Am 5. November 2022 hat der Herr den bekanntesten lebenden Newman-Forscher zu sich heimgerufen. Neben seiner akademischen und schriftstellerischen Arbeit vergaß Fr. Ker nie den Primat Gottes und der Seelen.
Geschrieben von Hermann Geißler FSO
Jesus, ich hoffe, dass ich Dir eines Tages durch Deine Gnade in meiner Person folgen kann.
In den Himmel zu kommen heißt, zu Gott gehen.
J. H. Newman
Am 5. November 2022 hat der Herr den bekanntesten lebenden Newman-Forscher zu sich heimgerufen. Fr. Ian Ker war ein begnadeter Schriftsteller, ein versierter Theologe, ein beliebter Priester und ein unvergesslicher Mensch. Er verfasste mehr als zwanzig Bücher über Newman, darunter die bekannteste Biografie: John Henry Newman. A Biography, die leider bisher nicht in die deutsche Sprache übersetzt worden ist. Seine wissenschaftlichen Beiträge, seine Vorträge bei Kongressen und seine vielen Veröffentlichungen trugen wesentlich dazu bei, Newman in aller Welt bekannt zu machen.
Ian Turnbull Ker wurde am 30. August 1942 in Indien geboren, wo seine Eltern damals tätig waren. Als Indien 1947 unabhängig wurde, zog er mit seiner Familie nach England und wuchs in Wimbledon auf. Der begabte Junge besuchte die Shrewsbury School und studierte dann in Oxford im Balliol College und im Corpus Christi College klassische Philologie. Wie seine Eltern und seine beiden Schwestern gehörte er der anglikanischen Staatskirche an. Nach der Lektüre des Buches Mere Christianity von C.S. Lewis interessierte er sich mehr und mehr für den Katholizismus und konvertierte schließlich zur katholischen Kirche.
Nach Abschluss seiner Studien in Oxford übersiedelte Ker in das Trinity College in Cambridge. Er verfasste eine Promotion über George Eliot, die von der Universität zuerst nicht angenommen wurde. Später wurde ihm trotzdem der Doktortitel verliehen. Von Cambridge zog Ker nach York und unterrichtete an der dortigen Universität Latein und englische Literatur. In diesen Jahren reifte in ihm der Entschluss, der Kirche im priesterlichen Dienst zu dienen. Nach einer Zeit im Oratorium von Birmingham besuchte er das Venerable English College in Rom und bereitete sich auf das Priestertum vor.
Im Anschluss an die Priesterweihe lehrte Fr. Ker Theologie und Philosophie an der University of St. Thomas in St. Paul, Minnesota (USA). Nach wenigen Jahren kehrte er nach England zurück, um seine Eltern zu pflegen. Zugleich übernahm er eine Lehrtätigkeit an der Universität von Southampton. Bald darauf wurde er Pfarrer in Burford und Professor an der Universität von Oxford. Er verstand es hervorragend, über mehrere Jahrzehnte den priesterlichen Dienst mit der wissenschaftlichen Tätigkeit zu verbinden. Neben der bereits genannten Newman-Biografie veröffentlichte er kritische Ausgaben von drei Hauptwerken Newmans: Apologia pro Vita Sua (Newmans Autobiografie), Grammar of Assent (Zustimmungslehre) und Idea of a University (Wesen der Universität). Er verfasste eine Vielzahl von weiteren Studien über Newmans Theologie, Spiritualität und Aktualität und schrieb auch andere mehrere Werke. Große Bedeutung haben seine apologetische Schrift Mere Catholicism, seine Studie The Catholic Revival in English Literature 1845-1961 sowie seine zweite berühmte Biografie GK Chesterton: A Biography.
Neben seiner akademischen und schriftstellerischen Arbeit vergaß Fr. Ker nie den Primat Gottes und der Seelen. Er war in erster Linie Priester, widmete sich mit Hingabe den Gläubigen seiner Pfarrei und wurde ein großer Freund und Förderer der neuen Gemeinschaften und Bewegungen. Auch der geistlichen Familie „Das Werk“ war er sehr zugetan. Er freute sich, als die Schwestern des „Werkes“ nach Littlemore/Oxford kamen und den Ort der Konversion Newmans zu neuem Leben erweckten. Er nahm an mehreren Newman-Symposien teil, die das „Werk“ mit seinen Newman-Zentren veranstaltete. Er war verschiedenen Mitgliedern der Gemeinschaft freundschaftlich verbunden.
