Menschliche Verantwortlichkeit

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26. Predigt, Fest des heiligen Apostels Jakobus

„Das Sitzen zu Meiner Rechten oder Linken euch zu geben, steht Mir nicht zu; aber es wird denen gegeben, denen es bereitet ist von Meinem Vater“ (Mt 20, 23)

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Mit diesen Worten, auf die das Fest des hei­ligen Jakobus des Älteren unsern Geist besonders lenkt, erklärt unser Herr feierlich, daß es nicht in Seiner Macht steht, die hohen Plätze Seines König­reiches zu vergeben. Das kann nichts anderes heißen, als daß deren Zuweisung nicht einfach und ausschließlich von Ihm abhängt; denn, daß Er sie tatsächlich am Jüngsten Tag zuteilen wird und daß Er zudem die Verdienstursache einer jeden verlie­henen Gabe ist, erhellt aus der Schrift. Ich sage, Er erklärt mit größter Feierlichkeit, es sei außer Seinem Willen und Seiner freien Wahl noch etwas anderes erforderlich, um den Ehrenplatz an Seinem Throne zu erhalten. So kommen wir ganz natürlich zur Frage, wo denn dieses erhabene Vorrecht hinter­legt ist. Ruht es bei Seinem Vater? Im folgenden spricht Er von Seinem Vater; aber auch Ihm schreibt Er es nicht (unbedingt) zu: „Es wird jenen gegeben, denen es bereitet ist von Meinem Vater.“ Hier ist des Vaters Vorherwissen und Absicht aus­gesprochen, aber nicht Seine Wahl. „Die Er vorher gesehen, die hat Er auch vorherbestimmt“ (Röm 8, 29). Er hält den Lohn bereit und verleiht ihn, aber an wen? Die Antwort bleibt aus, es sei denn, daß sie enthalten ist in den darauffolgenden Worten über die Demütigen: „Wer immer unter euch groß werden will, der sei euer Diener; und wer unter euch der erste sein will, der sei euer Knecht“ (Mt 20, 26. 27).

Einige Parallelstellen mögen die Frage noch weiter beleuchten. In der Schilderung des Jüngsten Ge­richtes sagt unser Herr, daß Er zu denen auf Seiner Rechten sprechen wird: „Kommet, ihr Gesegneten Meines Vaters; besitzet das Reich, welches seit Grundlegung der Welt euch bereitet ist“ (Mt 25, 34). Hier haben wir den gleichen Ausdruck. Wer also sind die Erben, denen das Reich bereitet ist? Er nennt sie ausdrücklich: Jene nämlich, welche die Hungrigen gespeist und die Durstigen getränkt, die Fremden beherbergt, die Nackten bekleidet, die Kranken besucht und zu den Gefangenen hinge­gangen sind um Seinetwillen. Beachtet ferner eine frühere Stelle in demselben Kapitel. An wen richtet Er das Wort: „Geh ein in die Freude deines Herrn“ (Mt 25,21)? An jene, die Er als „gute und getreue Knechte“ loben kann, die „über weniges getreu ge­wesen sind“. Diese beiden Stellen tragen unsere Untersuchung gerade bis zu jenem Punkt vor, den der Vorspruch nahelegt. Sie führen uns weg von dem Gedanken an Gott und Christus und werfen uns zur Lösung der Frage zurück auf die mensch­liche Tätigkeit und Verantwortlichkeit; und hier gebieten sie uns zuletzt Halt, es sei denn, es fänden sich andere Schrifttexte, die uns noch weiterführen. Das wissen wir sicher, daß das Reich jenen bereitet ist, die demütig, hilfsbereit und darauf bedacht sind, ihre Talente zu vermehren. Ihnen fügt ein weiterer Text (z. B.) die geistlich Gesinnten hinzu: „Kein Auge hat es gesehen, was Gott denen be­reitet, die Ihn lieben“ (1 Kor 2, 9). Sind wir damit am Ende unseres Weges? Hängt es nun endgültig von uns ab oder noch von jemand anders, daß wir demütig, hilfsbereit, aufmerksam, gottliebend werden?

