Dr. Brigitte Maria Högemann FSO
Lange bevor John Henry Newman die Stadt Rom zu Gesicht bekam, muss schon der Klang ihres Namens lebhafte Bilder in ihm wachgerufen haben. Nicht nur die antike Stadt mit ihrer dreitausendjährigen Geschichte sowie das Königreich, die Republik und das Kaiserreich mit ihrem Aufstieg und Niedergang wird ihm vor Augen gestanden haben, sondern auch ihr gewaltiger Machtanspruch und ihr einzigartiger Reichtum an heidnischer wie christlicher Kultur. Bereits für den jungen Oxforder Studenten war das antike Rom Gegenstand von besonderem Interesse, und schon damals muss die Stadt für ihn auch das – seit apostolischer Zeit – sichtbare Zentrum der katholischen Kirche versinnbildlicht haben. Dennoch hatte er noch als Universitätsprofessor die Überzeugung, die er sich bereits als Schüler in Ealing angeeignet hatte: nämlich dass der christliche Glaube in Rom mit der Zeit entstellt worden sei und die Stadt ein Werk des Antichristen darstelle. So ließ schon der bloße Name der Stadt selige wie unselige Gedanken in ihm aufsteigen. In einem seiner Werke erzählt er von einem Anglikaner, der mit Blick auf Rom bemerkt: „Der Christ kann sie nur mit den bittersten, mit den zärtlichsten und mit Gedanken der Melancholie betrachten.“[1]
Newmans Verhältnis zu Rom wurde im Laufe seiner persönlichen Entwicklung immer einfacher und klarer. Viermal besuchte er die Ewige Stadt: zum ersten Mal im Alter von etwas mehr als dreißig Jahren, später in seinem vierten und fünften Lebensjahrzehnt und noch einmal mit beinahe achtzig Jahren. Alle Besuche waren biographische Marksteine, anhand derer nachvollzogen werden kann, was ‘Rom‘ für Newman bedeutete und wie sich sein Verhältnis zur Stadt und zur Kirche änderte. Als er Rom im Frühjahr 1833 das erste Mal besuchte, begleitete er einige Freunde auf einer langen Süd-Europa-Reise. Damals war der junge Oxforder Gelehrte bereits ein berühmter Dozent am Oriel College und ein angesehener anglikanischer Geistlicher. Seine Predigten und seine Lehre waren vom Studium der frühen Kirche beeinflusst.
Dreizehn Jahre später, Anfang November 1846, kam Newman nach Rom, um sich auf seine Priesterweihe am Collegio di Propaganda Fide vorzubereiten und sich der Frage nach seiner künftigen Berufung zu stellen. Als er Anfang Dezember 1847 Rom wieder verließ, hatte er klare Pläne. Nach seiner Rückkehr gründete er in Maryvale, unweit von Birmingham, das erste englische Oratorium. Wieder zehn Jahre später, vom 12. Januar bis zum 4. Februar 1856, war Newman als Leiter des Oratoriums in Birmingham und Rektor der Katholischen Universität Dublin in Rom, diesmal „on Oratory business“[2] – in Angelegenheiten des englischen Oratoriums. Die beiden Häuser in Birmingham und London vertraten unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Lebensweise in einem englischen Oratorium, so dass Newman sich gezwungen sah, die Fragen mit dem Heiligen Stuhl zu klären.
Schließlich kam Newman mit 79 Jahren noch einmal nach Rom, und zwar vom 24. April bis zum 4. Juni 1879. Diesmal hatte ihn der neu gewählte Papst gerufen. Am 12. Mai erhielt er bei einer Feier in Kardinal Howards Residenz die offizielle Mitteilung, dass Papst Leo XIII. ihn zum Kardinal erwählt hatte. Seinen Dank dafür brachte er in der berühmten „Biglietto Speech“ zum Ausdruck. Am 15. Mai empfing er von Papst Leo XIII. den roten Kardinalshut.
I. Erste Eindrücke von Rom (1833)
1. Rom ist ein wunderbarer – ein grausamer Ort
Was Rom betrifft, so ist es der wunderbarste Ort der Welt. Es braucht nicht Babylon, um uns ein Beispiel der alten Ungeheuerlichkeiten zu bieten, mit denen unser großer Widersacher gegen den Himmel wetterte – (der sich neuerdings listigerer Methoden bedient) – es war eine Einrichtung der Gottlosigkeit. – Das Kolosseum ist ein echter Turm von Babel – und das ist nur eines einer ganzen Reihe von riesigen Gebäuden, die man mit Verblüffung betrachtet. Wenn man dann ins Museum geht, gelangt man in eine andere Welt – eine Welt von Geschmack und Phantasie. Die Sammlung von Statuen ist schier endlos und wirklich bezaubernd. Der Apollos ist unbeschreiblich – die Abdrücke davon geben einem nicht die geringste Vorstellung, sein Einfluss ist überwältigend. Und die großen Bilder von Raffael (sic), wenn es auch eines wahrhaft geschulten Geschmacks bedarf, um sie wertschätzen zu können, leuchten dem Uneingeweihten in ganz natürlicher Weise ein. Niemals hätte ich mir etwas so Überirdisches ausmalen können, wie den Ausdruck der Gesichter. Ihre seltsame Schlichtheit, ja beinahe Bubenhaftigkeit, macht ihren großen Reiz aus. – Und dann, wieder einen Schritt weiter, muss man Rom als religiösen Schauplatz betrachten – und welch gemischte Gefühle überkommen einen da. Es ist die Stätte des Martyriums und der Gräber von Aposteln und Heiligen – ringsum die Umgebung und die Bauwerke, die sie sahen – und es ist die Stadt, der England das Evangelium verdankt – aber dann auf der anderen Seite diese abergläubischen Praktiken; – oder besser gesagt, was noch viel schlimmer ist, die feste Annahme, dass sie ein wesentlicher Bestandteil des Christentums seien – und dann wieder die gewaltige Schönheit und Pracht der Kirchen – und, wieder im Gegensatz dazu, das Wissen darum, dass die berühmteste von allen (zum Teil) mit dem Verkauf von Ablässen finanziert worden ist – ja, es ist wirklich ein grausamer Ort.[3]
Als Newman am 7. März 1833 diese Zeilen schrieb, befand er sich mit guten Freunden auf einer langen Reise. Erzdiakon Froude hatte ihn eingeladen, ihn und seinen Sohn Richard Hurrel Froude zu begleiten. Letzterer war mit Newman befreundet und benötigte aufgrund seiner schlechten Gesundheit einen Klimawechsel. Am 8. Dezember 1832 waren sie mit einem Militärversorgungsschiff, der „Hermes“, zu den britischen Garnisonen im Mittelmeerraum aufgebrochen. Das Schiff war für den Transport von Passagieren bequem ausgestattet. Sie legten zuerst in Gibraltar an, dann in Malta, wo sie sich einen Monat lang aufhielten. Von Neapel kommend erreichten sie Rom am Abend des 2. März. Sie verbrachten den ganzen März und die erste April woche in der Ewigen Stadt. Von hier aus schrieb Newman zahlreiche Briefe.
In den meisten Briefen fasst er seine vielfältigen Ein drücke zusammen. Mit seinen gegensätzlichen, ja sogar widersprüchlichen Bemerkungen stellt er den Leser jedoch vor ein Rätsel. Dies lässt den komplexen Charakter seiner anfänglichen Empfindungen erkennen. Im obigen Zitat unterscheidet er drei verschiedene Blickwinkel, unter denen er Rom betrachtet. An erster Stelle steht die antike Stadt des Kaiserreiches, die Newman dem Leser nicht so sehr in seiner politischen Macht und Bedeutung vermittelt, sondern eher in seiner „heidnischen Größe“ (249) oder als Sinnbild für das Aufbegehren der gottlosen Menschheit gegen den einen und ewigen Gott – wie es in den Visionen Daniels ge schildert wird. Im Kolosseum sieht er den Turm von Babel und vergleicht so „die verhasste römische Großmacht“ mit Babylon, „dem vierten Tier aus der Vision des Daniel und dem Verfolger der jungen Kirche“ (253). Ein weiterer Auszug aus einem seiner Briefe lässt das noch klarer zu Tage treten:
Der erste Eindruck, den man von Rom gewinnt, ist der des großen Widersachers Gottes: Das vierte Reich – und so gesehen ist der Anblick der Stadt schrecklich … die ungeheuren Ausmaße der Ruinen, der bloße Gedanke an die Zwecke, denen sie geweiht waren, die Arena, in der Ignatius gelitten hat, die Säulen des heidnischen Stolzes, deren Inschriften noch heute zu lesen sind, der siebenarmige Leuchter der Juden, immer noch ganz deutlich auf dem Titusbogen abgebildet. Das alles brandmarkt die Stadt als das verwerfliche Werkzeug von Gottes Zorn und Satans Bosheit (231).
