9. Predigt (25. Januar 1831)
„Ich bin der geringste unter den Aposteln, nicht wert, Apostel zu heißen, weil ich die Kirche Gottes verfolgt habe. Aber durch die Gnade Gottes bin ich, was ich bin, und Seine Gnade ist in mir nicht unwirksam gewesen; denn ich habe weitaus mehr gearbeitet als alle anderen, das heißt nicht ich, sondern die Gnade Gottes in mir“ (1 Kor 15, 9. 10).
Am heutigen Tag gedenken wir nicht der ganzen Lebensgeschichte des heiligen Paulus noch seines Martyriums, sondern seiner wunderbaren Bekehrung. Jeder Zeitabschnitt seines Lebens ist voll von Wundern und gestattet ein besonderes Gedenken. Das tun wir, sooft wir die Apostelgeschichte oder seine Briefe lesen. Für den heutigen Tag jedoch ist diese eine Tatsache aus seinem Leben zur Erinnerung ausgewählt, die den Anfang seiner wunderbaren Laufbahn bildete. Wir können (so Gott will) nicht ohne Nutzen dem Gedankengang nachspüren, der sich uns damit eröffnet.
Ganz unvergeßlich bleibt uns die Art und Weise seiner Bekehrung. Er zog gerade nach Damaskus mit der Vollmacht der Hohenpriester, die Christen zu ergreifen und nach Jerusalem zu bringen. Er hatte von ihrem ersten Gewaltakt an, dem Martyrium des heiligen Stephanus, sich auf die Seite der Verfolger gestellt und beharrte in vorderster Reihe darauf, eine falsche Richtung zu verfolgen; denn in blinder Wut mühte er sich, das zu vernichten, was in Wirklichkeit das Werk der göttlichen Macht und Weisheit war. Inmitten seiner Raserei wurde er durch ein Wunder zu Boden gestreckt und zu dem Glauben bekehrt, den er verfolgte. Halten wir uns die Umstände vor Augen. Als das Blut des Stephanus vergossen wurde, war Saulus, damals ein junger Mann, dabei, „billigte seinen Tod und verwahrte die Kleider seiner Mörder“ (Apg 22, 20). Zwei Aussagen des Martyrers aus seiner letzten Stunde sind uns erhalten geblieben. Die eine ist das Gebet zu Gott um Verzeihung für seine Mörder, die andere bezeugt, daß er den Himmel offen und Jesus zur rechten Hand Gottes sah. Sein Gebet fand eine wunderbare Erhörung. Stephanus sah seinen Erlöser, und dann wurde die nächstfolgende Erscheinung des nämlichen Erlösers einem Sterblichen gegenüber gerade diesem jungen Mann, eben Saulus, gewährt, der an seinem Mord wie an seiner Fürbitte teilhatte.
Es war tatsächlich seltsam. Welche Gedanken hätten den heiligen Stephanus erfüllt, wenn er davon gewußt hätte! Das Gebet des Gerechten vermag viel. Der erste Märtyrer hatte mit Gottes Hilfe die Macht, den größten Apostel zu erwecken. Diese große Ehrung wurde den Erstlingsfrüchten des Leidensweges zuteil, den die Kirche zu beschreiten begann. So war von Anfang an das Blut der Martyrer der Same der Kirche. Stephanus war der Mann, der wegen der Behauptung getötet wurde, daß das jüdische Volk nicht mehr ausschließlich bevorzugt sein sollte. Aus demselben Grab aber erstand das bevorzugte Werkzeug, durch das Tausende und Zehntausende von Heiden zur Erkenntnis der Wahrheit kamen!
