8. Predigt vom 5. Juni 1831
„Das ist die Liebe zu Gott, daß wir Seine Gebote halten, und Seine Gebote sind nicht schwer“ (1 Joh 5,3).
Man muß sich dessen stets bewußt bleiben, daß es sehr schwer und mühsam ist, den Himmel zu erlangen. „Viele sind berufen, wenige aber auserwählt“ (Mt 22, 14). „Eng ist die Pforte und schmal der Weg“ (Mt 7, 14; Lk 13, 24). „Wenn jemand zu Mir kommt und hasset nicht Vater und Mutter und Weib und Kinder und Brüder und Schwestern, ja auch sogar sein eigenes Leben, der kann Mein Jünger nicht sein“ (Lk 14, 26). Andererseits ist es jedem aufmerksamen Leser des Neuen Testamentes offenbar, daß Christus und Seine Apostel das religiöse Leben als etwas Leichtes, Angenehmes und Tröstliches bezeichnen. So heißt es in meinem Leittext: „Das ist die Liebe zu Gott, daß wir Seine Gebote halten; und Seine Gebote sind nicht schwer.“ Ähnlich sagt unser Heiland: „Kommet zu Mir … und Ich will euch Ruhe geben… Mein Joch ist süß und Meine Bürde leicht“ (Mt 11, 28-30). Auch Salomon spricht im Alten Testament gleicherweise von der wahren Weisheit: „Ihre Wege sind schöne Wege und all ihre Pfade friedsam. Ein Baum des Lebens ist sie denen, die sie erfassen, und wer sie hält, ist selig… Wenn du schläfst, wirst du dich nicht fürchten; ja, du wirst ruhen, und dein Schlaf wird sanft sein“ (Spr 3,17 – 23). Wiederum lesen wir beim Propheten Michäas „Was verlanget der Herr von dir, als daß du recht tuest und Barmherzigkeit liebest und demütig mit deinem Gott wandelest“ (Mich 6, 8), als ob es ein Kleines und Leichtes wäre, so zu handeln.
Ich will nun versuchen darzutun, auf welche Weise diese anscheinend entgegengesetzten Äußerungen Christi und Seiner Propheten und Apostel an uns in Erfüllung gehen. Denn unbesonnene Menschen könnten einwenden, daß wir (wenn der Ausdruck gestattet ist) hart behandelt werden; daß wir eingeladen sind, zu Christus zu kommen und Sein leichtes Joch auf uns zu nehmen; daß uns ein leichtes und frohes Leben versprochen ist, die Freude des guten Gewissens, die Versicherung der Verzeihung und die Hoffnung auf den Himmel; daß wir dann aber andererseits, wenn wir tatsächlich kommen, sozusagen rauh zurückgestoßen, erschreckt und durch schwere Auflagen und schlimme Voraussagungen zur Verzweiflung getrieben werden. Dies ist der Einwand – freilich nicht der Einwand irgend eines Christen; denn wir, meine Brüder, wissen zuviel von der Liebe unseres Meisters und einzigen Heilandes, der für uns starb, um auch nur für einen Augenblick in uns solch eine Klage ernstlich zu nähren. Wir haben wenigstens Glauben genug (und es braucht gar nicht viel), zu glauben, daß der Sohn Gottes, Jesus Christus, nicht „Ja ist und zugleich Nein, sondern daß Ja in Ihm ist. Denn alle Verheißungen Gottes sind in Ihm Ja und in Ihm Amen zum Ruhme Gottes durch uns“ (2 Kor 1, 19. 20). Gerade aus dem Grunde, weil keiner von uns im Ernst solch einen Einwand machen kann, gestatte ich mir, ihn so stark zu betonen; denn ihn nachdrücklich zu erheben, wäre im Urteil eines Christen nicht nur frevelhaft, sondern noch mehr widersinnig. Aber obwohl keiner von uns diese Verschiedenheit des Gesichtspunktes, unter dem das Evangelium uns vorgelegt ist, als Einwand oder gar als Schwierigkeit empfindet, so mag doch (zu unserer Erbauung) die Untersuchung berechtigt sein, wie diese beiden Gesichtspunkte zusammengehen. Um zu einem Verständnis überhaupt zu kommen, müssen wir begreifen, inwiefern das Evangelium beides ist: streng und doch nachsichtig in seinen Geboten, und beides: hart und doch leicht im Gehorsam, den es verlangt. „Seine Gebote sind nicht schwer“, sagt der Text. Wie verhält sich das? Ich will von den verschiedenen Antworten, die möglich sind, nur eine geben.