Fr. Ker betonte unentwegt die Bedeutung Newmans für unsere Zeit. Häufig verwies er darauf, dass Newman mit Recht als „Vater des Zweiten Vatikanischen Konzil“ betrachtet wird. Wie er in seinem Buch Newman and the Fullness of Christianity schrieb, war Newman „eine große, im Hintergrund aufragende Gestalt, derer sich die wichtigsten Theologen des Zweiten Vatikanischen Konzils sehr wohl bewusst waren. Es besteht kein Zweifel daran, dass jene umstrittenen Auffassungen, die er zu seiner Zeit und oft auch unter großem persönlichem Einsatz vertreten hat, durch das Zweite Vatikanum unterstützt und gerechtfertigt wurden“ (S. 127). Dazu gehören Newmans Lehre über die Kirche, über die Entwicklung der Glaubenslehre, über die Sendung der Laien, über die Rolle des Gewissens, über das Ziel des Universitätsbildung, über die Beziehung zwischen Glauben und Vernunft, über die Bedeutung der Ökumene und des Dialogs mit den Anhängern anderer Religionen.
Newmans Seligsprechung in Birmingham (2010) und seine Heiligsprechung in Rom (2019) gehörten zu den größten Highlights im Leben von Fr. Ker. Seinen Lebensabend verbrachte er in Cheltenham, wo er liebevoll von seiner Haushälterin Julia Kadziela versorgt wurde und weiter priesterlich tätig blieb. Jene, die ihn kannten, freuten sich über sein freundliches Wesen und seinen trockenen englischen Humor, den er nie verlor. Ein besonderes Anliegen war ihm in den letzten Lebensjahren, dass Newman zum Kirchenlehrer ernannt werde. Groß war seine Freude, als ihm zu seinem 80. Geburtstag von Kardinälen, Weggefährten, Freunden und Newman-Forschern aus vielen Ländern eine Festschrift gewidmet wurde: Lead, Kindly Light: Essays in Honour of Ian Ker.
Auch ich durfte einen Beitrag für diese Festschrift verfassen, und zwar zum Thema Cor ad cor loquitur: Newman’s Vision of Saint Paul. Mein Anliegen bestand darin, ausgehend von Newmans Vorträgen über den Apostel Paulus zu zeigen, wie der Glaube von Herz zu Herz weitergegeben wird – und wie Fr. Ker dies ein Leben lang getan hat: „Ian Ker folgte den Fußspuren des Völkerapostels und des heiligen John Henry Newman. Er war nicht nur ein herausragender Intellektueller, Schriftsteller und Professor, sondern auch und vor allem ein glücklicher Priester, ein echter Vater der Seelen, ein Mann Gottes, der gemäß Newmans Motto Cor ad cor loquitur lebte. Ja, er folgte dem milden Licht des Herzens Jesu und fand den vollkommenen Frieden im Hafen der Kirche. Er sorgte in Liebe für die Gläubigen, er erleuchtete und stärkte ihre Herzen mit dem Licht der Wahrheit und der Kraft des sakramentalen Gnade, vor allem jene, die den neuen Gemeinschaften und kirchlichen Bewegungen angehörten. Wir wünschen Ian Ker, dass er weiter sein Vertrauen auf das liebende Herz Jesu setze“ (S. 101f.). Nur wenige Wochen nach der Präsentation dieser Festschrift starb Fr. Ker am 5. November 2022 im Krankenhaus von Gloucester. Der Herr lasse ihn nun die Liebe seines Herzens schauen und nehme ihn auf in die Gemeinschaft der Heiligen und gebe ihm einen besonderen Platz an der Seite von John Henry Newman.
Über den Autor
P. Hermann Geißler FSO
P. Hermann Geißler FSO, geboren am 12. Juni 1965 in Hall in Tirol (Österreich), studierte an der philosophisch-theologischen Hochschule Heiligenkreuz bei Wien und promovierte an der päpstlichen Lateranuniversität in Rom mit einer Studie über „Gewissen und Wahrheit bei John Henry Kardinal Newman“. Seit 1988 gehört er zur geistlichen Familie „Das Werk“, 1991 wurde er zum Priester geweiht. Von 1993 bis 2019 arbeitete er an der Kongregation für die Glaubenslehre, Benedikt XVI. ernannte ihn 2009 zum Leiter der Lehrabteilung. Innerhalb des „Werkes“ erfüllte P. Geißler im Laufe der Jahre verschiedene Aufgaben in der Ausbildung und in der Leitung. Er ist Direktor des vom „Werk“ errichteten internationalen Zentrums der Newman-Freunde, trägt Verantwortung für die Formung der jungen Mitbrüder und unterrichtet Theologie in Rom, Florenz und Heiligenkreuz/Wien.
Neue Publikation
Lead Kindly Light:
Essays for Ian Ker
Lead Kindly Light: Essays for Ian Ker (Gracewing) ist eine exzellente Festschrift in englischer Sprache für alle, die mehr über das Erbe von Ian Ker erfahren möchten.
Ein weiterer, lesenswerter Nachruf , geschrieben von Edward Short gibt es auf der englischsprachigen Website der Newman-Freunde:
Bitte hier klicken.
Foto von Ian Ker mit freundlicher Genehmung von Gracewing.