Unter einem zweiten Blickpunkt betrachtet Newman Rom als eine Welt von außergewöhnlicher Schönheit. Entzückt nimmt er die „geistige Schönheit“ (240) Roms wahr. Dabei erwähnt er berühmte Beispiele antiker Skulptur und der Renaissancemalerei,[4] er spricht von den herrlichen Kirchen, den bestaunenswerten Brücken, den Brunnen und anderen herausragenden Werken architektonischer Kunst. So lässt er seine Brieffreunde an einer ganz anderen „frischen Welt“ teilnehmen, einer Welt „von Geschmack und Phantasie“ (240). Er vergleicht zum Beispiel die bezaubernde Anmut der beiden Brunnen auf dem Petersplatz mit „zwei eleganten weiß gekleideten Damen, die in vornehmste silberne Gewänder gehüllt sind“.
In der Mitte ist der höchste Wasserstrahl, umgeben von einer Menge anderer, und alles ist so eingerichtet, dass sie im Fallen nicht einen einzigen Schwall ergeben oder überhaupt wie Wasser aussehen, sondern sich in den allerzartesten und unfassbarsten Sprühnebel verwandeln, der sich rund um die Wasserstrahlen in der Mitte bewegt, so wie das Gefieder eines Schwans oder, wie ich sage, der Schleier des Gewandes einer vornehmen Dame. Dieser schlägt gegen einen Vorsprung und dann gegen einen anderen – so dass sich eine Wirkung daraus ergibt, wie ich sie durch den Vergleich angedeutet habe – denn beschreiben kann ich diese Wirkung nicht. Wenn der Wind über die Wasserstrahlen fährt, ist es wie ein Schleier, der sich hin und her bewegt (264).
Drittens spricht Newman über Rom als einen Ort, der in einzigartiger Weise von der Geschichte und der Gegenwart des Christentums ge prägt ist. Beim Anblick der Gräber der früh christlichen Märtyrer oder des Denkmals von Gregor I., beim dankbaren Gedächtnis des heiligen Augustinus, der den Glauben nach England gebracht hatte, wurde er von heiliger Ehrfurcht erfüllt. Manch anderer Gedanke aber ließ Zorn in ihm aufsteigen. Über die Schönheit des Petersdomes konnte er keine echte Freude empfinden, weil er an den Ablasshandel denken musste. Außerdem gab es so viele Heiligen statuen in den Kirchen und entlang der Straßen, durch die er ging – und nicht nur Statuen, sondern auch davor brennende Kerzen und kniende Menschen. Solche Erfahrungen waren für Newman ein Zeichen von Aberglauben und bestätigten ihn in der „festen Annahme, dass sie als wesentlicher Bestandteil des Christentums galten“ (241). Bei Newmans Betrachtung der Stadt unter religiösem Gesichtspunkt folgten seine Empfindungen, Eindrücke und Gedanken so schnell aufeinander, dass er nicht einmal mehr vollständige Sätze bildete, sondern bloß aneinanderreihte, was ihm in den Sinn kam. Auf diese Weise vermittelte er dem Leser seine „gemischten Gefühle“, die all das wiedergaben, was er sah und wie er es deutete. Aber wie hart manche Urteile beim Anblick der gewaltigen Ruinen auch waren, blieb das Lob auf die Ewige Stadt doch das Grundmotiv in seinen Briefen. „Rom ist die erste aller Städte, und … im Vergleich zu ihr sind alle anderen nichts als Staub, selbst mein teures Oxford eingeschlossen“ (230) – „Rom wird jeden Tag noch wunderbarer“ (231).
Bei seinem ersten Aufenthalt in Rom war Newman nicht nur mit allen Sinnen empfänglich für die Schönheit dieser Stadt. Er litt auch unter dem, was für ihn die antichristlichen Merkmale des „römischen Systems“ waren, wenn nicht sogar das Werk des Antichristen in der römisch-katholischen Kirche.[5]
2. Das geliebte katholische – das verabscheute römisch-katholische System
In Newmans späteren Briefen während seines ersten Romaufenthalts nimmt der dritte Blickpunkt auf die Stadt eine weitere Entwicklung: Rom, das Zentrum der römisch-katholischen Kirche, wird zum Symbol für das „römisch-katholische System“. „Was das römisch-katholische System betrifft, so habe ich es von jeher in solchem Maß verachtet … ,dass ich es selbst jetzt, da ich es sehe, nicht noch mehr verachten kann, auch wenn ich meine Meinung nun noch besser be gründen und lebhafter zu empfinden vermag, – dem katholischen System aber bin ich mehr als je zuvor zugetan“ (273). Er behauptete sogar, das katholische Rom des 19. Jahrhunderts sei „irgendwie“ noch „der letzte der vier großen Widersacher Gottes – Babylon, Persien und Makedonien haben kaum eine Spur zurückgelassen – das letzte und furchtbarste aller Ungeheuer aber liegt im ganzen sichtbaren Ausmaß seiner Plagen offen vor uns, um von uns betrachtet zu werden“ (248-249). Er erklärte:
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass das christliche Rom irgendwie unter einem besonderen Schatten liegt, so wie das heidnische Rom es mit Sicherheit war[6] – obwohl ich hier nichts gesehen habe, was dies bestätigt. Nicht dass man die elende Verdrehung der Wahrheit, wie sie hier gutgeheißen wird, auch nur einen Augenblick lang dulden könnte, aber ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Alles an der Verfassung Roms ist ganz eigentümlich – und der Klerus, wenn er auch einen verschlafenen Eindruck macht, soll ein Kreis durchaus rechtschaffener Männer sein (258).
Typisch für Newman sind das vorsichtige Bedenken und die kluge Zurückhaltung bezüglich des römischen Katholizismus, den er in Rom aus nächster Nähe kennenlernt. Trotz des eifrigen Bemühens, seine gleichsam geerbten negativen Einstellungen und kritischen Ansichten über die römisch-katholische Kirche zu einer Theorie weiter zu entwickeln, kann man erkennen, dass er mit dem Geist und mit dem Gemüt nicht nur für eine mögliche neue Perspektive, sondern auch für das Eingreifen der göttlichen Vorsehung offen blieb. Newman war von seiner Entdeckung fasziniert, dass in vielen römischen Kirchen „das Baumaterial und die Gebäude des Kaiserreiches“ Verwendung fanden,…um religiösen Zwecken zu dienen.
Einige sind buchstäblich antike Bauten – wie das Pantheon und ein Teil der Diokletianischen Thermen, der zu einer Kirche gemacht worden ist. Und alle – St. Peter, der Lateran, usw. – sind mit Marmor ausgekleidet, wie allein die Weltmacht des alten Rom ihn hat zusammentragen können (235).
Diese Beobachtung wurde für Newman geradezu symbolisch für die römisch-katholische Kirche. Er war damals davon überzeugt, dass die römischen Katholiken immer mehr an den Verformungen der großen christlichen Glaubenswahrheiten mitgewirkt hätten und schließlich daran scheitern mussten, weil sie die Glaubenslehre und das christliche Leben der von ihm so geliebten Urkirche vor den Einflüssen der sie umgebenden heidnischen Umwelt nicht genügend geschützt hätten.
Sein Empfinden, Rom, sei es nun das heidnische oder das christliche, das antike Kaiserreich oder die römisch-katholische Kirche, stehe unter dem Zorn Gottes, wurde vom Vorurteil genährt, das er von frühen Jugendjahren an hegte: nämlich von der protestantischen Überzeugung, dass das kirchliche System Roms den Antichristen zum Oberhaupt habe. Einunddreißig Jahre später wird Newman in der Apologia[7] den langwierigen persönlichen Prozess be schreiben, der ihm half, dieses Vorurteil zu überwinden.
Im zweiten Kapitel der überarbeiteten, zweiten Auflage der Apologia (1865) schrieb Newman, dass er seit seinem 15. Lebensjahr (1816) das Dogma als grundlegendes Prinzip der Religion anerkannte und verteidigte. Er glaubte an eine sichtbare Kirche mit Sakramenten, Riten und einer hierarchischen Struktur. Aber genauso fest glaubte er, „der Papst sei der Antichrist„, eine Überzeugung, über die er noch viele Jahre später, an Weihnachten 1824, predigte.
Durch das gründliche Studium der Kirchenväter sowie durch den positiven Einfluss von Richard Hurrel Froude und John Keble wurde Newmans Haltung gegenüber dem Papsttum und Rom mit der Zeit milder. Im Jahr 1822/23 sprach er weniger von der extremen protestantischen Überzeugung, die den Papst als den Antichristen sah. Er vertrat aber immer noch die Auffassung, die römische Kirche sei durch das Konzil von Trient „eine Verbündete der ‚Sache des Antichristen'“; sie sei „eine von den ‚vielen antichristlichen Erscheinungen‘, die der heilige Johannes vorhergesagt hat“, eine „Einrichtung, die etwas ‚wahrhaft Antichristliches‘ oder ‚Unchristliches‘ an sich habe“ (APO, 74-75). „Allmählich“ wurde er der römisch-katholischen Kirche „gegenüber milder gestimmt“, besonders im Blick auf ihr „eifriges Festhalten an der Lehre“ und „an der Vorschrift des Zölibats“ sowie die „treue Überein stim mung mit dem Altertum in so vielen anderen Punkten“. Dennoch hielt er noch 1833 an seinem negativen Urteil über die römische Kirche als Institution fest (APO, 76f.).[8]
Solche Überzeugungen trug Newman in seinem Herzen, als er 1833 mit seinen Freunden durch Italien reiste. Es verwundert deshalb nicht, dass er 1864 in Erinnerung daran schrieb: „Wir hielten uns vom Verkehr mit Katholiken auf der ganzen Reise fern“ (APO, 53). Jeden Kontakt mit dem römisch-katholischen Leben versuchten sie zu vermeiden. Umso wichtiger ist es, jene Anlässe zu erwähnen, bei denen er dann doch mit dem lebendigen römisch-katholischen Glauben in Berührung kam. Dazu gehören seine Anwesenheit bei einer Papstmesse, der Besuch von Kirchen und Heiligtümern, das Zu sammentreffen mit Priestern und das Beobachten einiger junger Seminaristen.