In der Beantwortung dieser Frage haben religiöse Menschen seit vielen Jahrhunderten verschiedene Ansichten vertreten. Dies freilich nicht so sehr in den ersten und reinsten Zeiten der Kirche, sondern später, als die Verderbnis sich einzuschleichen be­gann. In den ersten Zeiten herrschte stets die Auf­fassung, daß zwar Gottes Gnade von Anfang bis zu Ende absolut nötig ist – bevor wir glauben, um glauben zu können, desgleichen während wir ge­horchen und recht tun, um gehorchen zu können -, so sehr nötig, daß kein Werk, kein Wort und kein Gedanke Ihm ohne die Gnade wohlgefällig sein kann, daß aber dennoch der Menschengeist eben­falls von Anfang bis zu Ende eine Macht hat, der Gnade zu widerstehen, und daß auf diese Weise (wie der vorausgehende Text nahelegt) die letzte Entscheidung seines Schicksals, ob Rettung oder Verwerfung, ihm überlassen ist, nämlich die Ver­antwortung für sein Tun und die ganze Schuld im Falle der Verwerfung. Es erhob sich aber im fünf­ten Jahrhundert, als Schatten die Kirche zu über­ziehen begannen, ein angesehener Lehrer[1], dessen Name bei uns immer in Ehren stehen muß ob seiner mannigfaltigen Gaben, ob seines Eifers und seines weitreichenden Einflusses, mag man über einige seiner Ansichten auch anders urteilen. In theologischen Schulen kennt man ihn als den ersten, der zwei theologischen Lehren eine Art von Guthei­ßung gegeben hat, die bisher in der Kirche fremd waren, und dem Anschein nach sehr weit ausein­anderlagen, so wie es auch die modernen Systeme heute sind, wo sie sich finden. Die eine ist die Theorie von der Vorherbestimmung (Prädestina­tion), die besagt, daß es entgegen unserem Vor­spruch Gott und Christus sind, von denen die letzte Entscheidung über das Geschick des einzelnen ab­hängt; daß ferner Seine Gnade nicht nur anregt, beeinflußt, vorausgeht und nachfolgt, sondern in der Seele einen neuen Charakter bildet, nicht un­ter Mitwirkung der Seele, sondern unmittelbar durch Gott, und daß sie in einigen wirksam wird, in anderen aber nicht, und zwar ganz nach Seinem Willen, nicht nach dem Willen des einzelnen. Eine dieser Lehren ist, wie gesagt, die der Prädestina­tion; die andere ist die Lehre vom Fegfeuer. Diese letztere beschäftigt mich jetzt nicht; ich erwähne sie nur, weil es eine merkwürdige Tatsache ist, daß derselbe Lehrer, der in allem hohe Verehrung ver­dient, außer wo er von der katholischen Lehre ab­weicht, als erster bestimmte Eigentümlichkeiten von zwei Systemen billigt, die beiden fremd sind, so­wohl der alten Kirche wie der heutigen anglika­nischen Kirche. Mit dieser Bemerkung will ich mich aber von diesem auffallenden Zusammentreffen abwenden und im folgenden ein paar kurze Erläu­terungen geben über die Beweisgründe, auf die sich die Prädestinationslehre stützt.

