Man sagt gewöhnlich, daß das Fasten uns zu besseren Christen machen, uns ernüchtern und uns in Glauben und Demut vorbehaltlos vor Christus entäußern solle. Das ist wahr, wenn man das große Ganze im Auge hat. In der Regel und zu guter Letzt wird diese Wirkung eintreten, aber es ist keineswegs gewiß, daß sie ohne weiteres folgen wird. Im Gegenteil, solche Abtötungen haben heutzutage bei verschiedenen Leuten sehr verschiedene Wirkungen; auch sollten sie nicht von ihren sichtbaren Segnungen her beurteilt werden, sondern vom Glauben an das Wort Gottes her. Wohl werden manche durch das Fasten gezähmt und kommen Gott augenblicklich näher; andere jedoch sehen darin kaum mehr als eine, wenn auch flüchtige Gelegenheit zur Versuchung. Manchmal erhebt man zum Beispiel gegen das Fasten den Einwand – gewissermaßen als Grund, es zu unterlassen -, es mache den Menschen reizbar und verdrießlich. Ich gebe zu, das mag oft der Fall sein. Auch ergibt sich sehr oft daraus eine Schwäche, die ihn seiner Herrschaft über die körperlichen Handlungen und Gefühle wie über seine Ausdrücke beraubt. So läßt sie ihn zum Beispiel zornig erscheinen, wenn er es gar nicht ist; weil er nämlich seine Zunge, seine Lippen, ja sein Gehirn nicht in der Gewalt hat. Er gebraucht weder die Worte, die er gern gebrauchen möchte, noch den Akzent und Ton. Er erscheint noch den Akzent und Ton. Er erscheint heftig, auch wenn er es nicht ist: und das Bewußtsein davon und die Reaktion dieses Bewußtseins auf seinen Geist ist eine Versuchung und macht ihn auch wirklich reizbar, besonders dann, wenn man ihn mißversteht und ihn für das hält, was er nicht ist. Körperliche Schwachheit kann ihn auch in anderer Art der Selbstbeherrschung berauben; er muß vielleicht lächeln oder lachen, wenn er Ernst bewahren sollte – offensichtlich eine sehr peinliche und verdemütigende Prüfung. Oder wenn schlechte Gedanken sich einstellen, kann seine Seele sie nicht abschütteln, gleich als wäre sie tot und nicht ein Geist; aber sie hinterlassen dann in ihm einen Eindruck, dem er nicht widerstehen kann. Ebenso hindert ihn oft körperliche Schwäche, seinen Geist auf seine Gebete zu heften und ihm zu einem innigeren Gebet zu verhelfen; oder die körperliche Schwäche ist oft von Widerwillen und Teilnahmslosigkeit begleitet und ist für den Menschen ein starker Anreiz zur Trägheit. Doch die schmerzlichste Wirkung, die aus einer noch so bescheidenen Erfüllung dieser großen christlichen Pflicht entstehen kann, habe ich noch nicht erwähnt. Sie steht unleugbar im Dienst der Versuchung, und ich sage dies, damit niemand überrascht und verzagt sei, wenn er es erkennt. Auch der barmherzige Herr weiß aus Erfahrung, daß es so ist; und daß er es aus Erfahrung kennt und weiß, wie die Schrift berichtet, ist für uns ein trostvoller Gedanke…
Einer ist uns vorangegangen, erschütternder in seiner Versuchung, herrlicher in seinem Sieg. Er wurde in allen Stücken versucht, „ähnlich wie wir, war jedoch ohne Sünde“ (Hebr 4, 15). Sicher spricht die Versuchung Christi uns auch hier Trost und Ermutigung zu.
Aus der Predigt: Fasten, eine Quelle der Versuchungen, Deutsche Predigten vol VI, pp. 12-15.