Religiöse Feigheit

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16. Predigt (25. April 1831)

Fest des heiligen Evangelisten Markus

„Richtet auf die erschlafften Hände und die wankenden Knie“ (Hebr 12, 12).

Die wichtigsten Ereignisse im Leben des heiligen Markus sind diese: -erstens, er war ein Schwestersohn des Barnabas und wurde von diesem und dem heiligen Paulus auf ihrer ersten apostolischen Reise mitgenommen; ferner, er verließ sie nach kurzer Zeit und kehrte nach Jerusalem zurück; dann war er später der Gehilfe des heiligen Petrus in Rom und verfaßte dort sein Evangelium hauptsächlich aus den Berichten, die er von jenem Apostel gehört hatte; endlich wurde er von ihm nach Alexandrien in Ägypten gesandt, wo er eine der eifrigsten und einflußreichsten Gemeinden der Frühzeit gründete.

Die gegensätzlichen Punkte in seinem Leben sind folgende: – zuerst gab er das Werk der Glaubensverbreitung auf, sobald eine Gefahr auftauchte; nachher bewährte er sich nicht nur als gewöhnlicher Christ, sondern als ein sehr entschlossener und gewissenhafter Diener Gottes, denn er gründete und leitete jene überaus eifrige Gemeinde von Alexandrien.

Der Antrieb zu dieser Wandlung ging anscheinend vom Einfluß des heiligen Petrus aus, des geeigneten Bestärkers eines furchtsamen und feig ausweichenden Jüngers.

Die Ermutigung, die wir aus diesen Umständen der Lebensgeschichte des heiligen Markus gewinnen, besteht darin, daß der schwächste unter uns durch Gottes Gnade stark werden kann. Und die Mahnung, die daraus gezogen werden soll, heißt, uns selbst zu mißtrauen; und ferner, schwache Brüder nicht zu verachten oder an ihnen zu verzweifeln, sondern ihre Lasten zu tragen und ihnen vorwärts zu helfen, damit wir sie womöglich heilen können. Nun wollen wir aufmerksam den vorliegenden Gegenstand erwägen.

Manche sind von Natur ungestüm und betriebsam; andere lieben die Ruhe und geben bereitwillig nach. Der allzu Eifrige muß gemäßigt und der Behäbige aufgerüttelt werden. Die Geschichte des Moses gibt uns das Beispiel eines stolzen und hitzigen Geistes, der bis zur äußersten Sanftmut im Benehmen gezähmt wurde. Durch die Größe der in ihm bewirkten Wandlung, derzufolge er aus einem heftigen, wenngleich aufrichtigen Rächer seiner Brüder zum sanftmütigsten Menschen auf Erden wurde, beweist er die Macht des Glaubens, den Einfluß des Geistes auf das Herz. Das Leben des heiligen Markus liefert ein Beispiel der anderen und noch selteneren Wandlung, von Furchtsamkeit zu Kühnheit. Mag es schwer sein, die heftigeren Leidenschaften zu unterwerfen, ich halte es doch für noch schwerer, einen Hang zur Lässigkeit, Feigheit und Verzagtheit zu überwinden. Diese üblen Anlagen klammern sich an einen Menschen und drücken ihn nieder. Es sind kleine Ketten, die ihn auf allen Seiten an die Erde binden, so daß er sich nicht einmal drehen oder eine Anstrengung machen kann aufzustehen. Es scheint, als ob richtige Grundsätze in dem lässigen Gemüt noch eingepflanzt werden müßten, wogegen gewalttätige und eigensinnige Gemüter bereits etwas von der Natur der Festigkeit und des Eifers in sich tragen oder vielmehr etwas, das mit Sorgfalt, Übung und Gottes Segen dazu werden wird. Außerdem haben die Ereignisse des Lebens einen machtvollen Einfluß darauf, die glühende oder selbstverständliche Haltung zu ernüchtern. Enttäuschung, Schmerz, Unruhe und Reife der Jahre bringen eine natürliche Weisheit wie selbstverständlich mit sich; und obwohl eine solche langsame Besserung einen nur schwachen Glauben verrät, dürfen wir doch annehmen, daß der Heilige Geist oft diese Mittel segnet, wenn auch langsam und unmerklich. Anderseits vermehren diese nämlichen Umstände nur die Fehler der Furchtsamen und Unentschlossenen, die mit zunehmenden Jahren behäbiger, selbstsüchtiger und kleinmütiger werden und eine Art Gutheißung ihrer unwürdigen Vorsicht in der Erfahrung mit den Wechselfällen des Lebens finden.

Die Wandlung des heiligen Markus kann daher in ihrem Wesen sogar noch als erstaunlicher denn jene des jüdischen Gesetzgebers angesehen werden. „Durch den Glauben“ wurde „seine Schwäche in Kraft verwandelt“ (2 Kor 12, 9), und er wurde ein Zeichen der herrlichsten und wunderbarsten Gaben der letzten und geistigen Heilsvermittlung.