Nun muß man zuerst die Tatsache zugeben, daß die Gebote für die breite Masse der Christen schwer s i n d. Ich habe gar nicht den Wunsch, eine Tatsache zu verschleiern, zu deren Feststellung wir nicht erst die Bibel nötig haben, die vielmehr die allgemeine Erfahrung bezeugt. Zweifelsohne sind schon jene allgemeinen Grundpflichten, die der Prophet anführt: „recht handeln, die Barmherzigkeit lieben und demütig vor Gott wandeln“ für die meisten Menschen schwer.
Demgemäß haben weltlich gesinnte Menschen aus dem Empfinden, daß der wahre Weg des Lebens unangenehm zu gehen ist, versucht, andere und leichtere Wege ausfindig zu machen. Sie bringen gewöhnlich vor, daß es einen anderen Weg gäbe, der ihnen besser liege als der, den religiöse Menschen beschreiten, und zwar gerade aus dem Grund, weil die Heilige Schrift erkläre, die Gebote Christi seien nicht schwer. Ich meine, man trifft Menschen, die da sagen: „Es ist schließlich nicht anzunehmen, daß ein streng religiöses Leben so notwendig ist, wie man es uns in der Kirche sagt; wie könnte denn sonst einer gerettet werden? Ja, und Christus selbst versichert uns, Sein Joch sei leicht. Ohne Zweifel werden wir ganz gut fahren, auch wenn wir die Erfüllung der religiösen Pflichten nicht so ernst nehmen, wie wir könnten; auch wenn wir am öffentlichen Gottesdienst nicht so regelmäßig teilnehmen, auch wenn wir die Diener Christi nicht so ehren und die Kirche Christi nicht so hoch achten, wie manche es tun; auch wenn wir uns nicht so voll bemühen, den Willen Gottes zu erkennen, uns selbst zu verleugnen und zu Seiner Ehre zu leben, wie der strenge Buchstabe der Schrift es gebietet“. Einige haben sich zu der Behauptung erkühnt: „Gott wird einen nicht dafür verdammen, daß man sich ein wenig Vergnügen gönnt“; dabei aber meinen sie ein unreligiöses und ausschweifendes Leben. Viele aber gibt es, die im Prinzip die Ansicht vertreten, man könne der Welt leben, solange man es anständig tue, und doch auch Gott; dabei stützen sie sich auf die Begründung, daß die Güter dieser Welt uns von Gott gegeben und darum in Ordnung dürften gebraucht werden; – in Ordnung, das heiße, mit Maß und in Dankbarkeit; es sei falsch, düstere Anschauungen zu haben, und es sei recht, seine unschuldigen Freuden zu haben und der-gleichen. Das ist, wenn man es so sagt, sehr richtig, würden sie es nur nicht unehrlich anwenden und einen Umgang mit der Welt maßvoll und unschuldig nennen, der in den Augen der Apostel Übereinstimmung mit der Welt bedeutet und Mammonsdienst statt Gottesdienst.