In einem seiner Briefe[9] erzählt er von seiner Teilnahme an einer Papstmesse in Santa Maria sopra Minerva am Fest der Verkündigung des Herrn.[10] Zuerst beschreibt er ausführlich den äußerlichen Prunk, die aufwändigen Altartücher und Messgewänder, die Erscheinung des Papstes und des geistlichen „Hofes von Rom“ mit all den prachtvoll gekleideten Kardinälen und den vielen Priestern mit den vielfältigen und zahlreichen Zeremonien. Dann bemerkt er ganz nebenbei: „Außerdem wurde die Messe gefeiert“. Nach weiteren Be schreibungen und Kommentaren, die wieder auf die Danielvision von den vier Tieren hinauslaufen, sowie nach der feierlichen Erklärung, die römische Kirche habe sich mit dem Widersacher Gottes verbündet, schließt er:
Und doch, als ich weiter zusah, wie das heiligste Sakrament aufgeopfert und wie der Segen gegeben wurde, und als ich mich darauf besann, dass ich in einer Kirche war, da konnte ich nur voller Verwirrung meine eigenen Worte sprechen: „Wie soll ich dich nennen, Licht des weiten Westens oder schändlicher Sitz des Irrtums?“(232)[11] – und ich empfand den vollen Sinn des Gleichnisses vom Unkraut und vom Weizen – wer kann das Licht von der Finsternis scheiden außer das Schöpferwort, das ja ihr Vermischtsein vorhergesagt hat? Und so sehe ich mich gezwungen, die Angelegenheit ruhen zu lassen, da ich keinen Ausweg sehe – Wie soll ich dich nennen? (268).
Zum ersten Mal in seinem Leben war er bei einer heiligen Messe in der römisch-katholischen Kirche anwesend. Es war eine festliche Messe, in der ihn viel Äußerliches vom zentralen Geheimnis der Feier ablenken konnte. Ausführlich beschreibt er, was in ihm Abneigung und Abscheu erregte. Aber nachdem er dieser Empfindung Ausdruck verliehen hat, bleibt ihm nichts anderes übrig, als auch den Weizen zwischen dem Unkraut zu sehen. Er bekennt seine Verwirrung beim Gedanken an den Befehl des Herrn im Gleichnis vom Unkraut und vom Weizen und gesteht, dass es Gott allein zukommt, das Licht von der Finsternis zu scheiden. Er selbst sieht keinen Ausweg aus dieser schwierigen Situation. Er zitiert zwei Zeilen aus seinem ersten Gedicht über Rom. Dabei wiederholt er die ersten Worte und lässt sie zu einem Aufschrei werden, der aus seinem Herzen kommt, zu einer echten, nach Antwort verlangenden Frage an die römische Kirche: „Wie soll ich dich nennen?“
In der Apologia erwähnt er, wie ihn die Kirchen und Heiligtümer in Sizilien sowie die Frömmigkeit der Leute beeindruckt haben. Er erinnert sich an den „Trost“, den er beim Besuch von Kirchen empfangen hat. Besonders prägte sich ihm jenes Ereignis während eines Spaziergangs gegen sechs Uhr morgens ein, als er vom Gesang aus einer einsamen Kirche mitten in einer unbelebten Gegend Siziliens angezogen wurde. Er war erstaunt, zu dieser Tageszeit die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt zu sehen. Er fügte hinzu: „Ohne Zweifel war es die heilige Messe, aber das wusste ich damals noch nicht“ (APO, 76).
Er und seine Begleiter trafen auf ihrer Reise nur einige wenige katholische Geistliche: einen Dekan in Malta, mit dem sie ein Gespräch über die Kirchenväter führten; Abt Santini in Rom, der Newman einige Gregorianische Gesänge gab; und Dr. Wiseman, den damaligen Rektor des Englischen Kollegs. Ihn hörten sie einmal predigen, und Newman suchte ihn vor seiner Abreise noch zweimal auf.
Der einzige andere Priester, den Newman in Italien noch traf, war der Geistliche, der an sein Krankenbett in Sizilien gerufen wurde. Im Blick auf die jungen Seminaristen, die er in Rom sah, bemerkte er: „Ich empfinde eine richtige Zuneigung zu den kleinen Mönchen Roms. Sie sehen so unschuldig und fröhlich aus, diese armen Jungen“. Ein anderes Mal spricht er über die „Kinder aller Länder und Sprachen“, die an der Propaganda Fide „für missionarische Zwecke“ ausgebildet werden (273, 279). Obwohl er selber seit seinem fünfzehnten Lebens jahr überzeugt war, dass der Herr ihn zu einem ehelosen Leben gerufen hatte, um zum Wohl vieler frei zu sein und trotz seiner Achtung vor der apostolischen Regel des Zölibats, an der die römische Kirche festhielt, scheint seine leicht spöttische Bemerkung über „diese armen Jungen“ eine gewisse Kritik in sich zu bergen. Tatsächlich schrieb er wenige Tage später in einem Brief vom „Brauch des erzwungenen Zölibats beim Klerus“ (289). Offensichtlich verstand er das Geschenk der Berufung zum Priestertum oder zum gottgeweihten Leben noch nicht so recht. Eine Person, die mit freiem Willen dem Ruf Gottes folgt, gibt eine Antwort in Glaube, Hoffnung und Liebe, die sie fähig macht, mit der Gnade Gottes in freier Hingabe dem Beispiel Jesu zu folgen, der unter uns ein eheloses, jungfräuliches Leben geführt hat. Damals hätte Newman sich noch nicht ausmalen können, dass er ungefähr dreizehn Jahre später, mit sechsundvierzig Jahren, unter diesen jungen Seminaristen am Kolleg der Propaganda sitzen und die Vor lesungen in Vorbereitung auf das Priestertum hören würde.
Bei seiner Abreise aus der Stadt war er überzeugt, sie nie wieder zu sehen. Einige Tage später fasste er seine Erfahrungen zusammen: Über Rom kann man in Anbetracht der Vermischung von Gut und Böse, die es dort gibt, nur sehr schwer etwas sagen – das heidnische Reich lag unter einem Fluch … und das heutige christliche System dort ist erbärmlich verdorben – aber der Staub der Apostel … liegt dort, und der jetzige Klerus besteht aus ihren Nachfolgern (287).
Und weiter:
Ach, wenn doch Rom nicht Rom wäre; aber es scheint mir so klar wie der helle Tag, dass eine Verbindung mit ihr unmöglich ist. Sie ist die unbarmherzige Kirche – fordert Unmögliches, exkommuniziert uns wegen Ungehorsam und wartet und freut sich, unseren nahenden Sturz zu erleben (284).
Der Ton seines Ausrufs, die Identifikation von Rom und Kirche, die Behauptung, die römische Kirche „exkommuniziere“ die Anglikaner des 19. Jahrhunderts und die Rede von ihren Forderungen, die unmöglich erfüllt werden können: All das zeigt, wie tief Newman an der jahrhundertealten Wunde der Spaltung litt. Weniger als je zuvor war er jetzt im Stande, über die anglikanische Gemeinschaft nachzudenken, ohne sie in ihrer Beziehung zu der Kirche zu sehen, von der sie sich getrennt hatte. Seine Annahme, die katholische Kirche erwarte den unmittelbar bevorstehenden Sturz des Anglikanismus und freue sich ob dieser Aussicht, spricht Bände.
In der Apologia schildert Newman seinen Abschiedsbesuch bei Wiseman. Mit einigen höflichen Worten hatte der Rektor die Hoffnung ausgedrückt, ihn in Rom einmal wieder zu sehen, und er antwortete ihm „mit großem Ernst: Wir haben ein Werk in England zu vollbringen“ (APO 55). Dieses Vorausahnen einer Sendung, die ihn in England er warten würde, nahm im Laufe seiner schwerwiegenden Krankheit in Sizilien den Charakter einer existentiellen Überzeugung an. Newman wusste, dass er nicht sterben werde und rief aus: „Gott hat noch etwas für mich zu tun!“[12] Bei seiner Rückkehr nach Oxford hörte er am 14. Juli 1833 Kebles Predigt On National Apostasy – über den landesweiten Abfall vom Glauben. Er hatte das lebhafte Empfinden, dass dies der Beginn einer Bewegung zur Wiederbelebung des anglikanischen Glaubens werden sollte. Newman erkannte in der Oxford-Bewegung jenes Werk, „von dem ich geträumt hatte, und das ich grundlegend und fruchtbar hielt“ (APO 65). Nur langsam verstand er, dass das, was er für sein eigenes Werk gehalten hatte, nämlich den Anglo-Katholizismus in England zu stärken und die liberalen Kräfte im Bereich der Religion zu bekämpfen, ihm aus den Händen genommen worden war. Schritt für Schritt akzeptierte er, dass Gott sein Werk in ihm vollbringen wollte, indem er ihn in die volle Gemeinschaft mit der katholischen Kirche führte.