Beachtet, worin die Schwäche des heiligen Markus bestand. Es gibt ein plötzliches Versagen, das dem Selbstvertrauen entspringt. Das war beim heiligen Petrus der Fall. Er hatte zuviel auf seine bloßen guten Gefühle vertraut; er war ehrlich und aufrichtig und glaubte, er könnte tun, was er wollte. Wie weit sind doch Wollen und Können voneinander entfernt! Wir sind jedoch geneigt, sie zu verwechseln. Ernstes Verlangen nach einem Gegenstand wird manchmal allerdings durch einen plötzlichen Antrieb Schwierigkeiten überwinden und erfolgreich sein ohne vorausgehende Übung. Begeisterung wirkt sicher auf diese Art Wunder; geradeso wie Männer von schwachem Körperbau manchmal aus der äußersten Erregung heraus Schläge von unglaublicher Kraft versetzen können. Bisweilen auch bewegt uns der Eifer dazu, uns anzustrengen; und wenn so die ersten Hindernisse beseitigt sind, schreiten wir wie selbstverständlich mit verhältnismäßig geringer Mühe voran. Diese ganze Beobachtung, die wir von Zeit zu Zeit machen, nötigt uns die bis dahin nicht gekannte Überzeugung auf, daß ein sanguinisches Temperament die Hauptbedingung für Erfolge in irgendeiner Arbeit ist. Und wenn wir in unseren einsamen Gedanken uns vorstellen als Männer, die eine gewichtige Rolle in irgendeinem großen Unternehmen spielen, oder wenn wir tatsächlich andere sich mannhaft benehmen sehen, dann scheint Heldentum so überaus leicht zu sein, daß wir die Möglichkeit unseres Versagens nicht zugeben können, sollten Umstände uns zu irgendeiner schwierigen Aufgabe berufen. Der heilige Petrus glaubte, er könne seine Treue bewahren, weil er es wollte; und er fiel, weil er die Schwierigkeit seines Vorhabens nicht kannte.

Im Leben des heiligen Markus indessen haben wir keinen Erweis von Selbstvertrauen; vielmehr können wir darin den Zustand vieler heutiger Menschen erkennen, die mit einem gewissen Sinn für Religion in ihrem Herzen durchs Leben gehen, die gut erzogen worden sind und die Wahrheit kennen, die eine achtenswerte Haltung bewahren, solange die Gefahr fern ist, aber ihr Bekenntnis entehren, wenn sie in eine unerwartete Prüfung hineingeraten. Seine Mutter war unter den Christen in Jerusalem eine einflußreiche Frau; seiner Mutter Bruder, Barnabas, war ein hervorragender Apostel; zweifellos hatte er eine religiöse Erziehung genossen und, da er Freund der Apostel war und im Schoß der einen Kirche Christi lebte, hatte er die besten Vorbilder der Heiligkeit vor Augen, die klarste Lehre und den vollsten Einfluß der Gnade. Er war vor Versuchung beschützt. Die Zeit kam, da sein wirklicher Fortschritt im Glauben und Gehorsam auf die Probe gestellt werden sollte. Paulus und Barnabas wurden ausgesandt, der Heidenwelt zu predigen; und sie nahmen Markus als Begleiter mit. Zuerst segelten sie nach Cypern, dem Geburtsort des Barnabas: sie zogen auf der Insel umher und fuhren dann zum Festland hinüber. Damals scheinen sie erstmals fremdes Land betreten zu haben. Markus verlor den Mut beim Anblick der Gefahr und kehrte nach Jerusalem zurück.