Es ist ohne Zweifel ein großes Geheimnis, warum der eine an das Evangelium glaubt und der andere es verwirft. Es ist ein vollendetes Geheimnis; wir kommen überhaupt nicht über die Tatsache hinaus und müssen uns damit bescheiden, daß wir darüber nichts wissen. Männer jedoch von forschendem, scharfem und nimmermüdem Geist tragen im In­nern eine Versuchung zur Wißbegierde; sie können nicht zur Ruhe kommen innerhalb der Grenzen der Offenbarung Gottes und wollen sich einen Grund über das Befremdende, das ihnen begegnet, ver­schaffen, wo keiner geoffenbart ist. So folgern sie, daß der Mensch nicht selbst die letzte Ursache sei­nes Glaubens oder Unglaubens sein kann, sonst gäbe es in der Welt außer Gott noch andere Erst­ursachen; müßte doch das gleiche logische Nachden­ken zum Schluß führen, daß Gott der Urheber des Übels ist, oder, es fände den Grund, warum der göttliche Wille den einen erwählt und den andern verwirft, verständlicher als den Grund, warum ein einzelner Mensch das Gute oder Böse wählt oder verwirft. Sehen sie also, wie es ständig im Leben geschieht, daß von zwei Menschen, die gleich in der Erziehung, gleich in den Lebensverhältnissen, die beide getauft und beide im vollen Genuß der kirch­lichen Vorrechte sind, der eine sich als gut, der an­dere sich als böse erweist, dann rufen sie, über das Geheimnis erstaunt, vorschnell aus: „Hier obwaltet Gottes geheime Auserwählung! Gott hat dem einen Leben zugesprochen, den andern hat Er übergan­gen; woher denn sonst dieser Unterschied in der Lebensweise!“ Aber sie hätten sich doch beugen und den Tag abwarten sollen, an dem alle Ge­heimnisse sich lüften. Wiederum nehmen sie an, daß der Wille der Beeinflussung durch den Ver­stand, durch die Gemütsbewegungen und anderes in derselben gleichförmigen Weise unterworfen ist wie die stofflichen Körper den Naturgesetzen; daß der Verstand nur nach einer Richtung handeln kann, wenn sich ihm bestimmte Beweggründe oder gewisse Erkenntnisse darbieten; die Folge davon sei, daß seine Bewegungen sich gesetzmäßig än­dern, je nachdem die Einflüsse von außen her (von der Welt oder von Gott) kommen, und daß infolge­dessen eines jeden Geschick festgelegt sein müsse, sei es durch die Zufälligkeit äußerer Umstände (was aber vernunftwidrig ist) oder dann sicherlich durch eine Bestimmung von seiten Gottes. Das sind ihre Gedankengänge. Nur ist es merkwürdig, daß sie der Vernunft trauen und das in so ausgeprägter Art, wenn man bedenkt, daß es gewöhnlich die Männer sind, welche die menschliche Vernunft als unzuverlässig und verderbt bekämpfen, wenn sie sich einmal gegen ihre Meinungen stellt. Derlei Gründe für eine Beweisführung können wir ohne weiteres übergehen, außer es handle sich um eine philosophische Diskussion; bestimmt übergehen dann, wenn wir als Christen sprechen.

Sodann wollen wir untersuchen, ob es einen Grund aus der Schrift gibt, der die Gedankenreihe der Lehre, wie der Text sie scheinbar nahelegt, aus­einanderreißt. Christus gibt das Reich jenen, denen der Vater es bereitet hat; der Vater aber bereitet es jenen, die Ihn lieben und Ihm dienen. Berechtigt uns wohl die Schrift, diese Ordnung umzustoßen, und rechtfertigt sie den Schluß, daß es Menschen gibt, die durch Seinen unabänderlichen Willen dazu auserwählt sind, Ihn zu lieben? Die betreffenden Gegner behaupten, es sei so.

1. Die Schrift, so nehmen wir an, verspricht die Be­harrlichkeit im Guten ausdrücklich, wenn der Mensch einmal an der Gnade teilhat, gerettet zu werden; so heißt es: „Der, welcher in euch das gute Werk begonnen hat, wird es vollenden bis auf den Tag Jesu Christi“ (Phil 1, 6); daraus schließen sie, daß das Heil des einzelnen letztlich bei Gott liegt und nicht bei ihm selbst. Aber hier möchte ich mich von vornherein wehren gegen die Tatsache, daß man Versprechen und Erklärungen, die ganzen Ge­meinwesen und in allgemeiner Form gegeben wer­den, auf einzelne anwende. Die Frage, um die es geht, ist nicht die, ob Gott ganze Gemeinwesen, wie z. B. die christliche Kirche, ihrem Heil entgegen­führt, sondern ob Er einem Einzelwesen irgendein unfehlbares Versprechen zugesichert hat. Die Ge­genseite behauptet, daß es für die einzelnen eine absolute Auserwählung zum ewigen Leben gibt; dann sollen sie die Schriftstellen aufzählen, in de­nen dem einzelnen die Beharrlichkeit zugesichert ist. Solange sie dieser Forderung nicht genügen können, haben sie nichts erreicht durch die Beru­fung auf einen Text wie den obigen; denn da diese Stellen von der Christenheit als Gemeinwesen re­den, geben sie nur jenes gleiche Trostwort, wie es enthalten ist in anderen allgemeinen Erklärungen, wie z. B. in der Feststellung, daß Gott willens ist, uns zu retten, daß Er mitten unter uns ist und ähn­liches.

