Selbstbeschauung

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15. Predigt, (Januar oder Februar 1835)

Dienstag in der Osterwoche

„Laßt uns aufblicken zu Jesus, dem Begründer und Vollender unseres Glaubens“ (Hebr 12, 2).

Es ist gewiß unsere Pflicht, immer von uns weg und auf Jesus hinzuschauen. Das heißt aber: vermeiden, unsere eigenen Gefühle und Regungen, die Verfassung und Haltung unseres Geistes zu betrachten, – als wäre das die Hauptaufgabe der Religion – vielmehr diese Dinge hauptsächlich in ihren Früchten sich auswirken zu lassen. Gestern wurden einige Hinweise gegeben, über diese „vorzüglichere“ und schriftgemäßere Art unseres Handelns, wie es immer in der Kirche Brauch war. Jetzt wollen wir die Vorteile der Norm für ein heiliges Leben erwägen, Vorteile, die die heutige Mode an ihre Stelle setzen möchte.

Anstatt von uns weg und auf Jesus hinzuschauen und gering von uns zu denken, erachtet man es gegenwärtig unter der gemischten Schar der religiösen Schwärmer für notwendig, das Herz zu prüfen mit der Absicht, sich zu vergewissern, ob es in einem wahren geistlichen Zustand ist oder nicht. Als wahre geistliche Verfassung sehen sie jene an, in der die Häßlichkeit der Sünde wahrgenommen wird, unsere äußerste Wertlosigkeit, die Unmöglichkeit, uns selbst zu retten, die Notwendigkeit eines Erlösers, das Vollgenügen unseres Herrn Jesus Christus, jener Erlöser zu sein, die unbegrenzten Reichtümer Seiner Liebe, die Vorzüglichkeit und Herrlichkeit Seines Sühnewerkes, die Freigebigkeit und Fülle Seiner Gnade, das hohe Vorrecht der Vereinigung mit Ihm im Gebet und das wünschenswerte Verlangen, mit Ihm zu wandeln in allem heiligen und lebendigen Gehorsam. Alles dies (so meine ich) sind erhabene Wahrheiten, zu erhaben, um sie nur flüchtig zu erwähnen; jedoch ist durch einen unmittelbaren Blick in unser Empfinden kaum feststellbar, daß wir sie von Herzen angenommen haben. Weiter, so sagen sie, wenn eine Wahrheit vor der übrigen ausgewählt werden muß als der wesentliche Inhalt der Wahrheiten, die derart lebendig von einem frommen Christen verstanden werden, dann sei es jene von der Notwendigkeit, auf unsere eigene Gerechtigkeit zu verzichten um der von unserem Herrn und Heiland gewährten Gerechtigkeit willen. Diese wird aber nicht als ein elementarer und klarer Grundsatz angesehen (was sie wirklich ist), sondern sie wird selten und kaum von irgend jemand anerkannt. Besonders abstoßend aber ist sie für einen gewissen (sogenannten) Geistesstolz, der sich bekanntlich durch das ganze Geschlecht Adams hinzieht und jeden unwillkürlich dazu führt, sogar vor Gott auf das eigene Verdienst seiner guten Werke zu pochen; so daß das Vertrauen auf Christus nicht bloß das Werk des Heiligen Geistes ist (wie alles Gute in unserer Seele), sondern daß es das eigentliche und entscheidungsvolle Ereignis bedeutet, das den Menschen kennzeichnet, der aus der Dunkelheit heraustritt und für die Vorrechte und das Erbe der Kinder Gottes besiegelt ist. Mit anderen Worten, die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben sieht man zwar als den eigentlichen Angelpunkt des Evangeliums an; es ist jedoch vergeblich, sie bereitwillig als eine klare Schriftwahrheit anzunehmen (was sie ist) und dennoch zu versuchen, ohne sie bis zur Vollkommenheit voranzuschreiten. Denn schon den Wunsch vorwärtszukommen legen sie aus als ein Verlangen, über diese Lehre hinwegzugehen, und das Zeichen, daß man überhaupt an sie glaubt, besteht darin, tatsächlich auf keiner Lehre zu bestehen als auf ihr. Und diese besondere Art, wie sie jene große Wahrheit des Evangeliums einhämmern, ist ein Beweis dafür (wenn es eines Beweises bedarf), daß ihre Verfechter nicht einmal rein ihrethalber um sie, gesehen als sogenannten Lehrsatz, besorgt sind, sondern als um ein Mittel, um einen gewissen (erhofften) Zustand des Herzens zu gewinnen und sich zu sichern. Denn nicht damit zufrieden, daß ein anderer sie einfach zugibt, gehen sie dazu über, den Glauben in seine Arten aufzuteilen, den lebendigen und toten, und gegen den andern geltend zu machen, daß die Wahrheit von einer fleischlich gesinnten und unbekehrten Seele geglaubt werden kann und daß Menschen darüber ohne wirkliche Empfindungen und Überzeugungen sprechen können. Somit ist es klar, daß sie sich nicht für die Rechtfertigungslehre als für eine dem Geist von außen kommende Wahrheit oder für einen Glaubensartikel einsetzen, ebensowenig wie für die Trinitätslehre. Da sie in gleicher Weise über den toten wie über den lebendigen Glauben sprechen, unabhängig davon, ob das Leben und die Führung des Betreffenden vorbildlich sind, zeigen sie anderseits doch klar, daß gemäß ihrem System auch die Früchte der Rechtschaffenheit kein Beweis geistlicher Gesinnung sind, sondern daß nach etwas gesucht werden muß, das in der seelischen Haltung selbst liegt. Alles das ist jetzt nicht gemeint in der Form eines Einwandes, sondern um genau festzustellen, was sie zu behaupten beabsichtigen. So haben wir nun die beiden Betrachtungsweisen der Lehre klar vor uns: – die alte und allgemeine Lehre der Kirche, die die Wahrheiten und Früchte des Glaubens nachdrücklich betont und den übernatürlichen Charakter jenes Glaubens selbst als hinreichend bewiesen ansieht, wenn die Früchte sind, was sie sein sollten; und dann die heute geltende Methode, statt dessen den Versuch zu machen, jene „Geistesverfassung“, die in beseligender Weise die Wahrheiten aufnehmen und die Unterwerfung unter das Evangelium vollziehen kann, sich unmittelbar und in erster Linie zu sichern. Daß eine solche Geisteshaltung unerläßlich ist, wird auf allen Seiten zugegeben. Die einfache Frage lautet, ob sie durch die unmittelbare Einwirkung des Heiligen Geistes auf unsere Seele bewirkt wird oder ob sie vielmehr durch unsere eigenen einzelnen Handlungen (sei es des Glaubens oder des Gehorsams) von Ihm angeregt, geleitet und gefördert wird; ob sie anders als an ihren Früchten sicher erkennbar ist; oder ob solche Geisteshaltungen, die unmittelbar feststellbar sind und vorgeben, religiös zu sein, nicht vielmehr eine Täuschung sind, eine bloße Erregung, eine launenhafte Empfindung, eine fanatische Einbildung und dergleichen. – Soviel also zur Erklärung.