II. Daheim in Rom (1846-1847)
1. Freude am katholischen Glauben
Nach langem Suchen und Ringen erkannte Newman, dass die katholische Kirche die wahre Erbin der Urkirche und der Kirchenväter war. Der italienische Passionistenpater Dominik Barberi[13] nahm ihn in Littlemore in die volle Gemeinschaft der katholischen Kirche auf. Von Monsignore Wiseman empfingen Newman, Ambrose St. John, Walker und Oakeley an Allerheiligen 1845 in Oscott das Sakrament der Firmung.[14] Der ehemalige Rektor des Englischen Kollegs in Rom, den Newman 1833 kennengelernt hatte, war inzwischen zum Präsi denten des neuen Oscott-College bei Birmingham und zum Koadjutor des Apostolischen Vikars in Mittelengland ernannt worden. Er stellte Newman und seinen Freunden Old-Oscott, das ehemalige Seminar von Mittelengland, „ohne Miete, Bedingungen, Auflagen oder Haftung irgendwelcher Art“, zur Verfügung (79).
Im Februar 1846 verließ Newman Littlemore, um nach Maryvale zu ziehen, wie er Old-Oscott nun nannte. Hier wollte er ein gemeinschaftliches Leben mit seinen inzwischen katholischen Freunden führen. Maryvale schien ein idealer ‘Zufluchtsort‘ zu sein, um die Berufungsfrage jedes einzelnen zu klären. Die Lage des Hauses war genau richtig, nur wenige Meilen von Birmingham entfernt, damals „eines der Zentren des wachsenden Katholizismus“ (79). Obwohl Newman im Oriel College jahrelang neben der Kapelle gewohnt hatte, wo er von seinem Zimmer aus direkt auf die Orgel empore gelangen konnte, war für ihn Maryvale etwas völlig anderes. Hier wohnte er Wand an Wand mit dem eucharistischen Herrn, der im Tabernakel gegenwärtig war:
Ich schreibe hier im Zimmer gleich neben der Kapelle. Es ist ein so unbegreiflicher Segen, Christus in seiner leiblichen Gegenwart im eigenen Haus zu haben, in den eigenen vier Wänden, dass es alle anderen Privilegien in den Hintergrund treten lässt und jedes Leid zunichte macht, oder zunichte machen sollte; zu wissen, dass er in der Nähe ist – und den Tag hindurch immer wieder zu ihm gehen zu können (129).
Er konnte sogar ein Fenster in der Wand öffnen, um in die Kapelle und auf den Tabernakel zu sehen, ohne sein Zimmer verlassen zu müssen.[15] Das machte ihm die katholische Wahrheit voll bewusst, gemäß der durch die Gnade der wirklichen Gegenwart und Nähe des Herrn alle Freuden und Leiden einen Sinn bekommen.
Ich hätte mir niemals diesen tiefen und unbeschreiblichen Trost vorstellen können, im selben Haus mit ihm zu wohnen, der in den Tagen, als er leibhaft unter uns war, die Kranken ge heilt und seine Jünger ge lehrt hat, wie wir es im Evange lium lesen (131).
Es war Vorsehung, dass Papst Gregor XVI. ihm und der Ge meinschaft ein silbernes Kruzifix und eine Kreuzreliquie sandte.
Kardinal Fransoni, der Präfekt der Propaganda Fide, fügte den beiden kostbaren Geschenken noch einen persönlichen Brief hinzu. Diese Zeichen der Wertschätzung berührten Newman. Aber noch mehr traf ihn der „einzigartige Zufall“, wie er Miss Giberne schrieb,
… dass das Zertifikat der Schenkung der heiligen Reliquie auf den Tag datiert ist, an dem vor fünf Jahren Nr. 90[16] herauskam. – Heute ist der Gedenktag, als die Heads of Houses ihre Kundgebung gegen mich veröffentlichten. – Der Zeitraum bis zu meiner Verurteilung war genauso lang, wie der, den es gebraucht hat, mir Ehre zu erweisen (139).
In der persönlichen Geste des Papstes war Rom gewissermaßen schon nach Maryvale gekommen, noch bevor Newman Maryvale verließ, um nach Rom zu ziehen.
Gut zwei Monate nach Newmans Umzug von Littlemore nach Maryvale, in den Tagen um Ostern 1846, gab Monsignore Wiseman ihm den Rat, für ein Studienjahr ins Kolleg der Propaganda Fide nach Rom zu gehen. Das war, wie Newman sagte, „schlicht meine eigene Angelegen heit“, und doch wollte er „die ganze Sache ihm überlassen“. Die Wahl des Kollegs war die Antwort Wisemans auf Newmans Wunsch, „eine geregelte Aus bildung“ (152) zu erhalten und „eine Zeit lang unter strengem Ge hor sam und Disziplin sein zu können“ (283). Am 1. Juni 1846, dem Vorabend des Dreifaltigkeitssonntags, empfingen John Henry Newman, Ambrose St. John und drei oder vier andere aus ihrem Kreis[17] in der Kapelle von Oscott die niederen Weihen und die Tonsur. An diesem Tag starb Papst Gregor XVI., von dessen Tod sie aber erst am 9. Juni erfuhren. Newman hatte geplant, be reits Ende des Monats mit Wiseman nach Rom zu reisen. Er gab sich damit zufrieden, dass sich die Abreise nun bis in den Herbst verschob.
Bald nachdem Pius IX. am 16. Juni gewählt worden war, sandte auch der neue Papst Newman ein Zeichen der Auf merksamkeit. Am 21. Juli 1846 schrieb Newman an Dalgairns: „Der neue Papst sandte mir seinen Segen, und ich höre, dass er, bevor er ins Konklave ging, zuletzt von Wiseman und mir sprach“ (212).[18] Im August informierte ihn Dr. Wiseman, dass Kardinal Fransoni ihm versichert hatte, die Propaganda sei bereit, allen Wünschen Newmans für das Kolleg zu entsprechen; sie wollten „der Bewegung helfen“ (218). Wiseman schlug vor, dass zwei von Maryvale gehen sollten; Ambrose St. John sollte Newmans Gefährte an der Propaganda sein (219).
2. Die katholische Religion – eine echte Religion
Auf ihrer Reise kamen die beiden nach Paris, wo Newman die Kirche Notre Dame des Victoires aus Dankbarkeit besuchte. Die Bruderschaft vom Unbefleckten Herzen Mariens, die das Bild der Wunderbaren Medaille im Abzeichen führt,[19] hatte nämlich für ihn gebetet. Außerdem verbrachten die beiden fünf Wochen in Mailand, worüber uns Newmans Briefe in lebhafter Weise berichten. Er war als Katholik nun an den Ort gekommen, an dem der heilige Athanasius „den Kaiser im Exil aufsuchte“; an den Bischofssitz und an das Grab des heiligen Ambrosius; an den Ort, wo der heilige Augustinus[20] getauft worden war. Er lernte den heiligen Karl Borromäus[21] kennen und lieben, der in der Kraft Christi „dem furchtbaren Sturm, unter dem das bedauernswerte England fiel“, widerstand und so sein Land vor dem Protestantismus bewahrte. Beinahe jeden Tag machte sich Newman auf den Weg, um an seinem Grab zu beten. Er war überzeugt, dass er in diesem großen Heiligen der Gegenreformation einen Helfer für seine zukünftige Sendung in England finden würde. Durch solche Akte der Verehrung zeigte er, dass die katholische Kirche aller Zeiten seine Heimat geworden war.
Mehr als alles andere beeindruckte die Konvertiten die Gegenwart des Allerheiligsten in allen Kirchen. Die Realpräsenz wurde zu einem der Hauptthemen in Newmans Briefen. In Maryvale hatte er die persönliche Erfahrung gemacht, mit dem Herrn unter einem Dach zu leben. In Mailand weitete sich diese Erfahrung nun aus. Aus der Kenntnis: „Ich lebe mit Gott“ wurde die Gewissheit: „Wo immer ich eine katholische Kirche betrete, erwartet mich der Herr“. Er schrieb:
Wenn wir in der Stadt unterwegs sind, ist es ein so ungeheuer großer Segen, in die Kirchen gehen zu können, – immer sind sie mit großzügiger Freundlichkeit weit geöffnet – ein Anblick von kostbarem Marmor; Reliquiare, Bilder und Kruzifixe für den Passanten, damit er das Seine tut und sich bei ihnen niederkniet – das Allerheiligste ist überall (251).