Bevor ich darlege, was es heißt, daß Christi Gebote nicht schwer sind, habe ich euch gesagt, was damit nicht gemeint ist. Es ist nicht gesagt, Christus entbinde von einem strengen religiösen Gehorsam; denn die ganze Sprache der Schrift verbietet eine solche Auffassung. „Wer daher eines dieser Gebote, auch das kleinste, übertritt und die Menschen so lehrt, der wird der Geringste heißen im Himmelreich“ (Mt 5, 19). „Wer nämlich das ganze Gesetz hält, aber nur ein Gebot übertritt, der verschuldet sich an allen“ (Jak 2,10). Was immer damit gemeint sein mag, daß Christi Joch leicht sei, Christus ermutigt nicht zur Sünde. Und wiederum, was auch gemeint sein mag, ich wiederhole, die meisten Menschen finden es tatsächlich nicht leicht. Darüber darf es keine Meinungsverschiedenheit geben. Obwohl wir dieses zugeben, wollen wir nun weitergehen und betrachten, wie Er Sein gegebenes Wort an uns erfüllen will, nämlich daß Seine Wege angenehme Wege sind.
1. Angenommen, ein Vorgesetzter hätte euch irgendwelche Gabe unter einer bestimmten Bedingung versprochen und ihr würdet seinen Weisungen nicht folgen, hätte dann er sein Versprechen gebrochen oder seid nicht ihr es, die ihr euch willentlich um den Vorteil gebracht habt? Offenbar hättet ihr den Verlust selbst verschuldet; ihr könntet zwar sein Angebot der Annahme nicht würdig erachten, da es sozusagen mit der Last einer Bedingung verknüpft ist; doch wäre es durchaus unschicklich zu sagen, daß er seiner Verpflichtung nicht nachgekommen sei. Wenn nun also die Heilige Schrift uns verheißt, daß Seine Gebote leicht sein werden, dann verbindet sie diese Verheißung mit der Auflage, daß wir Gott frühzeitig suchen sollen. „Ich liebe, die Mich lieben; und die frühe zu Mir wachen, werden Mich finden“ (Spr 8,17). Wiederum: „Gedenke deines Schöpfers in den Tagen deiner Jugend“ (Prd 12,1). Das sind die Worte Salomons; wenn ihr aber die Autorität unseres Herrn selbst verlanget, dann habet acht auf Seine Weisungen bezüglich der Kinder: „Lasset die Kinder zu Mir kommen und wehret es ihnen nicht, denn für solche ist das Himmelreich (Mk 10, 14). Die Jugend ist die Zeit Seines Bündnisses mit uns, da Er uns erstmals Seinen Geist schenkt; in der Jugend erstmals, damit wir gleich von da an unseren Rückweg im Gehorsam zu Ihm begännen; nicht aber gibt Er ihn schon jetzt, damit wir unsere Dankesgabe zwanzig und dreißig und fünfzig Jahre hinausschieben sollten. Nun ist es einleuchtend, daß der Gehorsam gegen Gottes Gebote stets leicht ist und fast mühelos für die, welche vom Anfang ihres Lebens an Ihm dienen; wogegen jene, die eine Zeitlang warten, ihn immer schwieriger finden, je länger sie zuwarten.
Bedenket, wie sanft uns Gott in unseren jungen Jahren führt und wie Er uns so ganz allmählich die Vielfalt unserer Lebensaufgaben eröffnet. Das Kind hat anfänglich kaum etwas anderes zu tun, als seinen Eltern zu gehorchen; von Gott weiß es nur so viel, wie sie ihm zu erzählen vermögen; und vielen Gedanken über Ihn oder die Welt ist es noch nicht gewachsen. Es ist fast passiv in den Händen derer, die ihm das Leben gaben. Und mag es auch jene schlummernden, allen Menschen gemeinsamen Gefühle für Gut oder Bös, Wahr oder Falsch haben, es weiß nicht genug, es hat noch nicht genug Erfahrung durch Berührung mit den äußeren Dingen, um diese Uranlagen des Gewissens zu Form und Tat zu wecken oder sich ihres Daseins bewußt zu werden.