1. Zunächst ist die Bekehrung des heiligen Paulus aus dem Grunde denkwürdig, weil sie ein Triumph über den Feind war. Wer war der auserwählte Prediger der Barmherzigkeit, als Gott die Welt bekehren und den Heiden das Tor zum Glauben öffnen wollte? Es war keiner von den ersten Jüngern Christi. Um Seine Macht zu zeigen, faßte Er mit Seiner Hand mitten in die Schar der Verfolger Seines Sohnes hinein und ergriff den tatkräftigsten unter ihnen. Das Gebet eines sterbenden Mannes ist Unterpfand und Anlaß dieses Triumphes, den Gott Sich Selbst vorbehalten hatte. Seine Kraft wurde in der Schwachheit vollendet. Wie in alten Tagen zerbrach Er das auf Seinem Volke lastende Joch, die Zuchtrute auf seiner Schulter, die Peitsche seines Bedrückers (cf. Jes 9, 4.). Wutschnaubend begab sich Saulus nach Damaskus, aber der allmächtige Herr „kannte seinen Ruheort, sein Gehen und Kommen, und sein Toben wider ihn“; und „weil seine Raserei und sein Trotz gegen Ihn Ihm zu Ohren drang“, daher legte Er ihm, wie dem Sennacherib, nur in einer ganz verschiedenen Weise, „Seinen Ring in die Nase und Seinen Zaum zwischen die Lippen und zwang ihn heim des Weges, den er gekommen war“ (Is 37, 28. 29). Er „hat die Mächte und Gewalten ihrer Beute beraubt und sie offen an den Pranger gestellt“ (Kol 2, 15). Er triumphierte über den Kopf der Schlange, während seine Ferse verwundet wurde. Saulus, der Verfolger, wurde bekehrt und predigte Christus in den Synagogen.
2. An zweiter Stelle können wir die Bekehrung des heiligen Paulus als eine geeignete Einführung in das Amt betrachten, das er nach Gottes Vorsehung auszuführen berufen war. Ich sagte, daß sie ein Triumph über die Feinde Christi war; aber sie war auch ein ausdrucksvolles Sinnbild für die Art des gewöhnlichen göttlichen Verfahrens mit dem Menschengeschlecht. Sind wir nicht alle Empörer gegen Gott und Feinde der Wahrheit? Was waren im besonderen die Heiden in jener Zeit anderes als „entfremdet“ von Ihm, und „verfeindet mit Ihm durch die bösen Werke?“ (Kol 1, 21). Wer also konnte in so geeigneter Weise die Absicht Dessen erfüllen, der kam, Sünder zur Buße zu rufen, wie einer, der sich für den letzten der Apostel hielt und nicht wert war, Apostel genannt zu werden, weil er die Kirche Gottes verfolgt hatte? Als Gott in Seiner grenzenlosen Barmherzigkeit plante, Sich aus den Heiden ein Volk als Gefäß für seine Herrlichkeit zu bilden, wählte Er zuerst das Werkzeug dieses Seines Planes aus wie einen brennenden Balken aus dem Feuer, damit er ein Vorbild für die übrigen sei. Es gibt eine Parallele im Alten Testament zu diesem Weg der Vorsehung. Die Juden wurden ermahnt, auf den Felsen zu blicken, aus dem sie gehauen waren ( cf Jos 51, 1.). Wer war der eigentliche Patriarch ihres Volkes? – Jakob. Auch Abraham war freilich von Gott aus reiner Gnade berufen und gesegnet worden. Doch Abraham hatte einen ungewöhnlichen Glauben. Jakob dagegen, der unmittelbare und eigentliche Patriarch des jüdischen Volkes, ist uns in der Eigenschaft eines Sünders vor Augen gestellt, dem Gott Erbarmen und Rettung gewährte; eines Heimatlosen, dazu auserwählt, der Stammvater eines großen Volkes zu sein. Ich wage es nun nicht, ihn zu beschreiben, wie er wirklich war, sondern wie er uns geschildert wird; nicht als Einzelperson, sondern unter jenem besonderen Gesichtspunkt, unter dem die heilige Geschichte ihm den Platz angewiesen hat, nicht als Individuum, sondern als Typus oder als Gegenstand unserer Belehrung. Da gibt es kein Mißverständnis hinsichtlich der Kennzeichen seines Charakters und Geschickes in der Geschichte. Diese sind absichtlich erwähnt, wie es scheint, um den jüdischen Stolz zu demütigen. Er bekennt von sich selbst, wie später der heilige Paulus: „Ich bin nicht wert des geringsten Deiner Gnadenerweise“ (Gn 32, 10). Jedes Jahr mußten auch die Israeliten ihr Opfer darbringen und vor Gott bekennen, daß „ihr Stammvater ein Syrer war, der dem Untergang nahe stand“ (Dt 26, 5). Man konnte (vernünftigerweise) voraussetzen, daß die Nachkommen wie der Vater sein würden. Denn keiner konnte hoffen, „größer zu sein als ihr Vater Jakob“ (Joh 4, 12), um dessentwillen das Volk gesegnet wurde.
