4. Predigt (Fest des heiligen Martyrers Stephanus)
„Sie wurden gesteinigt, zersägt, geprüft, mit dem Schwert getötet“ (Hebr 11, 37).
Der heilige Stephanus, einer der sieben Diakone, wird Erzmartyrer genannt, weil er als erster den Tod um des Evangeliums willen erlitten hat. Gestattet mir, diesen Festtag zum Anlaß zu nehmen, um einige allgemeine Ausführungen über das Martyrium daran anzuknüpfen.
Das Wort Martyrer bedeutet eigentlich „Zeuge“, aber es wird ausschließlich gebraucht, um einen zu kennzeichnen, der den Tod um des christlichen Glaubens willen erlitten hat. Jene, die für Christus Zeugnis abgelegt haben, ohne den Tod zu erleiden, werden Bekenner genannt. Dies ist ein Titel, den die frühen Martyrer sich oft zu eigen machten vor ihrem letzten feierlichen Bekenntnis, das zum Tod oder Martyrium führte. Unser Herr Jesus Christus ist der größte und herrlichste Martyrer, da Er „vor Pontius Pilatus ein gutes Bekenntnis abgelegt hat“ (1 Tim 6, 13); aber wir nennen Ihn nicht Martyrer, da Er weit mehr als ein Martyrer ist. Wahr ist, daß Er für die Wahrheit starb; aber das ist nicht der Hauptzweck Seines Todes gewesen. Er starb, um uns Sünder vor dem Zorne Gottes zu retten. Er war nicht nur ein Martyrer, Er war ein Sühnopfer.
Er ist es, dem an erster Stelle unsere Liebe, Dankbarkeit und Ehrerbietung gehören. Nächst Ihm ehren wir die edle Schar der Martyrer, nicht zwar weil wir sie wirklich mit Ihm vergleichen, „der über alles ist, Gott, gepriesen in Ewigkeit“ (Röm 9, 5), oder als ob sie durch ihre Leiden irgendwelchen Anteil am Werk der Versöhnung hätten, sondern weil sie von allen Seinen Dienern Seinem Vorbild am nächsten gekommen sind. Sie haben für die Kirche ihr Blut vergossen und so das Wort erfüllt, „Er gab Sein Leben für uns hin, und wir müssen unser Leben für die Brüder hingeben“ (1 Jo 3, 16). Sie sind Seinen Fußstapfen gefolgt und haben Anspruch auf unser dankbares Gedenken. Wäre der heilige Stephanus vor der ihm auferlegten Prüfung zurückgeschreckt und hätte er widerrufen, um sein Leben zu retten, so könnte niemand die Folgen eines solchen Abfalles ermessen. Vielleicht wäre (menschlich gesprochen) die Sache des Evangeliums verloren gewesen; die Kirche hätte zugrunde gehen können; und obwohl Christus für die Welt gestorben war, hätte die Welt nicht die Kenntnis oder die Wohltaten Seines Todes empfangen können. Die Kanäle der Gnade hätten zerstört, die Sakramente dem schwachen und verdorbenen Geschlecht, das ihrer so sehr bedurfte, entzogen werden können.
Nun kann man sagen, daß viele Menschen durch Krankheit oder sonst wie ebenso große Pein erleiden wie die des Martyriums; ferner, es folge nicht, daß jene, die gerade gemartert wurden, immer die nützlichsten und tatkräftigsten Verteidiger des Glaubens gewesen seien. Wenn wir also die Martyrer ehren, bringen wir besondere Ehrung denen entgegen, denen wir tatsächlich besonders verpflichtet sein dürften (wie z. B. den Aposteln). Nichtsdestoweniger mögen sie nur gewöhnliche Menschen gewesen sein, die zufällig am vorgeschobensten Platz standen, am Wegrand der Verfolgung, und die wie von ungefähr getötet wurden, weil das Schwert sie zuerst traf. Das wäre aber – es ist klar – eine seltsame Art von Schlußfolgerung in jedem ähnlichen Fall. Wir sind denen, die uns Gefälligkeiten erwiesen haben, eher dankbar als denen, die es hätten tun können oder die es getan hätten, wenn es sich so gefügt hätte. Es kümmert uns nicht, ob die Martyrer die besten Menschen waren oder nicht, ob andere auch Martyrer gewesen sein würden, wäre es ihnen vergönnt gewesen. Wir sind denen dankbar, die es waren, aus der einfachen Tatsache heraus, daß sie es waren, daß sie durch größeres Leiden gingen, damit die Welt eine unschätzbare Wohltat gewänne, nämlich das Licht des Evangeliums.