Und während einerseits sein Pflichtenkreis sehr beschränkt ist, achtet auf die Hilfsmittel, die ihm zur Ausführung gegeben sind. Erstlich, es ist frei von schlechten Gewohnheiten, die den Mahnungen des Gewissens hindernd entgegenstehen: Trägheit, Stolz, Launenhaftigkeit wirken sich noch nicht aus wie später, wenn der Geist sich an den Ungehorsam gewöhnt hat, als hartnäckige, tief eingewurzelte Hindernisse auf dem Weg zur Pflicht. Der Gehorsam fordert natürlich seine Anstrengung; aber es ist wie die körperliche Anstrengung des Kindes, wenn es nach einem Fall sich vom Boden erhebt; nicht aber die Mühe, wenn man die Schlaftrunkenheit von sich abschüttelt, noch (viel weniger) die Mühe einer heftigen körperlichen Anstrengung in der Zeit der Krankheit und langwährenden Schwäche. Ist die erste Mühe gemacht, so wird der Gehorsam bei einem zweiten Versuch leichter fallen als zuvor, bis es zuletzt leichter wird zu gehorchen als nicht zu gehorchen. Eine gute Gewohnheit bildet sich, wo sich sonst eine schlechte gebildet hätte. So beginnt das Kind, wie wir annehmen, einen Charakter zu erwerben; es wird nicht mehr, wie zuvor, durch jede Versuchung zum Zorn, zur Unzufriedenheit, zur Furcht oder zum Eigensinn veranlaßt, sondern hat in sich als Widerstand etwas wie ein festes Prinzip in seinem Herzen, um sie abzuwehren wie der Schild die Pfeile. Unterdessen erweitert sich der Umkreis seiner Pflichten. Und obgleich der Ausgang seiner Prüfung für die, welche es beobachten können (wie z. B. die Engel), eine Zeitlang zweifelhaft scheint, so wird, wenn es als Kind diesen leichten Weg einige Jahre beharrlich gegangen ist, sein ewiges Heil wohl tatsächlich gesichert sein. Jene, die Einblick in sein Herz haben, dürften es wohl voraussagen, auch wenn das Kind selbst es nicht weiß. Zweifelsohne werden neue Kämpfe an es herantreten; üble Leidenschaften, von denen es sich noch keinen Begriff gebildet hat, werden es bestürmen, aber eine so aus Gott geborene Seele wird nach den Worten des heiligen Johannes „nicht sündigen, sondern die Geburt aus Gott bewahrt ihn und der Böse tastet ihn nicht an“ (1 Jo 5, 18). „Sein Same bleibet in ihm, und er kann nicht sündigen, weil er aus Gott geboren ist“ (1 Jo S, 9). Und so wächst es heran zum Mannestum, während seine Pflichten zuletzt den vollen Umfang annehmen, und seine Seele ist in jeder Hinsicht vollendet zur gebührenden Erfüllung derselben. Dies könnte die gesegnete Lage eines jeden von uns sein, würden wir nur von Kindheit an tun, was wir als recht erkennen. In Christi Jugendleben (wenn wir es wagen dürfen, von Ihm zu reden im Zusammenhang mit uns) war es erfüllt, da Er täglich sündelos an Weisheit wie an Wuchs zunahm und wohlgefällig war vor Gott und den Menschen. Aber was mir im Augenblick vorschwebt, wenn ich über das stufenweise Wachstum der Heiligkeit in der Seele rede, ist (nicht der Nachweis dessen, was wir sein könnten, hätten wir das Herz, Gott zu gehorchen), sondern der Nachweis, wie leicht uns der Gehorsam in diesem Falle wäre. So wäre er keine lästige Zeremonie, keine schmerzende Leibeszucht, sondern die freie Opfergabe unseres Herzens, eines Herzens, das langsam und mit gar geringem zeitweiligem Kraftaufwand in der Liebe dessen geschult worden wäre, was Gott und Gewissen gutheißen.