Wenn wir von diesem Gesichtspunkt aus die Vorsehung betrachten, ist der heilige Paulus in ähnlicher Weise der geistige Vater der Heiden; und in der Geschichte seiner Sündenschuld und deren überaus gnadenvollen Vergebung dient er weit mehr als seine Mitapostel zum Beispiel für sein Evangelium, nämlich daß wir alle vor Gericht schuldig sind und nur durch Seine überschwengliche Freigebigkeit gerettet werden können. Nach seinen eigenen Worten „fand er deshalb Barmherzigkeit, damit Jesus Christus an ihm als erstem Seine ganze Langmut zeige. Er sollte ein Vorbild für jene sein, die an Ihn glauben und zum ewigen Leben gelangen“ (1 Tim 1, 16).
3. Außerdem macht sein früheres Leben den heiligen Paulus nach seiner Bekehrung vielleicht zu einem geeigneteren Werkzeug des göttlichen Planes bezüglich der Heiden; er war auch für sie das wirksamste Beispiel. Hier aber ist eine vorsichtige Sprache am Platz. Wir wissen, daß in der Ausbreitung des Evangeliums alle Erfolge des heiligen Paulus in ihrem Ursprung und ihrer Natur nicht auf ihn zurückgingen, sondern „auf die Gnade Gottes, die ihm gegeben war“ (1 Kor 15, 10). Immerhin bedient Sich Gott menschlicher Mittel, und man darf sich in Ehrfurcht die Frage erlauben, worin sie bestanden und warum eher der heilige Paulus als der heilige Jakobus der Jüngere oder der heilige Johannes mit der Bekehrung der Heidenwelt beauftragt wurde. Ohne Zweifel waren seine Geistesgaben und sein Wissen unter den Gründen, die ihn für sein Amt geeignet machten. Darf man nicht auch annehmen, daß etwas in seiner religiösen Vergangenheit war, das ihn besonders dafür heranbildete, „allen alles zu sein?“(1 Kor 9, 22). Nichts ist so schwierig, wie in den Charakter und in die Gefühle von Menschen, die in einer von der unsrigen verschiedenen Religion erzogen worden sind, einzudringen und herauszufinden, wie man am wirksamsten und erfolgreichsten an sie herankommen könne, um sie für die Annahme der göttlichen Wahrheiten zu gewinnen, von denen sie bisher keine Kenntnis hatten. Der heilige Paulus hatte nun an sich selbst den großen Unterschied zwischen dieser Geisteshaltung und jener erfahren, die er als Apostel besaß. Obwohl er sich nie mit heidnischer Sittenlosigkeit und Gottlosigkeit befleckt hatte, hatte er Gedanken und Gefühle gehegt, die von den christlichen weit entfernt waren, und eine Bekehrung an sich erfahren, die den anderen Aposteln (soweit wir wissen) fremd war. Ich teile keineswegs die Meinung, daß es für die spätere Religiosität eines Menschen in irgendeiner Weise günstig ist, wenn er zuerst seine Grundsätze tatsächlich aufgibt, in Unglauben fällt und dann wieder zum religiösen Glauben zurückkehrt. Das gab es beim heiligen Paulus nicht. Er machte keinen vollständigen Wandel in seinen religiösen Grundsätzen durch. Viel weniger noch möchte ich den Gedanken billigen, daß ein früheres unmoralisches Leben etwas anderes ist als ein beständiges, schweres Hindernis und ein Fluch für einen Mann, nachdem er sich zu Gott bekehrt hat. Solche Erwägungen sind, wenn wir vom heiligen Paulus sprechen, nicht am Platz. Ich meine aber, daß seine furchtbare Verwegenheit und Blindheit, seine selbstsichere, eigensinnige und grausame Wut gegen die Anbeter des wahren Messias, dann seine seltsame