Aber wir wollen rein um der Erörterung willen an­nehmen, daß derlei Texte auf die einzelnen an­wendbar sind. Christus sagt z. B., daß niemand „Seine Schafe der Hand Seines Vaters entreißen wird“ (Joh 10, 28). Nun aber möchte ich behaupten, daß hier, wie es ja oft in der Heiligen Schrift und in anderen Werken der Fall ist, eine Bedingung vorausgesetzt ist, nämlich die, daß niemand die Schafe, solange sie Christus „folgen“ und sich in Seiner Hürde halten, daraus entführen kann. Fer­ner: Gott verkündet dem Moses Seinen Namen als einer, der „die Missetat hinwegnimmt und die La­ster und die Sünden und daß Er keineswegs den Schuldigen freisprechen wird“ (Ex 34, 7); aber was müßte man denken, wenn ein Exeget aus dieser Stelle trotzdem den Schluß zöge, daß Gott dem Verstockten die Verzeihung schenkt, während der reuige Sünder sie nicht erhält?

Wiederum: „Gott ist es, der in euch sowohl das Wollen als das Vollbringen wirket nach Seinem Wohlgefallen“ (Phil 2,13). Was ist das anderes als eine Erklärung, daß im gesamten unsere ganze Hei­ligung von Anfang bis zu Ende das Werk Gottes ist? Inwiefern widerspricht dem die Behauptung, daß wir tatsächlich diesem Werk widerstehen kön­nen? Könnte man nicht ebensogut sagen, daß die Heilung von einer Krankheit dem Arzt voll und ganz zuzuschreiben ist, ohne zu leugnen, daß der Kranke die Arznei hätte hartnäckig verweigern können, wenn er es so gewollt hätte; oder daß viel­leicht (selbst wenn dies nicht der Fall war) ein bös­artiges Körpergebrechen vorhanden war, das jeder ärztlichen Kunst spottete? Macht die Möglichkeit eines Fehlschlages die Heilung weniger zum Werk des Arztes, wenn sie doch gelingt?

In Wahrheit brauchen die beiden Lehren, nämlich die von der allüberragenden und allbeherrschen­den Macht der göttlichen Gnade und von des Men­schen Macht zu widerstehen, einander nicht zu widersprechen. Sie liegen auf verschiedenen Ebe­nen und haben sozusagen gar keinen gemeinsamen Maßstab. Offenbar war dies auch die Ansicht des heiligen Paulus, sonst hätte er nicht den Text, um den es sich handelt, mit der Aufforderung einleiten können: „Wirket“, d. h. vollbringet, „euer Heil mit Furcht und Zittern, denn Gott ist es, der in euch einer, der „die Missetat hinwegnimmt und die La­ster und die Sünden und daß Er keineswegs den Schuldigen freisprechen wird“ (Ex 34, 7); aber was müßte man denken, wenn ein Exeget aus dieser Stelle trotzdem den Schluß zöge, daß Gott dem Verstockten die Verzeihung schenkt, während der reuige Sünder sie nicht erhält? Wiederum: „Gott ist es, der in euch sowohl das Wollen als das Vollbringen wirket nach Seinem Wohlgefallen“ (Phil 2,13). Was ist das anderes als eine Erklärung, daß im gesamten unsere ganze Hei­ligung von Anfang bis zu Ende das Werk Gottes ist? Inwiefern widerspricht dem die Behauptung, daß wir tatsächlich diesem Werk widerstehen kön­nen? Könnte man nicht ebensogut sagen, daß die Heilung von einer Krankheit dem Arzt voll und ganz zuzuschreiben ist, ohne zu leugnen, daß der Kranke die Arznei hätte hartnäckig verweigern können, wenn er es so gewollt hätte; oder daß viel­leicht (selbst wenn dies nicht der Fall war) ein bös­artiges Körpergebrechen vorhanden war, das jeder ärztlichen Kunst spottete? Macht die Möglichkeit eines Fehlschlages die Heilung weniger zum Werk des Arztes, wenn sie doch gelingt?