So sind Christi Gebote nicht schwer, wenn wir uns die Art vor Augen halten, wie Er sie uns auferlegt. Sie wären schwer, würden sie uns alle gleichzeitig auferlegt. Aber sie werden nicht auf uns gehäuft, sondern zugeteilt entsprechend Seiner Ordnung, die nach harmonischem und wohlerwogenem Plane vorgeht; Schritt für Schritt, zuerst eine Pflicht, dann die andere, dann beide usw. Außerdem erreichen sie uns so, daß unterdessen die Sicherung tugendhafter Grundhaltung sich ge-rade durch die Gehorsamstaten natürlich und allmählich in unserem Geiste bildet und ihnen als ihr Lohn folgt. Wollen aber Menschen ihre Pflichten nicht nach Christi Anordnung auf sich nehmen, sondern zum Aufschub des Gehorsams sich entschließen, mit dem Vorsatz, ihre Pflichten später einmal wieder aufzunehmen und dann das Vergangene nachzuholen, soll es einen wundernehmen, wenn sie deren Erfüllung schwer und mühsam finden? Daß sie von der Last der Rückstände ihrer großen Aufgabe erdrückt sind, daß sie sich verfangen haben und straucheln in der Unentwirrbarkeit des Göttlichen Planes, der sich fortschreitend vor ihnen entfaltet hat? Und ist Christus genötigt, diesen Plan aufzugeben, Seine Vorsehung umzulenken, solche Menschen aus den ihnen zustehenden Kirchenstühlen herauszunehmen, um sie zu retten von den Rädern, die sie zermalmen, und sie in irgend einen einfacheren dem Kindesalter entsprechenden Prüfungszustand zurückzuversetzen, wo sie zum mindesten zeitweise weniger zu tun hätten (wiewohl sie nicht weniger ablegen müßten)?
2. Obwohl wir dies alles zugestehen, bleibt der Einwurf: da (wie ich zugegeben habe) die Gebote Gottes für die Menschheit im allgemeinen schwer sind, was hat es für einen Wert zu sagen, was die Menschen sein sollen, da wir doch wissen, was sie sind? Und heißt das Erfüllung jenes Versprechens, daß Seine Gebote nicht schwer sein werden, wenn man uns klar macht, daß sie es nicht sein sollten? Es ist ein und dasselbe zu sagen, das Gesetz sei in sich selbst heilig, gerecht und gut und es ist etwas anderes, zu behaupten, es sei für den sündigen Menschen nicht schwer.
Bei Beantwortung dieser Frage gebe ich voll und ganz zu, daß unser Heiland, als Er erklärte, Sein Joch sei leicht, vom Menschen sprach so wie er ist, als von einem Sünder. Sicherlich, Er ist nicht gekommen, die Gerechten zu berufen, sondern die Sünder. Gewißlich sind wir in einem ganz anderen Zustand als Adam vor dem Sündenfall; und trotzdem sagt der heilige Johannes ohne Zweifel, daß selbst dem gefallenen Menschen Seine Gebote nicht schwer sind. Andererseits muß ich gestehen, daß der Gehorsam schwer sein muß für einen Menschen, der nicht gehorchen kann, und ich gebe (selbstverständlich) zu, daß der Mensch von Natur aus Gott nicht gehorchen kann. Aber beachtet, daß weder hier noch beim heiligen Johannes etwas gesagt wurde von dem naturhaft in Sünde geborenen Menschen, sondern von dem Menschen, der ein Kind der Gnade ist, ein Eigentum, erkauft von Christus, der uns zuvorkommt mit Seiner Erbarmung, der zuerst die Segnung schenkt und dann erst das Gebot hinzufügt, uns zuerst zu neuem Leben weckt und dann erst uns zum Gehorsam verpflichtet. Christus heißt uns nichts Unmögliches tun. Er bessert den Schaden der Natur aus, noch bevor dieser sich in der Tat offenbart. Er reinigt uns von der Erbsünde und errettet uns vor dem Zorn Gottes durch das Sakrament der Taufe. Er verleiht uns den Heiligen Geist als Geschenk und dann erst sagt Er: „Was fordert der Herr von dir? Recht tun und Barmherzigkeit lieben und demütig wandeln vor deinem Gotte“ (Mich 6,8). Und ist das schwer?