Bei seiner ersten Italienreise 1833 hatte Newman das Ewige Licht weder bemerkt noch seine Bedeutung gekannt. Auch die heilige Messe hatte er nicht verstanden – oder gab vor, sie nicht zu verstehen. Jetzt aber sah er das Ewige Licht aus allen Kirchen leuchten und ihn einladen:
Diese göttliche Gegenwart ist wirklich etwas über alles Wunderbares. Sie schaut geradezu aus den verschiedenen Kirchen auf die offene Straße hinaus. Bei San Lorenzo haben wir gesehen, wie die Leute von der gegenüberliegenden Straßenseite ihre Hüte abnahmen, als sie vorüber gingen, ohne dass irgendjemand es beobachtet hätte, außer vielleicht eine alte Frau, die an der Kirchentüre sitzt und arbeitet, oder etwas verkauft (252).
Die Gegenwart des Herrn im Tabernakel überwältigte ihn; sie schien ihm „bereit für den Anbeter, noch bevor er eintritt“ (254). In der sichtbaren Allgegenwart des eucharistischen Herrn erkannte Newman auch die Einheit der Kirche:
Es gibt nichts, was mir so sehr die Einheit der Kirche verdeutlicht hat, wie die Gegenwart ihres göttlichen Stifters und Lebenspenders, wo immer ich hingehe. – Alle Orte sind gewissermaßen einer – während die Freunde, die ich in Maryvale zurückgelassen habe, sich dort seiner Gegenwart erfreuen und ihn anbeten, so ist er zugleich hier (254).
In Mailand wurde Newman im Blick auf das Altarsakrament und die Art und Weise, wie die Gläubigen sich davon prägen lassen, noch etwas anderes klar: der katholische Glaube ist nicht nur eine Überzeugung neben anderen, sondern eine echte Religion. Er erkannte, dass der Gang zur Kirche seine Spuren im Leben derer hinterlässt, die ihren Glauben ernst nehmen, seien sie gebildet oder nicht, reich oder arm, alt oder jung. Der Glaube gibt ihrem Leben eine besondere Prägung und lässt ihnen Kathedralen, Kirchen und Kapellen zur Heimat werden. Sie nehmen den Glauben nach dem Gottesdienst mit nach Hause: Die zahlreichen Andachtsformen, die den Tagesablauf prägen, bringen die so gewöhnlichen Begebenheiten des Alltags mit dem Schöpfer, dem Erlöser und dem Heiligmacher, mit der heiligen Dreifaltigkeit, in Verbindung. Viele Zeichen, Symbole und Bilder erinnern sie beständig daran, dass sie in der Gegenwart Gottes leben, sei es in den Kirchen, in den Häusern, am Arbeitsplatz oder bei Freunden. Seit langem hatte Newman erkannt, dass der Glaube vom Hören kommt, von einem immer gewissenhafteren Hinhören auf die Botschaft der Evangelien und die Lehre der Apostel, wie auch auf die Lehre der Kirchenväter. Jetzt wurde ihm noch deutlicher, dass der Glaube im Leben des Christen zu einer wirklichen und verwandelnden Kraft wird, wenn er zu einem gelebten Glauben wird: in erster Linie durch die einfachen Zeichen, mit denen die Gegenwart Christi beantwortet wird – in der heiligen Liturgie, bei der Feier der heiligen Messe und in den anderen Sakramenten und dann – gestärkt durch den eucharistischen Herrn – auch in den Ereignissen des täglichen Lebens.
Newman selbst schrieb:
Ich wusste nicht, was Gottesdienst, objektiv gesehen, wirklich war, bevor ich in die katholische Kirche kam und an ihren Feiern und Andachten teilnahm, so dass ich jetzt dasselbe im Blick auf die Versammlungen in ihren Kathedralen sage (253).
Ergreifend bleibt, wie Newman das Leben in einer katholischen Kathedrale beschreibt:
Eine katholische Kathedrale ist eine eigene Welt, in der jeder seiner eigenen Aufgabe nachgeht, wohlgemerkt einer Aufgabe religiöser Art; Gruppen von Betenden und einzelne – kniend, stehend – einige an Gräbern, andere vor Altären – solche, die der heiligen Messe beiwohnen und kommunizieren – Ströme von Betern, die sich kreuzen und aneinander vorbeiziehen – ein Altar neben dem anderen zum Gottesdienst erleuchtet, wie Sterne am Himmelszelt – oder eine Glocke verkündet, was in den Teilen geschieht, die man nicht sieht – und die ganze Zeit über sind die Kanoniker im Chor (beim Stundengebet) bei der Matutin und Laudes (oder der Vesper), und am Ende steigt Weihrauch vom Hochaltar auf, und …. all das ohne große Aufregung und Anstrengung, außer dem, was jeder gewohnt ist zu tun – jeder widmet sich seiner eigenen Aufgabe und lässt die anderen den ihren nachgehen (253).
In Mailand lernte Newman, was es bedeutet, im römischkatholischen Glauben, in der römisch-katholischen Kirche daheim zu sein. Als er noch Anglikaner war, hatte er in Italien jede Teilnahme an Gottes diensten „geflissentlich gemieden“. Jetzt, dreizehn Jahre später, nahm er an ihnen teil und „trat wirklich in sie ein“ (253).
3. Vorbereitung auf die Priesterweihe und Entdeckung einer römischen Berufung für England
In den Augen Newmans war es eine Fügung, dass er und Ambrose St. John Papst Pius IX. bei der Feier der heiligen Messe an der Confessio sahen,[22] als sie zum ersten Mal nach ihrer Ankunft in Rom die Petersbasilika besuchten:
Am ersten Morgen, an dem ich hier in St. Peter war, gingen wir zum Grab des heiligen Petrus, um das Glaubensbekenntnis zu sprechen – dort war der Papst, der am Grab die Messe las – so dass er der erste war, den ich hier in Rom gesehen habe und zwar ziemlich aus der Nähe. Man sagt, so etwas könnte kaum einmal in hundert Jahren geschehen, denn niemand außer ihm kann dort die heilige Messe feiern. Er ist zufällig (privat) an dem Morgen gegangen – niemand wusste davon (282).
Das Kolleg der Propaganda versuchte nach besten Kräften, ihrem angesehenen Studenten und dessen Freund Achtung zu erweisen und Heimat zu bieten. Newman beschreibt in seinen Briefen, welche Aufmerksamkeit ihnen von Kardinal Fransoni, Monsignore Brunelli, dem Sekretär der Propaganda, und P. Bresciani, dem Rektor des Kollegs, entgegengebracht wurde, indem sie „alles den englischen Gewohnheiten anpassten“ (270), damit die Konvertiten sich daheim fühlten.
Wir sind mit Sicherheit ganz herrlich untergebracht … , noch viel besser als in England. Sie haben das Ende des Korridors mit einer Glaswand abgetrennt und so zwei einander gegenüberliegende Räume miteinander verbunden, wobei der dazwischen liegende Teil des Ganges zugleich als Durch gangsraum und als Empfangsraum für Besucher dient (269).
In einigen seiner Briefe spricht Newman von den „sehr ansehnlichen Zimmern“ (268). Alles schien neu zu sein: die Möbel, die Tapeten, die Vorhänge, das Bettzeug, selbst die Knieschemel, die Schreibtische und die Kruzifixe. Ein anderes Mal kann der Leser beinahe Newmans Schmunzeln spüren, wenn er davon spricht, dass sie Vorhänge um das Bett haben – in England eine absurde Vorstellung (273). „Zu unserer großen Bestürzung werden wir behandelt, als wären wir Prinzen“ (272) oder „wie Wachs puppen oder Schmuck stücke am Kaminsims“ (273). Er beteuert, dass sie „alle unsere Wünsche auf fast provozierende Art und Weise im voraus erahnen“ und fügt humorvoll hinzu: „so dass wir uns heute gezwungen sahen, einige Kleinigkeiten in unseren Hosentaschen hereinzuschmuggeln“ (269). Zusätzlich zu den sehr ausgiebigen Mahl zeiten wird ihnen abends Tee serviert und werden Öfen in ihre Zimmer gestellt (276). Gleich am ersten Tag erhalten sie einen „Schlüssel zur Bibliothek“ (269).
Newman und Ambrose St. John waren sehr gerührt, als sie entdeckten, dass ihre Fenster von der Propaganda zur Kirche von Sant’Andrea delle Fratte hinausgingen, wo Unsere Liebe Frau am 20. Januar 1842 Alphonse Ratisbonne erschienen war (269).[23] Diesen Umstand erwähnte er mehrere Male in seinen Briefen. Bereits in Littlemore wurde ihm bewusst, dass sein Leben in Oxford unter dem Schutz der seligen Jungfrau gestanden hatte; so nannte er Old Oscott Maryvale (Mariental); auch die wundertätige Medaille und eine Gebets initiative für ihn in Paris spielten eine Rolle auf seinem Weg in die katholische Kirche. Diese Nähe zu dem Marienerscheinungsort war für ihn ein Zeichen der liebenden Vorsehung Gottes. Das Gemälde von Marie Giberne[24] zeugt vom Glauben an den Schutz der Gottesmutter. Sie malte Newman und St. John sitzend in einem ihrer Zimmer im Collegio mit Unserer Lieben Frau von der wundertätigen Medaille im Hintergrund, so als ob sie über ihnen wacht.[25]
Newman war berührt von der Herzlichkeit, die ihm in Rom entgegengebracht wurde. Die einzige Sorge für ihn bestand darin, dass er seinen neuen Freunden doch im letzten fremd bleiben könnte. Aber solche Gedanken führten ihn noch näher zu Gott, der ihn kannte, liebte und über seinen Wegen wachte. So konnte er schreiben:
Es ist so wunderbar, dass ich hier in der Propaganda bin – es ist wie im Traum – und doch so ruhig, so sicher, so glücklich – als ob ich immer hier gewesen wäre – als ob es im Laufe meines Lebens niemals einen schmerzlichen Bruch oder eine Unbeständigkeit gegeben hätte – ja es ist sogar ruhiger und glücklicher als zuvor. Ich war glücklich in Oriel, glücklicher in Littlemore, genauso glücklich oder noch glücklicher war ich in Maryvale – und am glücklichsten bin ich hier. Ob ich nun verschiedene Zeiten in rechter Weise vergleichen kann oder nicht, wie glücklich ist nur schon der Umstand, dass ich immer den Lebensstand, in dem ich mich gerade befinde, als den glücklichsten von allen betrachtete. Es kann keinen besseren Beweis dafür geben, wie gesegnet ich bin (294).
