6. Predigt (Fest der Unschuldigen Kinder)
„Wenn ihr euch nicht bekehret und nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen“ (Mt 18, 3).
Je länger wir auf der Welt leben und je weiter die Gefühle und Erinnerungen unserer Kindheit zurückliegen (und besonders, wenn wir des Anblicks der Kinder entbehren), um so mehr haben wir Grund, über das eindrucksvolle Tun unseres Herrn und über Seine Worte nachzudenken, als Er ein kleines Kind zu Sich rief, es mitten unter Seine Jünger stellte und sagte: „Wahrlich, Ich sage euch, wenn ihr euch nicht bekehret und nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen. Wer also sich verdemütigt wie dieses Kind, der ist der Größte im Himmelreich.“ Um uns an diesen Ausspruch unseres Herrn zu erinnern, ruft uns die Kirche wie eine liebevolle Lehrmeisterin Jahr um Jahr an diesem Tag aus dem fieberhaften Getriebe der Welt zurück. Sie nimmt den Kindermord, wie er uns im Matthäusevangelium berichtet wird, zum Anlaß, uns eine Wahrheit vor Augen zu führen, an die wir sonst wenig denken würden: nämlich unsere Wünsche und Hoffnungen auf diese Welt, unsere hochfahrenden, ehrgeizigen Pläne, unsere beunruhigende Furchtsamkeit, unsere Eifersucht und Besorgnis zu mäßigen; und als Gegenstück hält sie uns das Bild der Reinheit, der Friedfertigkeit und der Genügsamkeit, die die Kennzeichen der Kleinen sind, vor Augen.
Unabhängig von dem Segen, der uns daraus erwächst, ist es ohne Zweifel recht und billig, auf diese Weise den Tod der Unschuldigen Kinder zu feiern; denn es war ein glückseliger Tod. Christus sich nähern zu dürfen und für Ihn zu leiden, ist sicher ein unsagbares Gnadengeschenk; zu leiden auf irgendeine Weise, selbst unbewußt. Die kleinen Kinder, die Er in Seine Arme nahm, waren sich Seiner liebevollen Herablassung nicht bewußt. War es aber kein Gnadenerweis, als Er sie segnete? Gewiß schloß diese Ermordung das Wesen eines Sakramentes in sich. Sie war ein Unterpfand der Liebe des Gottessohnes gegen jene, die ihr zum Opfer fielen. Alle, die Ihm nahe kamen, hatten mehr oder weniger infolge dieser Annäherung zu leiden, gerade als ob irdische Pein und Mühsal von Ihm wie eine kostbare Kraft zum Heil ihrer Seele ausgingen; – diese Kinder sind unter ihrer Zahl. Gewiß war schon Seine Gegenwart etwas Heiligendes. Sicher vermittelte jede Seiner Bewegungen, jeder Seiner Blicke und jedes Seiner Worte denen Gnade, die sie annehmen wollten; aber die Gemeinschaft mit Ihm bedeutete noch weit mehr. Daher wurde in alten Zeiten eine solche barbarische Hinmordung oder das Martyrium als eine Art Taufe angesehen, eine Bluttaufe, verbunden mit einer sakramentalen Wirkung, die das geforderte Bad der Wiedergeburt ersetzte. Wir wollen also diese Kleinen in einem gewissen Sinn als Märtyrer betrachten und sehen, welche Lehre wir aus dem Beispiel ihrer Unschuld ziehen können.
Wir sind in der sehr großen Gefahr, daß wir mit zunehmenden Jahren kaltherzig werden. Betrübnisse, die uns zustoßen, Sorgen, Enttäuschungen, alles das trägt dazu bei, unsere Empfindungen abzustumpfen und uns gefühllos zu machen. Auch jene notwendige Selbstzucht, deren Übung der heilige Paulus dem Timotheus einschärft, führt zum gleichen Ziel. Ferner bildet das Streben nach Wohlstand eine besondere Gefahr und mehr noch besteht sie, wenn Menschen so offen das Wort Gottes übertreten, daß sie den Versuchungen der Sinnlichkeit nachgeben. Der Schlemmer und der Trunkenbold erniedrigen offensichtlich ihre Seele zum Tier. Ferner lassen wir uns oft von der Vorstellung anstecken, bedeutendere und achtbarere Menschen geworden zu sein, als wir es ehedem waren. Wenn wir z. B. in unseren weltlichen Geschäften eine glückliche Hand haben, wenn wir uns in eine (sogenannte) höhere Gesellschaftsschicht emporarbeiten, wenn wir uns einen Namen erwerben, wenn wir durch Heirat oder auf irgendeine andere Weise unsere Stellung verbessern, wodurch wir einen stillen Neid in den Herzen unserer Mitmenschen hervorrufen, so sind wir in allen diesen Fällen der Versuchung des Stolzes ausgesetzt. Die dem Reichtum und der Begabung entgegengebrachte Achtung macht gewöhnlich den Besitzer affektiert und unnahbar. Er glasiert sein Herz mit einer unechten Geziertheit, die Gefühl und Herzlichkeit ertötet. Trotz allem bewahren sich sehr viele Menschen in ihrem Innersten eine geheime naturgegebene Ehrfurcht und Hinneigung zu den Tagen ihrer Kindheit. Sie können bei dem Gedanken an sie nur mit schmerzlichem Bedauern und mit Wehmut seufzen. Es ist ein gnädiges Geschenk unseres Herrn und Heilandes, daß Er Sich (sozusagen) dieser in unserer Natur gelegenen Grundanlage bedient und, da Er Sich ihrer in ihrem ganzen Umfang bedient, auch sie dem wirklichen Heil der Seele zuordnet. Pflichtgetreu folgt die Kirche ihrerseits dem ihr von ihrem Erlöser gegebenen Wink und heiligt alljährlich einen Tag, gleichsam zur Betrachtung Seines Wortes und Werkes.