Bekehrung, sodann der lange Zeitraum bis zu seiner feierlichen Amtseinsetzung, während dessen er sich selbst überlassen war, um in Ruhe über alles Vergangene nachzudenken und das Zukünftige im voraus zu erwägen; daß alles das eine besondere Vorbereitung bildete für das Amt, einer verlorenen und in der Sünde erstorbenen Welt zu predigen. Es gewährte ihm einen umfassenden Einblick einerseits in die Wege und Pläne der Vorsehung und anderseits in die Verheerung der Sünde im Menschenherzen und in die verschiedenen Anschauungen, die den Geist tatsächlich beschäftigen. Es lehrte ihn, an den schwersten Sündern nicht zu verzweifeln, mit Scharfsinn unter verdorbenen Lebensgewohnheiten die Glaubensfunken zu entdecken und in die verschiedenartigen Versuchungen sich einzufühlen, denen die menschliche Natur ausgesetzt ist. Es schuf in ihm eine tiefe Demut, die ihn (wenn ich so sagen darf) dazu befähigte, in Bescheidenheit die Fülle der ihm gewordenen Offenbarungen zu tragen. Dazu gab es ihm die praktische Weisheit, wie man diese für die Bekehrung anderer anwenden könnte, um so mit den Schwachen schwach, mit den Starken stark zu sein, ihre Last zu tragen, sie zu unterweisen und zu ermutigen, „seine Brüder zu stärken“ (Lk 22, 32), mit ihnen sich zu freuen und zu weinen, mit einem Wort, ein irdischer Paraklet, ein Tröster, Helfer und Führer seiner Brüder zu sein. Es verlieh ihm in hohem Maße die Kenntnis des menschlichen Herzens. Diese Eigenschaft kommt in ihrer Fülle Gott allein zu. Er besitzt sie zusammen mit vollkommener Sündenreinheit. In uns kann sie aber schwerlich vorhanden sein ohne eine gewisse eigene betrübliche Erfahrung des sittlich Bösen in uns selbst, während es das Vorrecht der Unschuldigen ist, nicht vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen gegessen zu haben.
4. Endlich, um wegen der letzteren Ausführungen nicht mißverstanden zu werden, muß ich klar über einen bis jetzt nur berührten Punkt der Frage sprechen, nämlich über die religiöse Verfassung des heiligen Paulus vor seiner Bekehrung. Denn trotz meiner vorausgehenden vorsichtigen Ausdrucksweise könnte man immer noch annehmen, daß ich den manchmal vertretenen Grundsatz verteidige: Je größer der Sünder, desto größer der Heilige.
Beachtet nun, ich behaupte nicht, daß die früheren Sünden des heiligen Paulus ihn nachher zu einem geistigeren Christen machten, sondern sie machten ihn nur geeigneter für eine bestimmte Absicht in Gottes Vorsehung, – geeigneter, als Bekehrter andere zu bekehren. Genauso macht Sprachkenntnis (ob auf natürliche oder übernatürliche Weise erworben) einen Menschen für den Beruf eines Missionars geeignet, ohne in irgendeiner Weise ihn zu einem besseren Menschen zu machen. Ich behaupte nur, daß von zwei in Glaube und Heiligkeit gleich fortgeschrittenen Menschen jener mit größerem Erfolg verschiedenartigen Menschen predigen würde, der in seiner eigenen Prüfungszeit, in seinem Kampf mit Fleisch und Geist und Sünde und im Sieg über die Sünde die größere Erfahrung hat. Trotzdem ist es natürlich gleichzeitig auf den ersten Blick unwahrscheinlich, daß jener, der alle diese Wandlungen in seinem Innern durchgemacht hat, im Glauben und Gehorsam dem anderen gleich sein sollte, der von Jugend auf Gott gedient hat.