Wenn also die Menschen sich mit ihrer gefallenen Natur entschuldigen für ihre Abneigung gegen Gottes Gebot, dann soll man sie, wenn es tatsächlich Heiden sind, anhören und ihnen auch als solchen eine Antwort geben. Aber ich habe es jetzt nicht mit Heiden zu tun. Diese Menschen beklagen sich als Christen, und für Christen ist eine solche Klage höchst sinnlos; denn Gott hat ein Heilmittel für ihre natürliche Unfähigkeit vorgesehen in der Gabe Seines Geistes. Höre die Worte des heiligen Paulus: „Wenn durch die Sünde des Einzigen die vielen gestorben sind, so ist um so mehr die Gnade Gottes und die Gabe durch die Gnade des einzigen Menschen, Jesus Christus, den vielen im Überfluß zuteil geworden … Als die Sünde, überschwenglich war, wurde die Gnade noch überchwenglicher: damit, gleichwie die Sünde zum Tode geherrscht hat, also auch die Gnade durch die Gerechtigkeit zum ewigen Leben herrsche durch Jesus Christus unseren Herrn“ (Röm 5, 15 -21).
Und es gibt Menschen, die – man vergesse es nicht – von Jugend auf der Führung der Göttlichen Vorsehung so gefolgt sind, daß ihnen Seine Gebote weder schwer sind noch es je waren. Die Tatsache aber, daß es solche gibt, ist die Verurteilung aller, bei denen dies nicht der Fall ist. Sie sind erzogen worden in „der Lehre und Zucht des Herrn“ (Eph 6, 4) und leben jetzt in der Liebe und „dem Frieden Gottes, der allen Begriff übersteigt“ (Phil 4, 7). Es sind jene, von denen unser Heiland spricht als den „Gerechten, welche der Buße nicht bedürfen“ (Lk 15, 7) Nicht also ob sie sich selber so einschätzten, denn sie sind sich im eigenen Herzen der Unzahl ihrer Sünden und der gewohnheitsmäßigen Schwächen vollauf bewusst. Aber sie haben trotz allen Strauchelns und Fallens in ihrem geistlichen Leben im allgemeinen durchgehalten. Als Kinder dienten sie Gott im großen ganzen. Sie fielen in Ungehorsam, aber sie gewannen das verlorene Gelände wieder zurück, sie suchten Gott und fanden Aufnahme. Vielleicht hat ihr Jugendglaube eine Zeitlang ganz versagt, aber selbst dann gelang es ihnen, in bitterer Reue und starkem Abscheu vor der Sünde und in ernsthaftem Gebet, die verlorene Zeit wettzumachen und Schritt zu halten mit dem Laufe der Vorsehung Gottes. So sind sie mit Gott gewandelt, freilich nicht Schritt für Schritt mit Ihm; nie Ihm voraus, oft saumselig hinter Ihm her, strauchelnd, schläfrig; aber doch immer wieder neu beginnend und „Seine Gebote mit Eifer erfüllend“, „laufend und ohne Aufschub der Zeit“. So schreiten sie voran, aber nicht aus eigener Kraft, sondern gestützt durch Seine Rechte und ihre Schritte nach seinem Worte richtend; und wiewohl sie nichts haben, dessen sie sich rühmen könnten, und wiewohl sie sich ihrer eigenen Unwürdigkeit bewußt sind, sind sie doch allen gegenüber die Zeugen Christi, indem sie zeigen, was der Mensch werden kann und was alle Christen sein sollten. Und am Jüngsten Tag werden sie tauglich erfunden werden für das Erbe der Heiligen im Licht, und so „verdammen sie die Welt“ wie Noe und werden „Erben der Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt“ (Hebr 11, 7), gemäß dem Worte: „Das ist der Sieg, der die Welt überwindet, unser Glaube“ (1 Jo 5, 4).
