„Den Glauben realisieren“
Am 27. Februar 2021 fand die Messe zu Ehren des heiligen John Henry Newman statt, die alljährlich rund um seinen Geburtstag (21. Februar) in der Kapelle des Palastes der Propaganda Fide gefeiert wird. Dort befindet sich der Altar, auf dem Newman seine Primiz als katholischer Priester gehalten hat.
In diesem Jahr, in dem wir den 220. Jahrestag von Newmans Geburt (1801) begehen, konnte wegen der Pandemie nur eine kleine Gruppe von Gläubigen die Messe besuchen, die vom Internationalen Zentrum der Newman-Freunde organisiert wurde. P. Hermann Geißler FSO, Direktor des Newman-Zentrums, stand der Feier vor. Mit Liedern und Hymnen Newmans trugen drei Schwestern der geistlichen Familie „Das Werk“ zum festlichen Charakter der Messe bei, die für alle Newman-Freunde und für die großen Anliegen der Kirche und der Welt in dieser Zeit der Pandemie dargebracht wurde.
In seiner Predigt erinnerte P. Geißler daran, dass Newman in seiner Zustimmungslehre unter anderem „den Unterschied zwischen der begrifflichen und der wirklichen Zustimmung“ herausgearbeitet hat, und versuchte, die Bedeutung dieser Unterscheidung zu erklären. “Was in diesen beiden Begriffen zum Ausdruck kommt“ – so begann er – “spielte in Newmans Leben eine wichtige Rolle. In jungen Jahren hatte er wohl eine Idee von Gott. Er war, vor allem durch seine Mutter, in die Religion der Bibel eingeführt worden. Aber er besaß keine persönliche Überzeugung, der Glaube prägte nicht sein Leben. Im Alter von fünfzehn Jahren erlebte er seine ‚erste Bekehrung‘, die man auch als Schritt von einer begrifflichen zur wirklichen Zustimmung zu Gott beschreiben kann. Diese Erfahrung ließ ihn im Gedanken Ruhe finden, dass es zwei Wesen gebe, die von einleuchtender Selbstverständlichkeit sind: ‚ich selbst und mein Schöpfer‘. Von diesem Zeitpunkt an war Gott nicht mehr bloß eine Idee – er wurde eine Wirklichkeit, die Wirklichkeit seines Lebens. Dies hatte zur Folge, dass Newman einen neuen Lebensabschnitt begann: Nun ging er seinen Weg als ‚Gläubiger‘ – in der Wahrheit – hin zur Heiligkeit.
“Natürlich müssen wir eine Idee von Gott und von seiner Offenbarung haben” – so P. Geißler weiter – “es ist wichtig, den Glauben zu kennen, seinen Inhalt zu vertiefen und die gesunde Lehre zu verstehen. Aber noch wichtiger ist der zweite Schritt: Noch wichtiger ist es, zu einer wirklichen Zustimmung zu Gott zu gelangen oder, wie Newman sagte, ‚den Glauben zu realisieren‘. Wer diesen Schritt – stets unter dem Einfluss der Gnade – vollzieht, lässt Gott in sein Herz, in seine Gedanken und in seine Gesinnungen, teilt seine Freuden und Leiden mit ihm, lebt in seiner Gegenwart. Er fühlt sich von ihm getragen, geführt und beschützt, auch in Zeiten der Prüfung und der Pandemie”.
Um zu zeigen, wie sich Newman selbst vom Glauben führen ließ, fügte P. Geißler hinzu:
„Er folgte Gott und seinem ‚kindly light’. Dieses Licht ließ ihn seine Berufung als Geistlicher und als Professor in Oxford erkennen. Es drängte ihn, sich nicht nur dem Studium der Schrift, sondern auch der Kirchenväter zu widmen. Es veranlasste ihn, die Oxfordbewegung anzustoßen und zu leiten, um seine Gemeinschaft im Geist der Väter zu erneuern. Dasselbe Licht half ihm, nach einer bewegten inneren Reise im Hafen der katholischen Kirche den Frieden zu finden. Es gab ihm die Kraft, während seines ganzen Lebens auszuharren, auch in Herausforderungen, Leiden und Verleumdungen, und es ließ ihn schließlich zu einem Heiligen werden”.
P. Geißler wandte diese Gedanken Newmans auf unser Leben an: „Wenn wir den Glauben Schritt für Schritt ‚realisieren‘, werden auch wir verwandelt, und zwar in dreifacher Weise: Unser Glaube wird persönlicher und sich in ‚liebevollem Vertrauen‘ (Mutter Julia) ausdrücken, in einer tiefen Freundschaft mit dem Herrn Jesus Christus, in einem bereitwilligen Hinhören auf sein Wort. Zudem werden wir zu Zeugen, denn eine Person, die vom Herrn im Tiefsten ihres Herzens getroffen wurde, wird andere Menschen anrühren; sie spricht von Herz zu Herz: ‚cor ad cor loquitur‘; sie predigt durch ihr Leben, ihr Verhalten, ihre Entscheidungen. Und noch eine dritte Frucht: Wenn wir in der Gegenwart des Herrn leben, werden wir dazu gedrängt, uns nicht leicht mit dem Erreichten zufrieden zu geben. Wir werden nach oben schauen, zu unserem Ziel, zur Heiligkeit. Wer von Gott ergriffen wurde, kann sich nur nach der Gemeinschaft mit ihm sehnen. Jesus sagt im Evangelium: ‚Seid vollkommen, wie auch euer himmlischer Vater vollkommen ist‘ (Mt 5,48)”.
Abschließend lud P. Geißler alle zum Gebet ein, „dass der heilige John Henry Newman uns helfe, den Schatz des Glaubens zu vertiefen und immer besser zu verstehen, ihn aber vor allem zu ‚realisieren‘ und zu leben, um so zu einer tiefen Gemeinschaft mit dem Herrn zu gelangen, der für uns der Weg, die Wahrheit und das Leben ist. Möge er das milde Licht für jeden von uns und für die Gläubigen in der ganzen Welt sein, auch in diesen Zeiten der Pandemie, um in der Freundschaft mit ihm zu bleiben, um Zeugnis von ihm zu geben und um nach der endgültigen Gemeinschaft mit ihm und allen seinen Heiligen zu streben“.
Am Ende der Eucharistiefeier bat P. Geißler um die Gnade Gottes für die Anwesenden und jene, die geistlich verbunden waren, und erteilte allen mit einer Reliquie des heiligen John Henry Newman den Segen.