Mutter Julia – Geistesverwandtschaft mit Newman
„Meine Seele hat einen Bruder gefunden.“
Die geistliche Familie „Das Werk“, die das „International Centre of Newman Friends“ leitet, wurde von Julia Verhaeghe gegründet.
Mutter Julia, geboren am 11. November 1910 in Geluwe (Belgien), wuchs in einer einfachen, kinderreichen Familie auf. Nach dem Ersten Weltkrieg und den schwierigen Nachkriegsjahren war sie ab dem 14. Lebensjahr in verschiedenen Familien in Belgien und in Frankreich tätig, um den Lebensunterhalt ihrer Familie mit zu verdienen. Schon in ihrer Jugend schenkte Gott ihr tiefe innere Erfahrungen, vor allem beim Betrachten der Briefe des Apostels Paulus, der für sie „zu einem geistlichen Führer und einem geliebten Bruder“ wurde. Später wurde sie in der Tiefe ihrer Seele von der Größe der barmherzigen und gerechten Liebe des Herzens Jesu und von der übernatürlichen Schönheit der Kirche ergriffen. Zugleich ließ Gott sie verstehen, in welchem Ausmaß der Glaube bei vielen Menschen geschwächt war und welche Heimsuchungen der Kirche bevorstehen würden.
Nach einer Zeit des Leidens und der Läuterung schenkte sie sich dem Herrn als Opfergabe in einem „Heiligen Bündnis“, um seinen Liebesdurst nach Seelen zu teilen. Am 18. Januar 1938 vernahm ihr geistlicher Begleiter Cyrill Hillewaere, Priester der Diözese Brügge, den inneren Ruf, sich in einem Akt der Hingabe für das „Werk“ zur Verfügung zu stellen. Mutter Julia betrachtete diesen Tag immer als den Gründungstag des „Werkes“. Von diesem Tag an bestand ihr einziges Verlangen darin, dem Herrn und der Kirche zu dienen. Sie schreibt: „Ich fühle mich innerlich gedrängt klarzustellen, dass ich nie die Idee hatte, selbst ein ‚Werk‘ zu gründen… Ich habe nichts gegründet. Seit Jesus Christus die heilige Kirche gegründet hat, ist alles gegründet. Es braucht nur Menschen, die diese Gründung gründlich leben“.
Bald versammelte sich um Mutter Julia ein Kreis junger Frauen, die von ihrem Glauben, ihrem Eifer für die Seelen und ihrer Liebe zur Kirche angezogen wurden. Mutter Julia begleitete die heranwachsende Gemeinschaft mit ihrer mütterlichen Weisheit und einem erstaunlichen Blick für die Zeichen der Zeit. Mit regem Interesse verfolgte sie die geistigen Entwicklungen in der Gesellschaft und in der Kirche. Bis zu ihrem Heimgang am 29. August 1997 war sie bestrebt, ein verborgenes Leben in Verbundenheit mit Christus, dem dornengekrönten König, zu führen und sich als geistliche Mutter für das „Werk“ und die Erneuerung der Kirche hinzugeben. Ihr Grab befindet sich in der Thalbachkirche in Bregenz (Österreich).
In den 60-er Jahren las Mutter Julia eine Newman-Anthologie, die sie im Innersten anrührte. „Meine Seele hat einen Bruder gefunden“, sagte sie nach der Lektüre dieses Buches. Trotz des unterschiedlichen kulturellen Hintergrundes besteht zwischen den Schriften des bekannten englischen Kardinals und den Einsichten von Mutter Julia tatsächlich eine tiefe Geistesverwandtschaft: beide waren getrieben von einer leidenschaftlichen Suche nach der Wahrheit und ihrer praktischen Verwirklichung; beide unterstrichen die Notwendigkeit einer tiefen Bekehrung und Hinwendung zu Gott in Glaube, Hoffnung und Liebe; beide waren erfüllt von der Liebe zur Kirche sowie einer großen Wertschätzung für die Glaubenslehre und die Sakramente; beide besaßen eine heilige Ehrfurcht vor der Tradition und waren zugleich aufgeschlossen für das Neue, das Gottes Geist zu allen Zeiten hervorbringt; beide hatten einen tiefen Einblick in die Zeichen der Zeit und betonten die Wichtigkeit der persönlichen Glaubensüberzeugung; beiden lag die Bildung des Gewissens sowie eine ganzheitliche Formung des Menschen sehr am Herzen.