Zunächst aber wollen wir beachten, daß die Bekehrung des heiligen Paulus tatsächlich sehr weit davon entfernt ist, jene zu ermutigen, die in der Sünde leben, oder irgendeinen Trost solchen zu geben, die in ihr gelebt haben; als ob ihr gegenwärtiger oder früherer Ungehorsam ihnen zum Vorteil sein könnte.
Auf die Frage, warum Saulus, dem Verfolger, Barmherzigkeit erzeigt wurde, gibt er selbst uns den Grund an, von dem wir sicher Gebrauch machen dürfen. „Ich erlangte Gottes Barmherzigkeit, weil ich es unwissend tat, im Unglauben“ (1 Tim 1, 12. 13). Und weshalb war er „geeignet“, das Evangelium zu predigen? „Weil Christus ihn für treu erfunden hat.“ Wir haben hier sogar den Grund noch klarer angegeben als bei Abraham, der besonderer göttlicher Offenbarungen gewürdigt und dem ein Name auf Erden verheißen wurde, weil Gott „wußte, daß er seinen Kindern und seinem Hause nach ihm gebieten werde, den Weg des Herrn zu halten, Recht und Gerechtigkeit zu tun“ (Gn 18,19). Saulus war immer treu in dem Maße, wie er „den Weg des Herrn“ erkannte. Ohne Zweifel sündigte er tief und schwer, als er die Anhänger Christi verfolgte. Hätte er die heiligen Schriften verstanden, er hätte nie so gehandelt. Er hätte sofort Jesus als den verheißenen Erlöser anerkannt wie Simeon und Anna. Er war aber in einer menschlichen Schule erzogen worden und schenkte den Schriften der Menschen mehr Aufmerksamkeit als dem Gotteswort. Jedoch beachtet, er war darin von anderen Feinden Christi verschieden, daß er sein Gewissen rein hielt und entsprechend seiner Erkenntnis Gott stets gehorchte. Gott spricht nämlich in zweierlei Weise zu uns, in unserem Herzen und durch Sein Wort. Die letztere und deutlichere dieser beiden Quellen kannte der heilige Paulus nur wenig; die erstere konnte er nur nach seinem Maße verstehen (denn sie war in ihm), und soweit gehorchte er ihr. Diese innere Stimme war nur schwach, vermischt und verdunkelt mit menschlichen Gefühlen und Überlieferungen. Die Taten, zu denen sein Gewissen ihn antrieb, waren nur teilweise richtig, teilweise jedoch falsch. Und doch unterwarf er sich ihm im Glauben, es spreche aus ihm Gottes Wille, gerade wie er es nachher tat, als er „nicht ungehorsam war“ gegenüber der himmlischen Erscheinung, die ihm kundtat, daß Jesus der Christus war (Apg 26, 19). Vernehmt seine Selbstschilderung: „Ich bin mit allem guten Gewissen vor Gott gewandelt bis auf den heutigen Tag“ (Apg 23, 1). „Nach der strengen Schule unserer Religion lebte ich als Pharisäer“ (Apg 26, 5). „Der Gerechtigkeit nach, die im Gesetz ist, wandelte ich ohne Tadel“ (Phil 3, 6). Hier finden wir keine Gemächlichkeit und keine Genußsucht, keine gewollte Sünde gegen das Licht, ja, ich möchte sagen, keinen Stolz. Obwohl er zweifellos von einem sehr sündhaften Selbstvertrauen in seinem leidenschaftlichen und blinden Haß gegen die Christen beeinflußt und (so gut wie es sogar den besten unter uns zustoßen kann) ohne Zweifel gelegentlichen Versuchungen und Befleckungen durch Stolz ausgesetzt war, so hatte er doch nicht jenen Stolz im Sinn von niedriger, offener Auflehnung gegen Gott, der sich aufbäumt gegen Gottes Oberhoheit und die Vernunft in Gegensatz zu Gott stellt; das alles finden wir nicht in ihm. Er „glaubte in der Tat, vieles Feindliche wider den Namen des Jesus, des Nazareners, tun zu müssen“ (Apg 26, 9). Werft einen Blick auf die Juden und Heiden, die unbekehrt blieben, und ihr werdet den Unterschied zwischen ihnen und ihm sehen. Denkt an die heuchlerischen Pharisäer, die heilig zu sein vorgaben und doch Sünder waren, „voll des Raubes, der Unmäßigkeit und des Unrates“ (Mt 23, 25. 