Wenn wir auf jemand einwirken und ihn (wenn es möglich ist) demütigen wollen, was können wir Besseres tun als die Erinnerung an seine Vergangenheit und vor allem an seine Kindheit wachrufen! Damals war es, daß er mit allen Lehren und Gedanken des Himmels frisch gezeichnet aus der Hand Gottes hervorging. Wer kann sagen, wie Gott die Seele erschafft oder wie Er sie erneuert? Wir wissen es nicht. Wir wissen, daß sie, abgesehen von Gottes Anteil an dem Werk, mit dem Makel der Sünde in die Welt eintritt und sogar die Wiedergeburt, die den Fluch beseitigt, die Wurzel des Bösen nicht ausrottet. Wer wird uns sagen, ob sie im Himmel oder in der Hölle geschaffen wird, wie Adams Sünde ihr zusammen mit dem Odem des Lebens eingehaucht wird und auf welche Weise der Geist in ihr wohnt? Wir sind voll überzeugt – wir wissen es auf Grund unserer Erinnerung und unserer Erfahrung aus der Kindheit -, daß in den ersten Jahren nach der Wiedergeburt in der Kinderseele ein Erahnen der unsichtbaren Welt durch die sichtbaren Dinge hindurch, ein Innewerden dessen, was erhaben und anbetungswürdig ist, und ein Mißtrauen gegen alles und eine Unkenntnis in allem Vergänglichen und Veränderlichen vorhanden ist. Es ist dies eine Erscheinung, die das geeignete Sinnbild eines gereiften Christen darstellt, wenn er sich der zeitlichen Dinge entwöhnt hat und in der innersten Überzeugung von Gottes Gegenwart lebt. Damit meine ich natürlich nicht, daß ein Kind irgendeinen klar entwickelten Grundsatz in seinem Herzen trägt, eine Gehorsamshaltung, ein echtes Unterscheidungsvermögen zwischen der sichtbaren und unsichtbaren Welt, so wie sie Gott um Christi willen denen zum Lohn verheißt, die in die Jahre der Unterscheidung kommen. Niemals dürfen wir vergessen, daß im Kinde trotz seiner Neugeburt das Böse, wenn auch nur keimhaft, da ist. Doch es besitzt diese eine große Gabe, daß es anscheinend erst jüngst aus Gottes Gegenwart gekommen ist und die Sprache dieser sichtbaren Bühne nicht versteht, noch auch versteht, auf welche Weise diese zur Versuchung wird oder zum Schleier, der sich zwischen die Seele und Gott schiebt. Die Einfachheit der kindlichen Vorstellungs- und Begriffswelt, seine Bereitschaft, alles zu glauben, was ihm erzählt wird, seine ungekünstelte Liebe, sein offenes Vertrauen, die Anerkennung seiner Hilflosigkeit, seine Unkenntnis des Bösen, sein Unvermögen, die Gedanken zu verbergen, seine Genügsamkeit, sein schnelles Vergessen des Verdrusses, seine Bewunderung ohne Begehren und vor allem sein ehrfurchtsvoller Geist, der alle Dinge der Umwelt als wunderbar ansieht, als Zeichen und Abbilder des Einen Unsichtbaren, sind in ihrer Gesamtheit ein Beweis dafür, daß es sozusagen erst jüngst noch ein Besucher in einer höheren Welt gewesen ist. Ich möchte nur, daß man den Ernst und die Ehrfurcht beobachtete, mit der ein Kind jeder Beschreibung oder jeder Erzählung lauscht; ferner sein Freisein von jenem stolzen Geist der Unabhängigkeit, den es im Verlauf der Jahre in der Seele entdeckt. Obwohl Kinder zweifellos im allgemeinen schwacher und reizbarer Natur und nicht alle gleich gefällig sind, so gehen doch ihre Gemütswallungen wie ein Regenschauer vorüber. Diese sollten uns nicht hindern, aus ihrer willigen Gläubigkeit und Arglosigkeit eine Lehre zu unserem Nutzen zu ziehen.