Ab 1963 breitete sich das „Werk“ auch außerhalb Belgiens aus und fasste Fuß in zahlreichen Diözesen in 10 Ländern Europas sowie in Israel und in Burkina Faso. Neben den Schwestern entwickelten sich Schritt für Schritt auch die anderen Berufungen, die Gott für diese neue geistliche Familie vorgesehen hat: Priester, Diakone und Brüder sowie Familien und Alleinstehende. Von Anfang an wusste sich Mutter Julia berufen, nach dem Wort des Herrn „ut omnes unum sint“ (vgl. Joh 17,21-23) der Einheit in Wahrheit und Liebe zu dienen. Diese Einheit sollte im Zusammenwirken der verschiedenen Berufungen ihren Ausdruck finden, vor allem in der Komplementarität zwischen der Priester- und der Schwesterngemeinschaft. Die gottgeweihten Männer und Frauen verpflichten sich in einem „Heiligen Bündnis“ auf die drei evangelischen Räte. Ihnen schließen sich andere Gläubige (Priester, Eheleute, Alleinstehende) an, die in verschiedener Weise das Charisma teilen, ohne in Gemeinschaft mit den Gottgeweihten zu leben.
Mehrere Jahrzehnte lang war das „Werk“ als „Pia Unio“ anerkannt. Immer wieder wurde von den Verantwortlichen die Frage erwogen, welche definitive juridische Form der Anerkennung für das Charisma am geeignetsten sei. Mutter Julia hatte die innere Gewissheit, dass es sich um eine neue Form des gottgeweihten Lebens handelt. Sie wollte deshalb in Geduld warten, bis die Kirche solche neue Formen anerkenne. Mit dem neuen Codex des kanonischen Rechtes (1983) und dem nach-synodalen Schreiben „Vita consecrata“ (1996) wurde diese Möglichkeit eröffnet. Nach einer sorgfältigen Prüfung durch die Kongregation für die Institute des geweihten Lebens erhielt das „Werk“ im Jahr 1999 die Anerkennung diözesanen Rechtes als eine neue Form des geweihten Lebens. Bereits zwei Jahre später wurde es als „Familie des geweihten Lebens“ päpstlich anerkannt.
Die Zielsetzung dieser neuen geistlichen Familie besteht darin, zum Lob Gottes und zum Heil der Menschen ein Abglanz der Kirche zu sein und ihre Schönheit als Leib Christi und als Familie Gottes zu bezeugen. Die Mitglieder wollen dazu beitragen, dass die Menschen das Geheimnis der Kirche tiefer erfassen und in der Liebe zu ihr angesichts der Zeichen der Zeit gestärkt werden. Sie bemühen sich, in Treue am Werk Christi (vgl. Joh 17,4) mitzuwirken und „das Werk des Glaubens“ (1 Thess 1,3; vgl. Joh 6,29) zu tun. Spirituelle Quellen sind vor allem Eucharistie, Anbetung und Herz-Jesu-Verehrung, Liebe zum Wort Gottes und zur Kirche, Einheit mit Gott und untereinander.
Die Mitglieder sind in verschiedenen pastoralen, sozialen, kulturellen und erzieherischen Bereichen tätig. Sie betreuen unter anderem die Newman-Zentren in Rom, Littlemore, Bregenz und Budapest, die im Anschluss an das erste Newman-Symposium 1975 entstanden sind.
Am 11. November 2001 fasste Kardinal Joseph Ratzinger in seiner Predigt bei der Dankfeier für die päpstliche Anerkennung die Verbundenheit des „Werkes“ mit Newman so zusammen: „Nicht zufällig, denke ich, ist das ‚Werk‘ mit Newman befreundet, mit seinem Wappenspruch ‚Cor ad cor loquitur‘. Mutter Julia hat vom Herzen her gedacht und aus dem Herzen heraus das Herz Jesu erkannt – dieses durchbohrte Herz, das die Quelle des Bundes, die Quelle unseres Lebens ist“.