Der herausragende Theologe, Denker und Prediger, der schon viele Bücher geschrieben und die Oxford-Bewegung geleitet hatte, lebte jetzt mit seinem gelehrten Freund Ambrose St. John mitten unter sehr jungen ausländischen Seminaristen und neu geweihten Priestern, die zum größten Teil aus Missionsländern kamen. Unter den 120 bis 150 dort wohnenden Studenten (277, 296) wurden 32 Sprachen gesprochen. Newman erwähnte „Inder, Afrikaner, Babylonier, Schotten und Amerikaner“ (272), ein anderes Mal „Chinesen…, Ägypter, Albanesen, Deutsche, Iren“ (283). Er und Ambrose St. John waren die einzigen englischen Studenten.
In einem frühen Brief drückte er seine Enttäuschung darüber aus, dass er in den damaligen Theologischen Fakultäten Italiens wenig Theologie und Philosophie finden konnte. Er hoffte, der Papst würde etwas unternehmen, weil Thomas von Aquin zwar als Heiliger geliebt und verehrt, aber nicht als Gelehrter betrachtet und studiert wurde. Newman zitierte in diesem Kontext einen Jesuiten, der schrieb: „Sie haben keine Philosophie. Fakten sind die großen Dinge, sonst nichts“ (279).
Dennoch gingen Newman und St. John bis Weihnachten 1846 freiwillig („Auch das war ganz uns überlassen“) mit den Seminaristen zu drei Vorlesungen an fünf Tagen in der Woche, „zwei in Dogmatik, eine in Moral“ (273). Die Professoren am Kolleg der Propaganda erwarteten eigentlich von Anfang an, dass sie nicht an den Unterrichts einheiten teilnehmen würden. In einem Brief an einen aus seiner Gemeinschaft in Maryvale, der sich für das Studium am Collegio interessiert zeigte, erklärte Newman, warum ein Student mit fertigem Ab schluss in seiner Zeit nicht für die Propaganda in Frage kam. In der Methode und im Inhalt war der Unterricht nämlich ganz auf junge Anfänger abgestimmt. „Die Dozenten sind alles Männer, die ihrem Fach gewachsen sind, aber der Kurs dauert vier Jahre“, und es braucht „etliche Vorlesungen, um ein paar langweilige Seiten durchzukauen“ – das alles ist notwendig für Jungen, aber nicht für erwachsene Männer.“[26]
Die zwei Männer aus Oxford ersetzten die Vorlesungen durch persönliches Studium und überlegten, ob sie ein Doktorat an der Propaganda in Angriff nehmen sollten. Newman selbst betrachtete es als seine erste Pflicht, sein theologisches Gedankengut, besonders über Glaube und Vernunft, bekannt zu machen. Dieses Denken hatte ihn zur Kirche geführt und schien ihm ganz und gar katholisch zu sein. Er verstand aber, dass er an einzelnen Stellen die Ausdrucksweise ändern musste, um das Verständnis in einem katholischen Kontext und einer anders gearteten akademischen Tradition zu erleichtern. Deshalb schrieb er eine Einführung für die französische Übersetzung von sechs seiner Oxford University Sermons, die katholischen Lesern Hintergrund wissen zu seinem Denken über Glaube und Vernunft vermitteln sollte.[27] Vor Anfang März übersetzte er vier der „Abhandlungen“ aus seinem Athanasius ins Lateinische (60),[28] um der Kritik entgegen zu wirken, die sich in Rom breit machte, nämlich dass ein „bloßer Theoretiker“ den Essay on Development (60) geschrieben hätte. Diese Abhandlungen waren ein Beweis dafür, dass er die Schriften der Väter wirklich „studiert, analysiert, geordnet und nummeriert“ hatte, wie es sich für einen ernstzunehmenden Denker gehört.[29]
Auf Einladung des Rektors, P. Passaglia, nahmen Newman und St. John an den monatlichen Gesprächen am Collegio Romano teil (61). Regelmäßig gingen sie zu den theologischen Treffen am Englischen Kolleg, zu denen sie der Rektor, Dr. Grant, eingeladen hatte (57). Newman freute sich auch, einige seiner Gedanken zu Glaube und Vernunft und zur Entwicklung der Glaubenslehre mit dem angesehenen P. Perrone[30] besprechen zu können.
Die beiden Konvertiten nahmen sich darüber hinaus viel Zeit, um zu erkennen, in welcher Weise ihre Gemeinschaft der Kirche in England dienen sollte. Dr. Wiseman hatte ihnen schon in Maryvale geraten, die Oratorianerberufung in Betracht zu ziehen. Bald nach ihrer Ankunft in Rom nahmen sie Verbindung mit dem Oratorium auf und machten Bekanntschaft mit dem gelehrten P. Theiner. Nun gingen sie hin und wieder zur Feier der Liturgie in die Chiesa Nuova und hielten sich im Oratorium auf. Sie informierten sich über die Regel und die Geschichte des Oratoriums des heiligen Philip Neri. Zugleich pflegten sie aber auch Kontakte mit anderen Kongregationen.
Newman hatte große Achtung vor dem opferbereiten Leben der Jesuiten, „die wunderbarste und mächtigste Gemeinschaft unter den Regularen“ (25), für ihre Heiligkeit und selbstlose Bereitschaft zur Hingabe (111), die er am Kolleg der Propaganda aus erster Hand erfuhr. Er hatte eine hohe Meinung von den Passionisten, die so „friedvoll“, und von den Kapuzinern, die so „fröhlich“ waren, auch wenn sie ihm die beiden strengsten Orden zu sein schienen (62). Er las die Regel der Redemptoristen (7f.) und hatte Kontakt mit den Franziskanern (10f.) und den Rosminianern (5). Er interessierte sich für die Dominikaner und später wuchs in ihm eine Liebe zu den Benediktinern, die ihn sein Leben lang nicht mehr verlassen sollte. Und doch konnte er sich selbst nicht vorstellen, ein Mönch oder ein Regularkleriker bei den Jesuiten zu werden. Dies hätte für ihn nicht nur bedeutet, mit sechsundvierzig Jahren auf „Eigentum“ zu verzichten und „neue Gewohn heiten anzunehmen“, sondern letztlich auch Abschied von seinem ganzen früheren Leben zu nehmen, das nicht nur sein eigenes Privatleben gewesen war. Sein Name, seine Person und seine Bücher waren vielen Menschen bekannt, die ihm niemals persönlich begegnet waren. Als Regularkleriker hätte er das alles endgültig aufgeben müssen. Wenn er noch reden und schreiben sollte, würden die Menschen nicht wissen, ob er weitergab, was in seiner Gemein schaft gedacht wurde (wie „eine Art Werkzeug anderer“), oder ob das, was er sagte, seine eigenen Worte wären. Mit einem Wort, er brauchte das, was er als „Fortsetzung meines früheren Selbst“[31] bezeichnete.
Einerseits wollte er kein Mönch werden, andererseits dachte er, sie hätten „einen Ruf zu einem strengeren Leben als das eines Säkularen“. Da erschien ihm die Oratorianerregel wie „eine Art Deus ex machina“ (16). Am 17. Januar schrieb er einen Brief an Monsignore Wiseman: „Es ist merkwürdig und sehr angenehm, dass wir nach allen möglichen Überlegungen in dieser Angelegenheit wieder auf die anfängliche Idee Eurer Gnaden zurückkommen. Wir fühlen, nichts besseres tun zu können, als Oratorianer zu sein“ (19f.). Das war auch der erste Tag einer Novene von täglichen Wallfahrten nach St. Peter vom Vorabend des Festes Kathedra Petri, damals am 18. Januar, bis zum Fest der Bekeh rung des heiligen Paulus am 25. Januar – mit der Bitte um Licht in diesem Anliegen.