Was bezwecken nun die angeführten Beobachtungen, wenn nicht das – jeden von uns demütig zu machen? Denn, haben wir Gott auch noch so treu gehorcht und haben wir noch so früh damit begonnen: wir hätten sicher noch früher damit beginnen können als wir es taten, und hätten Ihm noch aufrichtiger dienen können. Wir müssen uns dessen bewußt sein. Einzelne aus uns mögen je nach Lage der Dinge mehr oder weniger schuldig sein, aber die Besten und Schlechtesten unserer Versammlung hier mögen sich zu dem gemeinsamen Bekenntnis einigen, daß sie „wie verlorene Schafe umhergeirrt und von Gottes Wegen abgewichen“ (Js 53, 6; 1 Petr 2,25) und „zu sehr den Begierden und Lüsten ihres eigenen Herzens“ (fit 3,3) gefolgt sind und „keine Gesundheit in sich haben“ (Ps 37, 4), da sie „üble Beleidiger“ sind. Es mögen einige von uns dem Himmel näher sein, andere weiter weg, einige mögen guter Hoffnung auf Rettung sein, andere (Gott verhüte es, es könnte jedoch sein) gegenwärtig ohne Hoffnung. Wir wollen uns jedoch nun vereinigen im Bekenntnis (den Besseren aus uns wird ein solches Bekenntnis nur willkommen, den Schlechtesten um so notwendiger sein), im Bekenntnis, daß wir Sünder sind, daß wir Gottes Zorn verdienen und daß wir keine andere Hoffnung haben als die „gemäß Seiner Verheißung, die den Menschen in Christus unserem Herrn gemacht wurde“ (2 Tim 1, 1). Er, der uns erst zu neuem Leben erweckt und dann Seine Gebote gegeben hat, darauf aber so undankbar von uns verlassen worden ist, Er wiederum ist es, der uns Vergebung schenken und uns, nachdem wir neue Schuld auf uns gehäuft haben, wieder beleben muß, sollen wir denn Verzeihung finden. Laßt uns also (soweit es geht) die Spur unserer früheren Jahre im Gedächtnis zurückverfolgen: was wir waren mit fünf, mit zehn, mit fünfzehn, mit zwanzig Jahren, was unser Zustand gewesen wäre, soweit wir es erraten können, hätte Gott uns in irgend einem Alter vorher zur Rechenschaft gezogen. Ich will nicht fragen, wie es uns erginge, wenn er uns eben jetzt zur Rechenschaft forderte; wir wollen das Beste annehmen.
Jeder von uns möge (meine ich) über seine eigenen gröbsten und andauernden Vernachlässigungen Gott gegenüber zu verschiedenen Zeiten seines vergangenen Lebens nachdenken. Wie rücksichts-voll ist Er gegen uns gewesen! Wie hat Er uns vor Versuchungen bewahrt! Wie hat Er Seinen Willen langsam uns kundgetan, damit wir ihn ertragen könnten; wie hat Er alles gut gemacht, damit das geistliche Werk ruhig, ungefährdet und sicher fortschreite! Wie hat Er uns geleitet, von Pflicht zu Pflicht, aufwärts Stufe um Stufe auf den leichten Sprossen jener Leiter, deren Spitze bis zum Himmel reicht. Wie haben wir hingegen uns in Versuchungen gestürzt! Wie haben wir uns geweigert, zu Ihm zu kommen, um das Leben zu haben; wie verwegen haben wir uns gegen das Licht versündigt! Und was war die Folge? Daß unser Werk über unsere Kraft hinauswuchs, oder besser, daß unsere Kraft nachließ, indes unsere Pflichten anwuchsen, bis wir endlich in Verzweiflung den Gehorsam aufkündigten. Und auch jetzt noch zögerte Er und war barmherzig gegen uns; Er wandte sich uns zu und blickte auf uns, um uns zur Buße zu bewegen, und wir waren für eine kurze Zeit