In Wahrheit brauchen die beiden Lehren, nämlich die von der allüberragenden und allbeherrschen­den Macht der göttlichen Gnade und von des Men­schen Macht zu widerstehen, einander nicht zu widersprechen. Sie liegen auf verschiedenen Ebe­nen und haben sozusagen gar keinen gemeinsamen Maßstab. Offenbar war dies auch die Ansicht des heiligen Paulus, sonst hätte er nicht den Text, um den es sich handelt, mit der Aufforderung einleiten können: „Wirket“, d. h. vollbringet, „euer Heil mit Furcht und Zittern, denn Gott ist es, der in euch das Vollbringen wirket“(Phil 2,12.13), d. h. in euch handelt. Weit entfernt zu denken, daß das dem Menschen eigentümliche Wirken sich mit der ständigen göttlichen Hilfe nicht verträgt, bezeich­net er vielmehr das Wissen um diese Hilfe als eine Ermutigung, selbst mitzuwirken. Ich fordere einen Anhänger der Prädestinationslehre heraus, diesen Text zu deuten. Wir hingegen finden keine unüber-windbare Schwierigkeit darin, denn wir sind der Überzeugung, daß er uns eine tiefe Scheu und Ehr­furcht abverlangt, während wir jene Handlungen und Bemühungen vollziehen, die unser Heil sichern sollen, aus dem Glauben heraus, daß Gott in uns und mit uns ist, jeden Gedanken und jede Hand­lung musternd und unterstützend. Wenn der jü­dische Hohepriester am großen Versöhnungstage bei den verschiedenen Versöhnungsakten in der Gegenwart Gottes vor und hinter dem Vorhang sich bewegte, hat er es nicht wohl „mit großer Furcht und mit großem Zittern“ getan, um ja nicht in irgendeinem Punkte seiner Obliegenheit sich zu verfehlen? Und sollten wir im gesegneteren Bunde aus der Erkenntnis, daß Gott Selbst in uns und in all unserem Tun ist, nicht um so mehr uns fürchten? Und dies alles im Gedanken, daß wir immerhin damit unser eigenes Werk zu tun haben und es gut verrichten müssen, sollen wir gerettet werden? Was aber soll es auf der anderen Seite bedeuten, wenn man im Sinne der Prädestinationslehre sagt: „Tut euer Werk sorgsam, denn in Wirklichkeit habt ihr überhaupt kein Werk zu tun“?

Ich sage dies nicht so sehr zum Beweis gegen den Anhänger dieser Lehre, sondern um zu zeigen, daß ein Text, den man zu seinen Gunsten anführen könnte, zufällig (sozusagen) mit einer Ermahnung verquickt sein könnte, die beweist, daß dieser Text und infolgedessen ähnliche andere, wirklich nicht in seinem Sinne erklärt werden können; beweist, daß seine Folgerung daraus: „Das ganze Werk un­serer Rettung ist Gottes Sache, deshalb hat der Mensch mit deren Verwirklichung nichts zu tun“, in der Tat der Folgerung widerspricht, die der Apostel selbst aus seiner Aussage zieht: „Der Mensch muß sich Mühe geben, denn Gott ist in ihm gegenwärtig.“ Es ist ganz sicher, daß ein moderner Anhänger der Prädestinationslehre niemals solch einen Satz hätte schreiben können. Eine andere lehrreiche Stelle dieser Art ist die Aus­sage unseres Herrn, verbunden mit der Erklärung des heiligen Johannes dazu, im sechsten Kapitel sei­nes Evangeliums: „Es sind aber einige unter euch, welche nicht glauben. Denn Jesus wußte von An­fang, welche diejenigen wären, die nicht glaub­ten und wer Ihn verraten würde. Und Er sprach: Darum habe ich euch gesagt: Niemand kann zu Mir kommen, wenn es ihm nicht von Meinem Vater ge­geben ist“ (Joh 6, 65. 66). Hier ist in der einfachen Bedeutung der Worte das Vorherwissen Gottes, welches der Enderfolg des freien Willens ist, mit der Gnadenwahl in Einklang gebracht (obwohl über das Wie nichts gesagt ist). „Die Er vorherge­sehen hat, die hat Er auch vorherbestimmt“ (Röm 8, 29).