Wenn wir aber den Stoff aufmerksam betrachten könnten, würden wir in Wahrheit finden, daß die Martyrer der ersten Zeiten, so gesehen, Menschen eines wahrhaft hochgemuten Glaubens waren (soweit menschliches Urteil über einen solchen Punkt entscheiden kann). Sie waren nicht nur unsere Wohltäter, sondern sie stehen weit über uns. Alle die Einwände, wie ich sie gemacht habe, beweisen im höchsten Fall dies, daß andere, die nicht gemartert worden sind, ihnen gleich sein könnten (der heilige Diakon Philippus z. B. gleich seinem Gefährten, dem heiligen Stephanus) – beweisen aber nicht, daß jene, die gemartert worden sind, nicht in hervorragendem Maße mit dem Geist Christi ausgestattet waren. Wir wollen also betrachten, was es damals bedeutete, ein Martyrer zu sein.
1. Zunächst bedeutete es, ein freiwilliger Dulder zu sein. Möglicherweise leiden Menschen durch verschiedene Krankheiten mehr als die Martyrer litten, aber sie können nicht anders. Ferner kam es häufig vor, daß Menschen um ihrer Religion willen verfolgt worden sind, ohne es erwartet zu haben oder imstande gewesen zu sein, es abzuwenden. Diese sind zwar in einem gewissen Sinn Martyrer, und wir denken natürlich liebevoll an solche, die um unseretwillen gelitten haben, ob freiwillig oder nicht. Aber das war nicht der Fall bei den ersten Martyrern. Sie wußten vorher genau genug, welche Folgen ihre Predigt des Evangeliums haben werde. Sie hatten häufige Warnungszeichen empfangen, die ihnen eindringlich die Leiden vorstellten, die ihrer warteten, sollten sie in ihrem Werk brüderlicher Liebe verharren. Ihr Herr und Meister hatte vor ihnen gelitten. Und Er hat nicht nur Selbst gelitten, sondern ihre Leiden ausdrücklich vorausgesagt. „Wenn sie Mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen“ (Jo 15, 20). Sie wurden wiederholt gewarnt, und es wurde ihnen von den Hohenpriestern und Vorstehern streng eingeschärft, nicht im Namen Christi zu predigen. Die kleineren Strafen von Seiten ihrer Gegner waren für sie zum Angeld für größere geworden. Endlich sahen sie, wie ihre Brüder nacheinander getötet wurden, weil sie in ihrer Treue zu Christus verharrten. Dennoch hielten sie am Glauben fest, obwohl sie Tag für Tag Opfer ihres Gehorsams werden konnten.
All dies muß beachtet werden, wenn wir von ihren Leiden sprechen. Sie lebten in einer fortgesetzten Prüfung, in einer täglichen Glaubensprobe, die wir kaum verstehen, da wir in ruhigen Zeiten leben. Christus hat zu Seinen Aposteln gesagt: „Der Satan hat verlangt, euch sieben zu dürfen wie Weizen“ (Lk 22, 31). Stellt euch vor, was Sieben bedeutet. Es ist eine ständige Bewegung, ein Hin- und Herschütteln, um den Getreidehaufen in zwei Teile zu scheiden. Das ist die erste Züchtigung, die über die Kirche verhängt wurde. Es traf sie nicht ein plötzlicher Schlag bloß, sie wurde vielmehr Tag für Tag, in allen ihren Gliedern, unter jedem Vorwand von Hoffnung und Furcht, von Drohung und Verführung herausgefordert, Christus zu verlassen. Das war das Los der Martyrer. Der Tod, ihr letztes Leiden, war nichts anderes als die Vollendung eines Lebens, das den Tod zum voraus kostete. Wenn wir beachten, wie qualvoll es ist, in Angst zu leben, wie peinigend und aufreibend es ist, in beständiger Erregung zu leben, mit der Pflicht, mitten darin Ruhe und Festigkeit zu wahren, wie besonders verlockend jede Aussicht auf Ruhe unter solchen Umständen erscheint, dann werden wir eine Ahnung von der Lage eines Christen unter der heidnischen Regierung der Verfolgungszeit haben. Ich lasse zunächst die besondere Schmach und die Verachtung, die das Los der Frühkirche war, und ihre tatsächlichen Entbehrungen außer acht. Wir wollen nur betrachten, wie sie unablässig bedrängt wurden, geschüttelt wie Weizen in einem Sieb. Unter solchen Umständen sind auch die stärksten Herzen in Gefahr zu versagen. Diese können sich zwar gegen gewisse einzelne Leiden stählen oder sich vorbereiten, der einen erwarteten Entscheidung entgegenzutreten; aber sie weichen der unaufhörlichen Belästigung, die die Befürchtung von Verfolgung und das ungestüme Drängen von Freunden ihnen zufügen. Sie seufzen nach Frieden; sie kommen schrittweise zu der Ansicht, daß die Welt nicht so schlecht ist, wie manche Menschen sagen, und daß es möglich ist, überstreng und übergenau zu sein. Sie lernen, den Mantel nach dem Wind zu