erzählt die Geschichte einiger deutscher Studenten, die es wagten, sich gegen Hitler und das Dritte Reich auszusprechen, und schließlich für ihre Überzeugungen starben. Unter dem Namen „Weiße Rose“ druckten und verteilten sie Flugblätter, in denen sie den Nationalsozialismus verurteilten und die Deutschen zum gewaltlosen Widerstand gegen die „atheistische Kriegsmaschine“ aufforderten. Diese modernen Helden wurden von Intellektuellen, die sie im Geheimen trafen, und von den Schriften großer christlicher Denker tief beeinflusst.