Noch eine andere Stelle: „Ich erlangte Barmherzig­keit, weil ich es unwissend tat“; „Darum habe ich Barmherzigkeit erlangt, daß an mir als erstem Christus Jesus Seine ganze Langmut zeige“ (1 Tim 1,13.16). Der Apostel hat offenbar keine Unge­reimtheit gesehen in seiner Botschaft, daß kein Sünder ein Recht hat auf Verzeihung und daß doch jene, die weniger Schuld haben als andere, Verzei­hung erhalten. Wie es scheint, sind ihm diese zwei Lehren ebensowenig als Widersprüche vorge­schwebt wie uns; aber es ist klar, daß ein Prädestinatianer niemals die erste Stelle angeführt hätte, während er bei der zweiten mit Freude verweilt.

2. Ferner gibt es viele Texte folgender Art, die manchmal zugunsten der Prädestinatianer ange­führt werden und einer Erklärung bedürfen; „Gott hat uns gesegnet mit allem geistlichen Segen vom Himmel her in Christo; so wie Er uns in Ihm er­wählt hat vor Grundlegung der Welt, daß wir hei­lig und untadelhaft seien vor Ihm in Liebe. Er hat uns vorherbestimmt zur Kindschaft durch Jesus Christus für Sich nach dem Vorsatz Seines Willens“ (Eph 1, 35). Hier wird sicherlich von einer Aus-erwählung gesprochen und zwar ohne Bezugnahme auf das Verhalten der einzelnen, denen sie zuteil wird. Wiederum: „Aus Gnade seid ihr erlöst wor­den durch den Glauben; und diese Rettung ist nicht aus euch, denn sie ist Gottes Gabe“ (Eph 2, 8); und ähnliche mehr. Aber man muß beachten, daß in solchen Stellen weder vom Himmel noch von der Heiligungsgnade die Rede ist, sondern von dem gegenwärtigen Gnadenvorrecht, das zwar hoch ist und dem Evangelium eigen, jedoch beschränkt bleibt auf das Vorrecht der Wiedergeburt[2]. Diese große Begnadung der Christen schließt natürlich die Mitteilung der heiligmachenden Gnade ein, aber diese Gnade kann geschenkt werden und ist unter gewissen Umständen geschenkt worden ohne die andere. Die Juden empfingen die Gnadenhilfe durch den Geist der Heiligung, aber nicht durch den der Wiedergeburt. Sie waren nicht die Kinder Gottes wie wir, dagegen haben in jedem Zeitalter die „Gerechten aus dem Glauben gelebt“ (Röm 1, 17) und aus ähnlichen Früchten der Heiligung. Wo aber steht geschrieben, daß diese heiligmachende Gnade ohne den freien Willen der einzelnen zur Wirkung kommt? Denn das ist der springende Punkt. Anderseits geben wir gerne zu, daß die Wiedergeburt eine Gnade dieser Art ist; ja wir gestehen, sie geht noch hinaus über alles, was ge­wisse Lehrer von der Heiligung halten. Sie ist eine fest umgrenzte und in sich vollendete Gabe, die nicht nach und nach, sondern auf einmal verliehen wird; wenigstens hat sie im Ritus der Firmung, in dem das in der Taufe Geschenkte besiegelt und gesichert wird, nur eine zweitrangige Bedeutung. Außerdem ist sie ein Zustand, der sich von jedem anderen unterscheidet, weil sie in der Heiligen Gegenwart des Geistes Christi in Seele und Leib besteht[3]; und endlich wird sie diesem oder jenem geschenkt nicht nach einer uns zugänglichen Regel, sondern nach dem unerforschlichen Ratschluß Des­sen, der in Seine Kirche beruft, wen Er will. Aber der Glaube, sowie die anderen Gaben der Heili­gung, werden nicht auf diese Weise geschenkt. Sei­ner Natur nach ist der Glaube unabhängig von der Wiedergeburt und nach der formellen Seite des Evangeliums hin geht er sogar ihr voraus. Ja er ist die Bedingung, die den Gnadenmitteln vorausgeht, welche die Wiedergeburt verleihen und besiegeln, nämlich der Taufe und der Firmung. Daher sagt der heilige Johannes: „Allen aber, die Ihn auf­nahmen, gab Er Macht, Kinder Gottes zu werden, denen nämlich, die an Seinen Namen glauben welche nicht aus dem Geblüte, nicht aus dem Wil­len des Fleisches, noch aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind“ (Jo 1,12.13). Und der heilige Paulus sagt: „Durch den Glauben an Christus seid auch ihr besiegelt worden mit dem verheißenen Heiligen Geist, der das Angeld un­serer Erbschaft ist zur Einlösung des Eigentums“ (Eph 1,13.14).