An Newmans Geburtstag, dem 21. Februar, erhielt Monsignore Brunelli, der Sekretär der Propaganda, die Zustimmung des Heiligen Vaters zu Newmans Vorhaben, das Oratorium des heiligen Philip in England einzuführen. Papst Pius IX. drückte seine Freude darüber aus, und stellte der zukünftigen englischen Kongregation des heiligen Philip für den ersten Teil ihres Noviziates in Rom von Juli bis Dezember 1847 das Kloster von Santa Croce in Gerusalemme zur Verfügung. Für Newman bedeutete dies, im Herz der Kirche zu leben. Die heilige Helena hatte nicht nur das Kreuz Christi von Jerusalem nach Rom gebracht, sondern auch Erde vom Kalvarienberg. Santa Croce ist Jerusalem mitten in Rom.[32]
Einen Monat bevor sie nach Santa Croce zogen, wurden Ambrose St. John und John Henry Newman am Gedenktag des heiligen Philip, dem 26. Mai von Kardinal Fransoni „in seiner Privatkapelle“ (84) zu Subdiakonen geweiht. Am 29. Mai erhielten sie im Lateran vom Kardinalvikar die Diakonenweihe. Am 30. Mai, dem Dreifaltig keits sonntag, weihte sie Kardinal Fransoni an der Propaganda zu Priestern. Das muss in der Kirche der Propaganda gewesen sein (84), weil „alle Studenten“[33] anwesend waren und die Orgel gespielt wurde. Nach der Weiheliturgie besichtigten sie das Haus in Santa Croce. An Fronleichnam feierte Newman in der Jesuiten kapelle der Propaganda auf dem Altar über dem Grab des heiligen Hyazinth seine erste heilige Messe, nicht weit von seinem Zimmer entfernt.
Am 28. Juni erfolgte der Umzug nach Santa Croce, wo Newman am Tag darauf die Messe vom Hochfest der Apostel Petrus und Paulus feierte. Aus Dankbarkeit gingen sie am Abend zu Fuß nach St. Peter, so wie schon früher in den neun Tagen im Januar.
In dem, was er das Herz der Kirche nannte, in Santa Croce, sollte Newman mehr und mehr das Herz des heiligen Philip finden, und unter seiner Führung das Herz Jesu, das Licht seiner Seele, das er in der Eucharistie anbetete. In der Gnade seiner Berufung und im Zeichen des Kreuzes sollte er im Oratorium des heiligen Philip ein Vater der Seelen werden. Als Newman im Dezember Rom verließ, nahm er das Breve des Papstes mit.
Er ist ein kräftiger Mann und hat ein sehr freundliches Aussehen, er war überaus herzlich. Als er uns von der Konversion eines englischen Geistlichen erzählt hatte, sagte St. John in seiner Einfachheit: “Wie heißt der Mann?” Daraufhin legte der Hl. Vater humorvoll die Hand auf seinen Arm und sagte so etwa: “Meint ihr, dass ich eure englischen Namen aussprechen kann?” Er bewegte sich rasch, er lief durch das Zimmer, öffnete einen Schrank und reichte mir ein schönes Ölgemälde der Mater Dolorosa. Nach seinem Besuch beim Heiligen Vater schrieb Newman am 26. November 1846 einen Brief an F. S. Bowles. LD XI, 285.
III. Selbsthingabe (1856) und später Lohn (1879)
Ein kurzer Blick auf Newmans dritten und vierten Besuch in Rom kann zwei weitere Aspekte über die Bedeutung Roms im Leben des großen englischen Theologen deutlich machen.
Seine dritte Reise unternahm er wiederum gemeinsam mit Ambrose St. John. Ziel dieser Reise war die Lösung von Schwierigkeiten, die aufgrund verschiedener Interpretationen der Oratorianerregel zwischen den beiden Häusern in England entstanden waren. Die Wunde der Uneinigkeit sollte geheilt werden, bevor sie „eitern“ oder andere bleibende Schäden verursachen würde. Für Newman war dieses Vorhaben enorm anstrengend, zumal damals eine doppelte Verantwortung auf ihm lastete: das Oratorium in Birmingham und die Katholische Universität in Dublin, die im Aufbau begriffen war. Es war außerdem „eine Angelegenheit schwerwiegender Besorgnis“. Newman wusste, dass er sie nicht aus eigener Kraft meistern konnte. Am ersten Tag in Rom machte er aus dem Besuch in St. Peter eine mittägliche Wallfahrt, und legte den ganzen Weg von der Piazza di Spagna nach St. Peter barfuß zurück. Es war ein kalter Wintertag, jener 13. Januar 1856. Niemand wusste davon, außer P. Ambrose.[34]
Tatsächlich brachte diese Reise nach Rom nicht nur Klarheit in der besagten Angelegenheit. Der Heilige Vater gewährte ihnen auch alles, worum sie gebeten hatten, ja noch mehr. Die Art und Weise, wie Newman das schwierige Unterfangen anging, die Reise als Bittsteller nach Rom, sein vertrauensvolles Gebet an der Confessio in St. Peter, der persönliche Kontakt mit dem Heiligen Vater und anderen Vertretern der Hierarchie zeugt von seinem tiefen Glauben an Christus und seinem demütigen Vertrauen gegenüber dem Heiligen Vater und jenen, die mit ihm die Kirche leiten.[35]
Im Frühling 1879 unternahm Newman seine letzte Reise nach Rom. Der neu gewählte Papst Leo XIII. hatte ihn gerufen. Er wollte den großen Engländer zum Kardinal erheben und ihm so zum Wohl der ganzen Kirche Ehre erweisen. Newman war einer der ersten neun Kardinäle, die Leo XIII. ernannte. Der Papst nannte ihn gerne: „il mio Cardinale“ (mein Kardinal). Die Vorsehung war am Werk gewesen. Rückblickend bemerkte der Papst bei einem Besuch von Lord Selborne und dessen Tochter im Oktober 1887:
Mein Kardinal! Es war nicht leicht, es war nicht leicht. Sie sagten, er sei zu liberal, aber ich hatte beschlossen, die Kirche zu ehren, indem ich Newman ehrte. Ich hatte schon immer eine Verehrung für ihn. Ich bin stolz darauf, dass ich einen solchen Mann ehren konnte.[36]
In Brüssel hatte Nuntius Gioacchino Pecci (1843 bis 1846), der spätere Papst Leo XIII., P. Dominik Barberi im Oktober 1845[37] auf seinem Weg von Oxford zum Kapitel der Passionisten in Belgien empfangen. Schon im Juli 1844 stellte George Spencer fest, dass der Nuntius bestens über die Männer in Oxford informiert war.[38] P. Dominik Barberi muss sich sehr gefreut haben, seinem Landsmann von den letzten Ereignissen in Oxford und Littlemore berichten zu können. Eben erst hatte er Newman in „die eine Herde des Erlösers“[39] aufgenommen. Er wird dem Nuntius wohl in lebendiger Art und Weise beschrieben haben, wie er „einen der demütigsten und liebenswürdigsten Menschen“, die er je getroffen hatte, zu seinen Füßen knien sah, und wie dieser ihn bat, „seine Beichte zu hören und ihn in den Schoß der Kirche aufzunehmen!“[40] Tatsächlich hatte der damalige Nuntius von diesem Zeitpunkt an sein Interesse an Newman immer aufrecht erhalten.
Newmans Briefe und Tagebucheintragungen zeigen, dass er sich dieses langjährigen Interesses seitens des späteren Papstes nicht einmal bewusst war. Erst nach der Wahl Peccis zum Nachfolger Petri erwähnte er ihn öfter in seinen Briefen. Am 27. Oktober 1878 schrieb er: Ich … habe mit großer Liebe und Zuneigung alle seine Handlungen verfolgt, von denen uns die Zeitungen seit seiner Wahl berichtet haben. Ich wünschte nur, er wäre zehn Jahre jünger – dass er es nicht ist, ist sein einziger Fehler.[41]
Newman war froh, dass Papst Leo XIII. den Päpstlichen Universitäten und Priesterseminaren das Studium des heiligen Thomas von Aquin empfahl, das die Konvertiten bei ihrer Vorbereitung auf die Weihe in Rom 1846/1847 vermisst hatten.[42] Leo XIII. ließ Newman im Dezember 1878 durch einen früheren Angestellten der französischen Botschaft in Rom, dessen Beichtvater Newman geworden war, einen Päpstlichen Segen und ein von ihm unterzeichnetes Andachtsbildchen aus seinem Brevier zukommen.[43] Newman war davon sehr berührt.