tragen und zweideutig zu sein. Zuerst fällt einer, dann ein anderer; und solche Beispiele bilden für jene, die immer noch festbleiben, einen erneuten Grund, Zugeständnisse zu machen. Diese natürlich fühlen sich entmutigt und einsam und beginnen an der Richtigkeit ihres eigenen Urteils zu zweifeln, während anderseits die Abgefallenen durch ihre Selbstverteidigung ihre Versucher werden. So wird die Kirche gesiebt. Die Feigen fallen ab, die Treuen bleiben fest, obwohl sie gedrückt und bestürzt sind. Zu diesen letzteren gehören die Martyrer; nicht zufällig, aufs Geratewohl gefaßt, sondern auserlesene und ausgesuchte Opfer, der auserwählte Rest, ein Gott wohlgefälliges Opfer, eine kostbare Gabe nämlich, das feinste Weizenmehl der Kirche. Es sind Menschen, die vor den Folgen ihres Bekenntnisses gewarnt worden sind und viele Möglichkeiten hatten, es aufzugeben; aber sie haben „es getragen, hatten Ausdauer und haben um Christi Namen willen gearbeitet und sind nicht erschlafft“ (Offb 2, 3). Ein solcher war der heilige Stephanus, nicht mit List zu einem Bekenntnis verlockt und (sozusagen) aus dem Hinterhalt erschlagen, sondern er bot seinen Verfolgern mutig die Stirn und machte sich trotz der Umstände, die seinen Tod ahnen ließen, auf ihre Wut gefaßt. Wenn das Martyrium in früheren Zeiten nicht der zufällige und unerwartete Tod derer war, die gerade den christlichen Glauben bekannten, so kann es noch weniger mit den Leiden der Krankheit verglichen werden, mögen diese größer sein oder nicht. Niemand behauptet, daß das bloße Erdulden von Schmerzen etwas Großes ist. Der Mensch muß sein Leiden ertragen. Er kann ihm nicht entweichen, mag er es auch noch so sehr wünschen. Die Teufel ertragen ihre Pein gegen ihren Willen. Martyrer sein heißt aber, den nahenden Sturm fühlen und ihn gern um Christi und um des Wohles der Brüder willen aushalten, weil die Pflicht ruft. Das ist eine Standhaftigkeit, zu deren Entfaltung wir heute keine Gelegenheit haben, obwohl unser Versagen darin zutage treten mag und fortwährend zutage tritt, sooft wir (was nicht selten vorkommt) den geringeren und gewöhnlichen Versuchungen nachgeben.
2. Ferner aber war das Erleiden des Martyriums selbst in mancher Hinsicht außergewöhnlich. Es war eine Todesart, grausam in sich, in aller Öffentlichkeit verhängt und gesteigert durch die wilde Freude eines böswilligen Pöbels. Wenn wir Schmerzen ertragen, können wir friedlich daheim liegen. Wir empfangen den Trost des Mitgefühls und die liebevolle Pflege unserer Umgebung; und wenn wir es wünschen, können wir uns ganz aus dem Blickfeld anderer zurückziehen und leiden, ohne daß ein Augenzeuge uns stört. Die Leiden des Martyriums waren aber meistenteils öffentlich, von jeder Art Beschimpfung und Triumphgeschrei ebenso begleitet wie von Qual. Verbrecher werden zwar ohne das teilnehmende Mitgefühl der Zuschauer hingerichtet. Doch meistens wird auch Verbrechern das Mitleid und eine Art Achtung nicht versagt. Die ersten Christen aber mußten „die Schmach“ nach ihres Meisters Vorbild ertragen. Sie mußten inmitten ihrer Feinde sterben, die sie schmähten und unter Spott aufforderten (wie im Falle Christi), vom Kreuz herabzusteigen. Sie lagen auf keinem behaglichen Ruhebett, sie empfingen keine Linderung von aufmerksamen Freunden. Wenn wir bedenken, wie sehr die niederdrückende Gewalt der Schmerzen von der Einbildung abhängt, so trennt dieser Umstand allein schon ihre Leiden weit von jeglicher Art von Schmerzen in einer Krankheit. Der unsichtbare Gott allein war ihr Tröster. Dies umhüllt den Schauplatz ihrer Leiden mit übernatürlicher Majestät und flößt uns Ehrfurcht ein, wenn wir ihrer gedenken. „Muß ich auch im Tale des Todesschattens wandeln: Ich fürchte kein Unheil; Du bist ja mit mir“ (Ps 22, 4). Ein Martyrium ist in den Augen des Glaubens eine ebenso große Zeit besonderen göttlichen Machterweises, wie wenn ein sichtbares Wunder geschehen wäre. Es ist Gemeinschaft mit Christi Leiden, ein Gedächtnis Seines Todes, ein Schauspiel, das nachgestaltend erfüllt, „was noch mangelt an Seinen Leiden für Seinen Leib, der die Kirche ist“ (Kol 1, 24). Es ist somit in sich eine erhabene Feierlichkeit und eine Art Sakrament, eine Bluttaufe, und es beendet würdig diese lange läuternde Prüfung, die ich soeben als seinen gewöhnlichen Vorläufer in den ersten Zeiten beschrieben habe.