Es ist deshalb zwecklos, über die Eigentümlichkeit der christlichen Auserwählung weitere Ausführun­gen zu machen, wenn man damit die unwiderruf­lichen Beschlüsse Gottes bezüglich des endgültigen Heiles des einzelnen beweisen will.

3. Endlich gibt es Stellen, die von Gottes Strafver­fügung über des Menschen Herz sprechen; hierin handelt Er ohne Zweifel absolut ganz nach Seinem Willen allein – jedoch nicht zu Beginn Seiner Vorsehung uns gegenüber, sondern am Schluß. So heißt es: „Gott wird den Irrtum auf den Menschen wirken lassen, so daß sie der Lüge glauben“, jedoch nur auf jene, „welche die Liebe der Wahrheit nicht aufgenommen haben, um selig zu werden“ (2 Thess 2,10). Solch unwiderstehliche Einwirkungen machen unsere Verantwortlichkeit nicht überflüssig, sondern setzen sie sogar voraus.

So gibt es also drei Erklärungen: Die Vereinbarkeit der göttlichen Oberhoheit über die Seele mit der Tätigkeit des einzelnen Menschen; den Unterschied zwischen Wiedergeburt, Glaube und Gehorsam; den strafenden Zweck göttlicher Beeinflussung auf das Herz. Lassen wir nun also diesen drei Erklä­rungen ihr volles Gewicht, so müssen wir fragen: Was bleibt dann noch an biblischer Beweiskraft zu Gunsten der Lehre von der Prädestination übrig? Sind wir nicht verpflichtet, das Geheimnis der menschlichen Handlung und Verantwortung so zu lassen, wie wir es vorfinden? Denn es ist so gut ein Geheimnis in sich, wie das Geheimnis, das be­züglich der Natur und der Vollkommenheiten des göttlichen Geistes obwaltet.

Es wird ohne Zweifel unser wahres Glück sein, wenn wir uns folgendermaßen verhalten: daß wir unseren Verstand gebrauchen, um den wahren Sinn der Schrift zu ergründen, nicht um reihenweise Schlußfolgerungen aufzustellen, um die darin ent­haltenen Lehren zu entfalten, nicht neue hinzu­zufügen; um uns zufriedenzugeben mit dem, was uns gesagt ist, nicht unserer Neugierde nachzu­hängen bezüglich der „Geheimnisse“ des Herrn, unseres Gottes.

Ich schließe mit dem folgenden Text, der einerseits eine feierliche Mahnung für uns alle ist, uns aus vollem Herzen zu Gott zu wenden, anderseits mit einer nicht wegzuleugnenden Eindringlichkeit aus­spricht, was der geoffenbarte Wille ist und was wir ihm gegenüber zu denken haben. „So wahr Ich lebe, spricht Gott der Herr! Ich will nicht den Tod des Gottlosen, sondern daß der Gottlose sich bekehre von seinem Wege und lebe! Bekehret euch! Bekeh­ret euch von euren gar bösen Wegen! Denn warum wollet ihr sterben, o Haus Israel?“ (Ez 33,11).


[1] Gemeint ist Augustinus. – A.d.Ü.

[2] Newman beschränkt den Ausdruck „regeneration“ auf die Taufgnade. Er legt hier Gewicht auf den Unterschied zwischen der Taufgnade und der heiligmachenden Gnade außerhalb der Taufe. A.d.Ü.

[3] Im katholischen Sinn der Charakter. – A.d.Ü.