Wer sieht nun nicht, daß ein solcher Charakter, eine derartige Probe und ein derartiges Versagen nicht nur den Tagen der Apostel, sondern auch anderen Zeiten eigen ist? Oder vielmehr, um uns die Frage genauer zu stellen, wer will leugnen, daß es heutzutage viele in der Kirche gibt, die ihrerseits keinen Beweis dafür haben, daß sie mehr als jenen passiven Glauben und jene passive Tugend besitzen, die sich beim heiligen Markus selbst einer leichten Versuchung gegenüber als unzulänglich herausstellten? Wer trägt nicht einiges Bedenken in seinem Herzen, es möchte in solchen Zeiten wie diesen, da die christliche Standhaftigkeit so wenig erprobt wird, die eigene Treue zur Sache seines Heilandes vielleicht nicht echter oder fester sein als die des Schwestersohnes eines großen Apostels? Wenn die Kirche Frieden hat, wie es lange in diesem Land der Fall war, wenn die öffentliche Ordnung im Gemeinwesen gewahrt wird und die Rechte der Person und des Eigentums gesichert sind, besteht die äußerste Gefahr, wir möchten uns selbst beurteilen nach dem, was außer uns liegt, nicht nach dem, was in uns ist. Wir nehmen es als ausgemacht an, daß wir Christen sind, weil wir richtig unterwiesen wurden und die christlichen Gottesdienste regelmäßig besuchen. Aber weil es ein großes Vorrecht und eine große Pflicht ist, die Mittel der Gnade zu benützen, genügen Lesung und Gebet nicht; noch werden sie uns je zu wirklichen Christen machen. Sie werden uns rechte Erkenntnis und fromme Gefühle geben, aber keinen starken Glauben und keinen entschlossenen Gehorsam. Solche Christen wie Markus werden in einer blühenden Kirche in Überfülle da sein; sollte aber Trübsal kommen, so sind sie dafür unvorbereitet. Sie sind so lange an den äußeren Frieden gewöhnt gewesen, daß sie von der Tatsache der bevorstehenden Gefahr sich nicht überzeugen lassen wollen. Sie bilden sich ein, daß sie ungestört leben und sterben werden. Sie schauen heiteren Sinnes auf die Weltgeschehnisse, wie sie sich ausdrücken, und steigern sich in eine Selbsttäuschung hinein. Dann machen sie Zugeständnisse, um ihre eigenen Aussagen und Wünsche zu erfüllen, und geben die christliche Sache auf, damit die Ungläubigen nicht zu einem offenen Angriff auf sie vorgehen. Manche von ihnen sind Männer von gebildetem und feinerem Geschmack; und diese weichen vor dem rauhen Pilgerleben, wozu sie berufen sind, zurück als vor etwas Ungewöhnlichem und Überspanntem. Sie halten jene, die die Pflichten und Hoffnungen der Kirche klarer sehen, für enthusiastisch, unbedacht und ungezügelt oder verdreht. Um es offen zu sagen, der Verfolgungszustand ist nicht (wie man gewöhnlich sagt) ihr Element; sie können nicht in ihm leben. Wie verschieden sind sie leider vom Apostel, der gelernt hatte, in jeder beliebigen Lage zufrieden zu sein, und der allen alles war. Wenn es also Zeiten gibt, da wir infolge langer Sicherheit so schlaff geworden und versucht sind, die Schätze Ägyptens der Schmach Christi vorzuziehen, was können wir, was sollen wir anderes tun, als Gott bitten, in dieser oder jener Weise die Gesinnung der kirchlichen Gemeinschaft zu prüfen und uns eher hier als im Jenseits zu peinigen? So schrecklich die Aussicht auf Satans zeitweiligen Triumph ist, so grausam die Pferdehufe seiner Reiter sind und so verabscheuungswürdig die Sache ist, für die sie kämpfen, es käme doch besser eine solche Bedrängnis über uns, als daß der Zufluchtsort unseres Erbes das Versteck eines gegen sich selbst nachgiebigen Geistes und die Pflanzstätte der Lauigkeit wäre. Möge Gott lieber Sich erheben und die Erde furchtbar schütteln (obwohl es ein schreckliches Gebet ist), als daß die Unaufrichtigen sich unter uns mischen und Seelen durch die gegenwärtige Behaglichkeit verlorengehen! Möge Er Sich erheben, wenn es keine andere Wahl gibt, und uns mit Seiner süßen Zuchtrute strafen, wie es unsere Herzen am besten ertragen können; möge Er unsere Sünden in dieser Welt ans Licht bringen, damit wir nicht am Tage des Herrn verdammt werden; möge Er uns hier beschämen, durch den Mund Seiner Diener tadeln, dann uns wiederherstellen und uns auf einen besseren Weg zu einer echteren und heiligeren Hoffnung führen! Möge Er uns worfeln, bis die Spreu sauber entfernt ist! Obwohl wir bei solchem Flehen nicht wissen, worum wir bitten, und nur fühlen, daß das Ende selbst gut ist, – können wir doch nicht hinreichend die Furchtbarkeit jener Züchtigung abschätzen, über die wir so sorglos sprechen. Zweifellos ermessen wir nicht und können nicht ermessen die Schrecken der Gerichte des Herrn; wir nehmen die Worte zu billig, doch kann es nicht unrecht sein, sie zu gebrauchen; denn wir sehen, daß sie die beste Opfergabe sind, die wir Gott anbieten können; und daher bitten wir Ihn mittlerweile, uns voranzuführen und uns Kraft zu geben, die Prüfung zu tragen, wie auch immer sie über uns kommt. So können wir für die furchtsamen Ausreißer aus der Sache der Wahrheit Evangelisten werden, die die Worte Christi verbreiten und Sein Leben und Sterben kundtun; die stark aus ihren Leiden sich erheben und die Kirche mit der Zucht und dem Eifer derer aufbauen, die dieses Leben verachten, sofern es nicht zu einem anderen führt.

Endlich wollen wir nicht aus erregter Einbildung und eitler Sehnsucht nach den Herrlichkeiten früherer Tage die Vorteile vergessen, die wir jetzt haben. Es ist nicht nötig, die Drangsale der Apostel zu erleiden, um ihren Glauben zu erlangen. Selbst in den ruhigsten Zeiten können wir zu hoher Heiligkeit emporsteigen, wenn wir die uns gegebenen Mittel anwenden. Prüfungen kommen, wenn wir die Hulderweise vergessen, – sie kommen, um uns an dieselben zu erinnern und uns zu befähigen, ihrer froh zu werden und sie gebührend auszunützen.

aus Deutsche Predigten (DP), Bd II, Schwabenverlag 1950, pp. 198-205.

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