Ich habe nur von den ersten Martyrern gesprochen, weil dieser Festtag mich dazu bewog, obwohl es seither Martyrer unter uns gegeben hat; ferner habe ich es getan, weil doch von der Zeit an, da Könige Schützer der Kirche geworden sind, die Geschichte der Bekenner und Martyrer so verwickelt ist mit den Staatsangelegenheiten, daß wir ihr persönliches Leben nicht so leicht von ihrer Umwelt trennen können. Wir sind auch nicht in der Lage, sie so genau kennenzulernen, obschon diese Schwierigkeit, sie zu beurteilen, das Gedenken an sie bei tatsächlicher Beurteilung mit besonderem Interesse begleiten sollte. Ihre Verflochtenheit mit weltlichen Aufgaben sollte die hohe übernatürliche Vortrefflichkeit dieser wahren Söhne der Kirche nicht nur verringern, vielmehr sie sogar in mancher Hinsicht vermehren.
Zum Schluß. Nachzudenken über Fragen, wie ich sie euch vorgelegt habe, ist nützlich, um uns zu demütigen. „Wir haben im Kampf gegen die Sünde nicht bis aufs Blut widerstanden“ (Hebr 12, 4). Was sind unsere winzigen Leiden, von denen wir so viel Aufhebens machen, gegenüber den Schmerzen und Leiden derer, die ihre Freunde und dann ihr eigenes Leben um Christi willen verloren haben; die dem Ansturm der verschiedenartigsten Versuchungen ausgesetzt waren: der Tücke des Antichrist, den Lockungen der Welt, den Schrecken des Schwertes, der ermüdenden Ungewißheit, und doch nicht erschlafften? Wie hoch überragt ihre Bedrängnis, aber auch ihre Tröstung die unsrige! Nun weiß ich, daß solche Überlegungen sogleich und mit einem weit tieferen Grund durch den Gedanken an die Leiden Christi Selbst geweckt werden; aber gewöhnlich bewegt uns Seine alles übersteigende Heiligkeit und die Tiefe Seines Leidens nicht unmittelbar von ihrer Größe selbst her. Wir fassen sie zusammen in wenigen Worten und sprechen davon ohne Einsicht. Anderseits erheben wir uns in etwa zu ihrem Verständnis, wenn wir uns jener himmlischen Leiter bedienen, auf der Seine Heiligen ihren Weg zu Ihm gegangen sind. Betrachten wir den geringsten Seiner wahren Diener und sehen wir, wie weit irgendeiner von ihnen uns überragt, so lernen wir vor der unaussprechlichen Reinheit Dessen zurückschrecken, der unendlich heiliger als das Heiligste Seiner Geschöpfe ist. Wir lernen mit einem aufrichtigen Herzen bekennen, daß wir selbst der geringsten aller Seiner Erbarmungen unwürdig sind. Auf diese Weise führen uns Seine Martyrer zu Ihm Selbst, dem Haupt der Martyrer und dem König der Heiligen.
Möge uns Gott die Gnade geben, diese Gedanken in unsere Herzen aufzunehmen und die Früchte derselben in unserer Lebensführung zu zeigen! Was sind wir anders als sündiger Staub und Asche, niedrigen Wesen gleich, die zum Himmel emporkriechen, nicht mit einer edlen Opfergabe um Christi willen, sondern ohne Pein, ohne Mühe, inmitten weltlichen Glückes! So ist es; aber Er kann auf den niedrigsten Pfaden des Lebens und in den ruhigsten Zeiten uns retten. Es gibt genug für uns zu tun, weit mehr als wir in unserem gewöhnlichen Lebenslauf erfüllen. Wir wollen uns bemühen, demütiger, treuer, barmherziger, sanftmütiger und enthaltsamer zu sein, als wir es sind. Wir wollen „das Fleisch mit seinen Leidenschaften und Gelüsten ans Kreuz schlagen“ (Gal 5, 24). Das ist freilich ein ärmliches Martyrium; doch Gott nimmt es an um Seines Sohnes willen. Wenn wir in den Himmel gelangen, werden wir trotz alledem sicher die letzten der dort versammelten Heiligen sein; und wenn sie alle unnütze Knechte sind, werden wir fürwahr die unnützesten von allen sein.
25. Juli 1831