beeindruckt. Aber selbst dann noch vermochte unser eigensinniges Herz nicht seinen Entschlüssen treu zu bleiben: es ließ das Feuer verströmen, das Christus ihm gab, als ob unser Herz aus Stein und nicht aus lebendigem Fleisch wäre. Was hätte Seinem Weinberg noch mehr geschehen können, das Er nicht getan hat2! „O Mein Volk (scheint Er zu uns zu sagen), was habe Ich dir getan und womit habe Ich dich betrübt? Antworte Mir! Ich habe dich herausgeführt aus dem Lande Ägypten und habe dich befreit aus dem Hause der Knechtschaft … was verlangt der Herr von dir als Gerechtigkeit, Erbarmen und Demut des Geistes?“ (Mich 6,3 – 8). Er hat uns gezeigt, was gut ist. Er hat uns getragen und an Sein Herz genommen, damit wir „nicht etwa den Fuß an einen Stein stoßen“ (Ps 90,12). Er hat Seinen Heiligen Geist über uns ausgegossen, damit wir Ihn lieben könnten. Und „das ist die Liebe Gottes, daß wir Seine Gebote halten und Seine Gebote sind nicht schwer“. Warum also sind sie uns schwer gewesen? Warum sind wir von Seinen Wegen abgewichen und haben unser Herz verhärtet gegen die Gottesfurcht? Warum stehen wir heute beschämt, ja verwirrt da? – weil wir die Anklage unserer Jugend tragen müssen.
Wenden wir uns also zum Herrn, solange wir es noch dürfen. Desto schwerer wird es sein, je weiter wir uns von Ihm entfernt haben. Da ein jeder mehr hätte tun können, als er getan hat, hat ein jeder Verluste erlitten, die er nie wieder gut machen kann. Wir haben uns Seine Gebote schwer gemacht. An uns ist es, sie zu ertragen; machen wir ja keinen Versuch, sie wegzuerklären, weil sie schwer sind. Niemals können wir die Malzeichen der Sünde wegwaschen. Gott kann verzeihen, aber die Sünde hat ihr Werk an uns getan und hat unserer Seele ihre Spur aufgedrückt. Gott sieht sie in ihr. Ernsthafter Gehorsam und Gebet werden sie allmählich verwischen. Und doch – welch beklagenswerter Zeitverlust ist es in unserem kurzen Leben, lediglich das begangene Übel wiedergut-zumachen (wie es notwendig geworden ist), anstatt zur Vollkommenheit fortzuschreiten! Wenn wir uns mit Gottes Hilfe trotz unserer früheren Sünden bis zu einem gewissen Grade heiligen können, wieviel mehr hätten wir doch erreicht, wären wir immer in Seinem Dienst verblieben!
Das sind bittere und demütigende Erwägungen, aber sie sind gut, wenn sie uns zur Buße bewegen, und das führt mich zu einem Schlußgedanken.
Sollte einer meiner Hörer jetzt im Augenblick durch das Gesagte getroffen sein und Reue und Scham eines schlechten Gewissens in sich fühlen und einen raschen, guten Entschluß fassen, dann sollte er darauf achten, ihn sogleich zu befolgen, indem er danach handelt. Ich bitte ihn allen Ernstes darum. Der Grund ist der: tut er es nicht, dann fängt er eine Gewohnheit der Unachtsamkeit und Stumpfheit an. Gottes Wirken in uns zielt darauf ab, uns den Anfang der Pflichterfüllung zu erleichtern. Achten wir nicht darauf, dann hört Er auf mit Seiner Einwirkung. Und wer immer von euch, meine Brüder, die Hilfe dieser weisen Vorsehung nicht ausnützt und nun sich nicht mit einem warmen Herzen Gott zuwendet, wird es nachher (wenn er es überhaupt tut) mit einem kalten Herzen tun müssen – und das ist um vieles härter. Gott möge euch davor bewahren!