Die Klarheit, mit der das Gewissen einem Kinde den Unterschied zwischen Recht und Unrecht kundtut, wäre ebenfalls der Erwähnung wert. Geben die Menschen mit zunehmenden Jahren den anstürmenden Versuchungen nach, so verlieren sie diese ursprüngliche Mitgift und müssen mit Hilfe der bloßen Vernunft sich vorwärts tasten. Wenn sie überlegen, ob sie so oder anders handeln sollen, und wenn viele Gesichtspunkte der Pflicht und des Interesses in die Entscheidung mit hineinspielen, sehen sie sich völlig ratlos. In Wirklichkeit kommt das wahrhaftig nicht von einer Selbsttäuschung, sondern sie wissen tatsächlich nicht, wie sie handeln sollen. Sie müssen dann Gründe heranziehen und sich viel Mühe geben, zu einem Entschluß zu kommen. Alles dies kommt wenigstens in vielen Fällen davon her, daß sie durch sündigen Lebenswandel eine Führung, die sie ursprünglich von Gott hatten, verloren haben. Aus diesem Grund spricht der heilige Johannes in der Lesung zum heutigen Tag von Christi makellosen Dienern, „die dem Lamm folgen, wohin es geht“ (Offb 14, 4). Diese besitzen den Geist der Kleinen und können mit Hilfe ihres inneren Lichtes ohne weiteres Fragen über die Pflicht entscheiden, ohne durch die Wirrsal sich widerstreitender Gründe gestört zu werden.
In dem bereits Gesagten ist enthalten, welch auffallendes Vorbild uns der Geist eines Kindes für das gibt, was wir kirchliche Gesinnung nennen. Christus wollte es so, daß wir nicht durch unsere eigenen scharfsinnigen Spekulationen, Überlegungen und Nachforschungen, sondern durch Belehrung zur Wahrheit gelangen sollten. Die heilige Kirche ist von Anfang an als eine hohe, religiöse Erscheinung hingestellt worden, um dieses Wort zu gebrauchen – als ein Bild, eine Offenbarung der kommenden Welt, als die Verwirklichung der christlichen Heilsordnung und somit in einem gewissen Sinn als das Zeugnis ihrer eigenen Göttlichkeit, wie es auch die natürliche Welt ist. Jene nun haben den Geist der Kleinen, die von vornherein ihre Worte aufnehmen, die nicht hin und her überlegen, sondern ihrer Mutter gehorchen. Solche aber, die von Anfang an sie zurückweisen, stehen ganz offensichtlich darin den Kindern nach, da sie in der Erreichung der Wahrheit den eigenen Kräften mehr vertrauen als Belehrungen, die von außen kommen.
Zum Schluß möchte ich euch anderseits nur an den Unterschied zwischen dem Verhalten eines Kindes und eines gereiften Christen erinnern; obwohl dieser Unterschied zu offensichtlich ist, um eigens betont werden zu müssen. Der heilige Johannes sagt: „Wer Gerechtigkeit übt, der ist gerecht, wie Gott Selbst gerecht ist“ (1 Jo 3, 7); und wiederum: „Jeder, der Gerechtigkeit übt, ist aus Gott geboren“ (1 Jo 2, 29). Nun ist es klar, daß das Kind in seiner Unschuld nicht teilhat an diesem höheren Grad von Seligkeit. Es ist nur ein Vorbild dessen, was an ihm einmal in Erfüllung gehen soll. Die eigentliche Schönheit seiner Seele liegt nur an der Oberfläche. Sobald es mit zunehmenden Jahren zu handeln versucht, wie es seine Pflicht ist, verschwindet sie augenblicklich. Nur solange das Kind still ist, gleicht es einem ruhigen Wasser, das den Himmel widerspiegelt. Wir dürfen daher über die entschwundenen Tage unserer Jugend nicht klagen, noch seufzen über die Erinnerungen an reine Freuden und Bilder, die wir nicht zurückrufen können. Die Tage unserer Kindheit sind vielmehr eine glückverheißende, uns zum Trost gegebene Andeutung dessen, wozu Gott uns machen wird, wenn wir unser Herz der Führung Seines Heiligen Geistes überlassen, – die Ankündigung eines kommenden Gutes – ein Vorgeschmack dessen, was im Himmel in Erfüllung gehen wird. Auf diese Weise ist das Kind ein Pfand der Unsterblichkeit, denn es trägt schon vorbildhaft in sich die hohen und ewigen Werte, in denen die Freude des Himmels besteht und die nach dem Willen des allgütigen Schöpfers ihre Schatten nicht so vorauswerfen könnten, wenn sie nicht eines Tages verwirklicht werden sollten. Demgemäß wählt unsere Kirche als Lesung für diesen Festtag einen Abschnitt aus, in dem St. Johannes die Heiligen in der Herrlichkeit des Himmels schildert.
Da wir eines Tages mit ihnen herrschen möchten, wollen wir in dieser Welt den Geist der Kleinen uns aneignen, wie der Apostel ihn schildert: „Meine Kinder, wir wollen lieben nicht mit Worten und nicht mit der Zunge, sondern in Tat und Wahrheit“ (1 Jo 3, 18). „Geliebte, lasset uns einander lieben, denn die Liebe ist aus Gott, und jeder der Gott liebt, ist aus Gott geboren und kennt Gott. Wer nicht liebt, kennt Gott nicht, denn Gott ist die Liebe“ (1 Jo 4, 7. 8).
28. Dezember 1833