27). Sie glaubten, Jesus sei der Christus, aber sie bekannten Ihn nicht, da „sie das Lob der Menschen mehr liebten als das Lob vor Gott“ (Joh 12, 43). Der heilige Paulus selbst gibt uns ein Bild von ihnen im zweiten Kapitel seines Brief es an die Römer. Kann man es auf seine eigene Vergangenheit anwenden? Wurde der Name Gottes durch ihn unter den Heiden gelästert? – Anderseits suchten die heidnischen Denker nach eitler Weisheit (cf 1 Kor 1, 22.) Es waren Männer, die Religion und praktische Sittlichkeit als Gemeinplätze verachteten, unwürdig der Beschäftigung eines gesitteten und gebildeten Geistes. „Einige spotteten; andere sagten: Wir wollen dich hierüber ein andermal hören“ (Apg 17, 32). Sie brüsteten sich damit, über den Vorurteilen des gemeinen Volkes zu stehen, gleichgültig gegen die in der Welt umlaufenden Überlieferungen über ein anderes Leben zu sein, alle Religionen für gleich wahr und gleich falsch zu halten. Eine solch kalte, aufgeblasene Haltung verdammt unser Herr feierlich in Seinen Worten an die Gemeinde von Laodicea: „O daß du kalt wärest oder warm“ (Offb 3, 15).
So waren also die Pharisäer Übertreter des Gesetzes, die heidnischen Denker und Staatsmänner aber Ungläubige. Beide waren stolz, beide verachteten die Stimme des Gewissens. Wir erkennen daher aus diesem Überblick, für welche Art von Sünde Gott Erbarmen und Verzeihung hat. Er wird zwar alle Sünden, wenn man sie bereut, von uns nehmen; aber Stolz verhärtet das Herz gegen die Buße, und Sinnlichkeit erniedrigt es auf die Stufe des Tieres. Der Heilige Geist wird durch offene Verletzung des Gewissens und durch Verachtung Seiner Autorität ausgelöscht. Wenn aber Menschen in Unkenntnis irren und genau ihren eigenen Begriffen von Recht und Unrecht folgen, obwohl diese falsch sind, so sind solche doch nicht ganz von der Gnade verlassen. Zwar wäre ihre Sünde groß, wenn sie sich wahrere Begriffe hätten verschaffen können. Das war der Fall beim heiligen Paulus. Seine Sünde war größer, weil er sicher vom Alten Testament her eine weit klarere und gottunmittelbarere Lehre erlernen konnte als die Überlieferungen der Pharisäer es waren. Solche Menschen führt Gott zum Licht trotz ihrer Irrtümer im Glauben, wenn sie nur immerfort sich genau an die Weisung halten, die sie als Ausdruck Seines Willens ansehen. Um diese tröstliche Wahrheit uns vor Augen zu führen, wurde der heilige Paulus auf diese Weise von der göttlichen Vorsehung getragen und durch ein Wunder ins Licht gestellt. So sollen wir an einem denkwürdigen Beispiel Seiner Gnade lernen, was Er immer tut, obwohl Er es in gewöhnlichen Fällen nicht so offen der Welt kundgibt.
Wer hat niemals Furcht darüber empfunden, ob er nicht von Christi wahrer Lehre abirre? Er soll das heilige Licht des Gewissens in sich nähren und ihm folgen, wie Saulus es tat. Er soll sorgfältig die Schriften lernen, wie Saulus es nicht tat. Gott, der sogar Erbarmen hatte mit dem Verfolger Seiner Heiligen, wird sicher Seine Gnade über ihn ausgießen und ihn zu der Wahrheit führen, die in Jesus ist.