Schon kurz nach der Wahl Leo XIII. gab es in England und in Rom Gerüchte, dass Leo XIII. Newman zum Kardinal erheben würde. Newman widmete ihnen nicht viel Aufmerksamkeit. Aber am 1. März 1879 schrieb er Anne Mozley:
Gerade heute habe ich erfahren, dass mir der Kardinalshut angeboten wird, verbunden mit dem Privileg, weiterhin hier wohnen zu können, wie bisher. Einem so großen Gunsterweis und einer solch persönlichen Zuneigung seitens des Papstes konnte ich nicht widerstehen und ich werde es annehmen. Es macht all den Gerüchten ein Ende, meine Lehre wäre nicht katholisch oder meine Bücher nicht vertrauenswürdig, was lange eine so große Prüfung für mich gewesen ist.[44]
Am 2. März teilte er Pusey mit:
Wenn es wahr ist, was allgemein behauptet wird, dann stand der jetzige Papst in seiner hohen Stellung als Kardinal in Rom im selben schlechten Ruf wie ich. Das macht meiner Meinung nach das Gefühl der Verbundenheit und der Zuneigung mir gegenüber verständlich. Es ist, als ob er sagt: „Non ignara mali etc.“ Wie kann ich seiner Tat nicht zustimmen?[45]
Bei seiner Rede beim Empfang des Biglietto in der Residenz von Kardinal Howard in Rom erklärte Newman:
Ich habe nichts von jener hohen Vollkommenheit, die zu den Schriften der Heiligen gehört, dass kein Irrtum in ihnen zu finden ist. Aber ich glaube, behaupten zu können, dass ich bei allem, was ich geschrieben habe, ehrliche Absicht hatte, keine privaten Ziele verfolgte, eine Haltung des Gehorsams zeigte, bereit war, mich berichtigen zu lassen, den Irrtum flüchtete, das Verlangen hatte, der Kirche zu dienen, und dass mir durch die Barmherzigkeit Gottes ein schönes Maß von Erfolg beschieden war. Es ist mir eine wahre Freude, sagen zu dürfen: Von Anfang an habe ich gegen ein großes Zeitübel gekämpft: seit dreißig, vierzig, fünfzig Jahren bemühe ich mich nach meinen besten Kräften, den Geist des Liberalismus in der Religion abzuwehren.
Dann beschrieb er den Liberalismus in der Religion, den er seit seiner frühen Oxforder Zeit bekämpft hatte. Bis heute sind seine Ausführungen von großer Aktualität:
Liberalismus in der Religion ist die Lehre, dass ein Glaubensbekenntnis so gut wie das andere ist,… dass alle toleriert werden sollen, aber alle Meinungssache sind. Die geoffenbarte Religion ist nicht eine Wahrheit, sondern ein Gefühl und eine Geschmacks sache, keine objektive Tatsache, nicht übernatürlich… . Die Religion ist ein privater Luxus, den ein Mensch sich nach Belieben leisten kann, für den er aber selbstverständlich zahlen muss, den er anderen nicht aufzwingen kann und dem er nicht so frönen darf, dass er andere dadurch belästigt.
Schließlich ließ ihn sein tiefes Vertrauen aus dem Glauben, dass das Wort Gottes bereits gesiegt hat, seine Rede mit einem großen Trost und einem feurigen Aufruf beenden:
Im Allgemeinen hat die Kirche nur auf ihrem eigenen Weg der Pflicht in Ver trauen und Frieden voranzugehen; auszuharren und das Heil Gottes zu sehen.[46]
Dieser Artikel ist im Buch John Henry Newman in His Time, Oxford 2007, Family Publications, 61-81 erschienen. Er wird hier in einer erweiterten Fassung mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber neu veröffentlicht.
[1] Vgl. die Diskussion von „zwei spekulativen Anglikanern“ zur Unterstützung ihrer Kirche; in: Home thoughts Abroad, veröffentlicht im British Magazine, Frühjahr 1836.
[2] Ch. St. DESSAIN (ed.), The Letters and Diaries of John Henry Newman, vols. I-XXXII, London/Oxford, Nelson/Clarendon Press, 1961-2007; hier vol. XVII, S. 99: gekürzt LD XVII, 99.
[3] LD III, 240-241. Wenn nicht anders vermerkt, beziehen sich die Seitenzahlen nach den Zitaten auf LD III.
[4] Zu diesem Zeitpunkt hatte er die Vatikanischen Museen bereits einmal besucht.
[5] Schon Martin Luther sah im Papst den Antichristen, der bald nach Gregor dem Großen den Thron im Tempel Gottes besetzt und – für sich die Autorität über das Wort Gottes beansprucht habe. Vgl. Schmalkald. Art. IV.
[6] Eine ausführlichere Wiedergabe dieser Theorie findet sich im Brief an Samuel Rickards vom 14. April 1833 aus Neapel. Vgl. LD III, 287-290.
[7] Vgl. J. H. NEWMAN, Apologia pro vita sua, Mainz 1951, 70-75.
[8] Im Jahr 1843 nahm Newman ausdrücklich „alle scharfen Äußerungen“ zurück, die er gegen die Kirche von Rom gemacht hatte. Vgl. APO, 235.
[9] Vgl. LD III, 266-269.
[10] Zwei weitere Gottesdienste, bei denen er teilnahm, waren das nachmittägliche Offizium am Gründonnerstag und am Karfreitag in der Sixtinischen Kapelle: die so genannten „Tenebrae“ (272).
[11] Aus seinem ersten Gedicht über Rom in einem Brief an seine Schwester Harriett.
[12] LD IV, 8.
[13] 1963 wurde Dominik Barberi selig gesprochen.
[14] Aus Dankbarkeit nahm er den Firmnamen Maria an. Vgl. LD XI, 23, Fußnote 1. Wenn nicht anders vermerkt, beziehen sich die Seitenzahlen nach den Zitaten von nun an auf LD XI.
[15] Das Fenster in diesem Zimmer kann immer noch geöffnet werden. Das Ewige Licht brennt neben dem Tabernakel in der wunderschön restaurierten Kapelle. Das Maryvale-Institut plant, Newmans Zimmer für Besucher zugänglich zu machen.
[16] Trakt 90.
[17] Das geht aus Newmans Brief an den Grafen von Shrewsbury vom 23. August 1846 hervor. Vgl. LD XI, 232.
[18] Vgl. ebd., 227: Brief an Knox vom 20. August 1846.
[19] Vgl. LD XI, 245, Tagebuch, Fußnote 1.
[20] Vgl. ebd., 252f.
[21] Vgl. ebd., 250f.
[22] Vgl. LD XI, 266. Donnerstag, 29. Oktober 1846.
[23] Vgl. auch LD XII, 23.
[24] Mary Giberne war zeitlebens in Freundschaft mit der Familie Newman verbunden. Sie wurde von John Henry Newman in die katholische Kirche aufgenommen.
[25] Vgl. LD X, 658, Fußnote 2.
[26] LD XII, 48. In diesem Kontext ist der Brief interessant, den Newman an den Rektor des Collegio schrieb. Vgl. LD XII, 88-90.
[27] Vgl. LD XII, 5. Wenn nicht anders vermerkt, beziehen sich die Seitenangaben nach den Zitaten von nun an auf LD XII.
[28] Newmans Erörterungen bezogen sich auf seine Übersetzung von Athanasius in der Library of the Fathers und waren gemeinsam mit dieser Arbeit veröffentlicht worden.
[29] Am 12. Mai konnte Newman dem Rektor sein Exemplar übergeben.
[30] Vgl. LD XII, 55, auch Fußnote 3.
[31] LD XI, 306. Die kursiven Buchstaben kommen von Newman.
[32] Vgl. LD XII, 79.
[33] Vgl. ebd., 84, Fußnote 2.
[34] Nach P. Neville. Vgl. LD XVII, 119, Fußnote 2 unter Verweis auf My Campaign in Ireland, 214.
[35] Details dazu finden sich in LD XVII Opposition in Dublin and London October 1855 to March 1857 und in den Kapiteln unter The Oratories in Opposition; bei M. TREVOR, Newman Light in Winter, London 1962, 73-84 und 112-128, außerdem 129-141.
[36] LD XXIX , 426, Anhang 1. Hier ist nicht der Ort, um näher auf die enormen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit Newmans Kardinalserhebung einzugehen. Darüber ist viel geschrieben worden.
[37] Dieser Besuch ist erwähnt in U. YOUNG, C.P., Life and Letters of the Venerable Father Dominic (Barberi), C.P., Founder of the Passionists in Belgium and England, London 1926, 259, und als solcher von DESSAIN und GORNALL in LD XXIX, 426, Anhang 1, Fußnote 2 zitiert. Neun Jahre später veröffentlichte P. Urban einen Brief von P. Dominik vom 26. Oktober 1845 zwischen seinen beiden Besuchen in Littlemore, in dem er ausdrücklich vom „Nuntius in Brüssel, den ich besuchte“, spricht (U. YOUNG, C.P., Dominic Barberi in England, A New Series of Letters, London 1935, 142).
[38] Vgl. LD XXIX, 425, Fußnote 2.
[39] Zur Wiederholung dieses Ausdrucks in den zahlreichen Briefen, die er in der Nacht der Ankunft von P. Dominik schrieb, siehe die ersten Seiten von LD XI.
[40] Brief aus Tournai, Oktober 1845, U. YOUNG, Dominic Barberi in England, London 1934, 138.
[41] LD XVIII, 415.
[42] Ebd., 431, Fußnote.
[43] Vgl. LD XVIII, 435, Fußnote 1.
[44] LD XXIX, 50.
[45] LD XXIX, 55-56, Fußnote in Bezug auf Aeneis I 630: Non ignara mali miseris succurrere disco (Selbst mit dem Unglück vertraut, lerne ich, den Notleidenden zu Hilfe zu kommen).
[46] . K. STROLZ (Hsgr.), John Henry Newman. Festschrift zum 100. Geburtstag seines Kardinalates, Rom 1979, 120-121, 123.