Rom, im Mai 2011
Liebe Newman-Freunde!
Im vergangenen Jahr erfolgte die lang ersehnte Seligsprechung von John Henry Newman. Was können wir vom neuen Seligen lernen? Warum wurde er selig gesprochen? Worin besteht seine Bedeutung für unsere Zeit?
Auf diese Fragen kann man viele Antworten geben. Bei der heiligen Messe anlässlich der Seligsprechung am 19. September 2010 im Cofton Park in Birmingham sprach Papst Benedikt XVI. in seiner Predigt von Newman als einem vorbildlichen Beter, Erzieher und Seelsorger. Während der Vigilfeier im Hyde Park in London ermutigte er die fast hunderttausend versammelten Menschen, von Newmans Leidenschaft für die Wahrheit zu lernen und durch ein Leben aus dem Glauben für Christus Zeugnis zu geben. Beim Weihnachtsempfang für die Römische Kurie, bei dem der Heilige Vater traditionell die wichtigsten Ereignisse des Jahres kommentiert, erinnerte er noch einmal ausführlich an die Seligsprechung von Kardinal Newman. Um dessen prophetische Bedeutung für die Herausforderungen der Gegenwart zu beleuchten, hob er zwei grundlegende Aspekte hervor.
Der Papst erwähnte zuerst Newmans Bekehrungsweg, vor allem seine erste Bekehrung „die zum Glauben an den lebendigen Gott“. Er sagte darüber: „Bis dahin dachte Newman wie der Durchschnitt der Menschen seiner Zeit und wie auch der Durchschnitt der Menschen von heute, die Gottes Existenz nicht einfach ausschließen, aber sie doch als etwas Unsicheres ansehen, das im eigenen Leben keine wesentliche Rolle spielt. Als das eigentlich Reale er schien ihm wie den Menschen seiner und unserer Zeit das Empirische, das materiell Fassbare. Dies ist die ‚Realität‘, an der man sich orientiert. Das ‚Reale‘ ist das Greifbare, sind die Dinge, die man berechnen und in die Hand nehmen kann. In seiner Bekehrung erkennt Newman, dass es genau umgekehrt ist: dass Gott und die Seele, das geistige Selbstsein des Menschen, das eigentlich Wirkliche sind, worauf es ankommt. Dass sie viel wirklicher sind als die fassbaren Gegenstände. Diese Bekehrung bedeutet eine kopernikanische Wende. Was bisher unwirklich und unwesentlich erschien, erweist sich als das eigentlich Entscheidende. Wo eine solche Bekehrung geschieht, ändert sich nicht eine Theorie, sondern die Grundgestalt des Lebens wird anders. Dieser Bekehrung bedürfen wir alle immer wieder: Dann sind wir auf dem richtigen Weg“ (L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 41. Jhg, n° 1, 7. Januar 2011, pp. 4-5).
Für Newman ist das Leben in Gottes Gegenwart in der Tat die alles entscheidende Mitte des christlichen Lebens. In einer Predigt beschreibt er den „wahren Christen“ deshalb als jemanden, „der einen lebendigen Sinn für Gottes Gegenwart in sich hat. Ein wahrer Christ … ist ein Mensch, der einen solchen starken Glauben an ihn besitzt, dass er in dem Gedanken lebt, Gott sei in ihm gegenwärtig – nicht äußerlich gegenwärtig, nicht bloß in der Natur oder in der Vorsehung, sondern in seinem innersten Herzen oder in seinem Gewissen. Der ist gerechtfertigt, dessen Gewissen von Gott erleuchtet ist, und der infolgedessen immerfort an sich erfährt, dass alle seine Gedanken, alle die ersten Ansätze seines sittlichen Lebens, alle seine Beweggründe und Wünsche offen liegen vor dem Auge Gottes“ (DP V 259f.).
Dieser Aspekt stand auch im Mittelpunkt des Internationalen Symposiums zum Thema „Der Primat Gottes im Leben und in den Schriften des seligen John Henry Newman“, das von unserem Newman-Zentrum am 22. und 23. November 2010 in Zusammenarbeit mit der Theologischen Fakultät der Päpstlichen Universität Gregoriana organisiert wurde. Die Vorträge des Symposiums werden im Herbst in der Zeitschrift Louvain Studies veröffentlicht werden.
In seiner vorweihnachtlichen Rede nannte Benedikt XVI. noch einen zweiten Aspekt, der Newman besonders aktuell erscheinen lässt, nämlich seine Auffassung über das Gewissen. Wie der Papst ausführte, bedeutet das Wort Gewissen im modernen Denken, „dass in Sachen Moral und Religion das Subjektive, das Individuum die letzte Entscheidungsinstanz darstellt…Newmans Auffassung von Gewissen ist dem diametral entgegengesetzt. ‚Gewissen‘ bedeutet für ihn die Wahrheitsfähigkeit des Menschen: die Fähigkeit, gerade in den entscheidenden Bereichen seiner Existenz – Religion und Moral – Wahrheit, die Wahrheit zu erkennen. Das Gewissen, die Fähigkeit des Menschen zum Erkennen der Wahrheit legt ihm damit zugleich die Verpflichtung auf, sich auf den Weg zur Wahrheit zu begeben, nach ihr zu suchen und sich ihr zu unterwerfen, wo er ihr begegnet. Gewissen ist Fähigkeit zur Wahrheit und Gehorsam gegenüber der Wahrheit, die sich dem offenen Herzens suchenden Menschen zeigt. Der Weg der Bekehrungen Newmans ist ein Weg des Gewissens – nicht der sich behauptenden Subjektivität, sondern gerade umgekehrt des Gehorsams gegenüber der Wahrheit, die sich ihm Schritt um Schritt öffnete“ (L’Osservatore Romano).
Beiliegend übermitteln wir Ihnen einen ausführlichen Beitrag zum Thema „Gewissen und Wahrheit in den Schriften des seligen John Henry Newman“. Ausgehend vom Leben und von der Lehre des neuen Seligen werden darin die grundlegenden Linien zu dieser wichtigen Fragestellung dargelegt.
Mit der Seligsprechung wurde Newman bekannter denn je zuvor. Dies zeigt sich auch in den vielfältigen Anliegen und Bitten, die an unser Zentrum herangetragen werden. Um darauf besser eingehen zu können, werden wir unsere Homepage weiter auszubauen und den Rundbrief zukünftig nur mehr in elektronischer Fassung versenden.
Wir freuen uns über das große Interesse, das Sie und viele andere Menschen für Kardinal Newman bezeugen. Wir vertrauen zuversichtlich auf die Hilfe und Fürsprache des neuen Seligen. Zugleich bitten wir Sie, unsere Newmanarbeit auch in Zukunft durch Ihr Gebet und Ihre Spenden zu unterstützen.
Im Namen des Internationalen Zentrums der Newman-Freunde
P. Dr. Hermann Geissler, FSO