1. An erster Stelle setzt dieses moderne System sicherlich die geoffenbarten Wahrheiten des Evangeliums herab, obgleich seine gemäßigteren Anwälte vor einem derartigen Zugeständnis zurückschrecken mögen. Da sie eine gewisse Stimmung des Herzens als die erstrebenswerte Hauptsache ansehen, machen sie eingestandenermaßen die „Wahrheit, wie sie in Jesus ist“, das klare Glaubensbekenntnis der Kirche, in ihrer Belehrung und in ihrem Bekenntnis zu etwas Zweitrangigem. Sie verteidigen sich zwar gegen den Anschein, sie zu unterschätzen, durch die Behauptung, daß das Vorhandensein religiöser Gefühle eine Garantie für gesunde Lehransichten ist. Und das ist an und für sich wahr; – aber nicht wahr in der Anwendung, die sie davon machen. Denn sie nehmen unglücklicherweise an, daß sie gegenseitig sich der Anwesenheit dieser Gefühle vergewissern können; und wenn sie Menschen finden, die sie besitzen (wie sie es auffassen), jedoch nicht ganz orthodox in ihrem Glauben sind, dann lockern sie ein wenig die Zügel und machen geltend, daß die Annahme der sogenannten strengen und technischen Spitzfindigkeiten der Lehre, entweder was die Wesensgleichheit des Sohnes oder die hypostatische Union angeht, kaum hineinspiele in die Definition eines frommen Gläubigen. Um diesen Standpunkt zu unterbauen, stellen sie es als selbstverständlich hin, daß der Hauptzweck der geoffenbarten Wahrheit darin liegt, das Herz zu bewegen, – daß das, was es nicht zu bewegen scheint, es auch nicht bewegt – daß das, was es nicht bewegt, unnötig ist. Nach ihrer Meinung ist der Umstand, daß das Herz dieses oder jenes Menschen richtig bewegt scheint, eine hinreichende Gewähr dafür, daß solche Artikel, die er gerade zurückweist, ruhig allgemein zurückgewiesen werden können oder wenigstens nur von nebensächlicher Bedeutung sind. Wenn solche Grundsätze einmal dem Geist vertraut sind, führen sie zu einer gewissen Betonung der Lehren, die mit dem Werk Christi verbunden sind, und zwar ob ihres unmittelbarer ansprechenden und anregenden Charakters, übergebührlich jedoch im Vergleich zu jenen, die sich auf Seine Person beziehen; sie führen die Schichte der Spekulativeren und Philosophischeren dahin, die Wahrheiten der Versöhnung und Heiligung als das Wesen des Evangeliums anzusehen und sie gänzlich an Stelle jener „himmlischen Dinge“ zu empfehlen, die sie, theologisch ausgedrückt, schon angegriffen haben und über die sie sich jetzt offen beklagen, als seien sie Geheimnisse für Unfreie, nicht Tröstungen des Evangeliums. Die letzte und beklagenswerteste Stufe dieser falschen Weisheit besteht darin zu leugnen, daß es in Sachen der Lehre irgendeinen solchen Sinn der Schrift gibt, der wahr ist, während alle anderen falsch sind; das Evangelium der Wahrheit (so weit) zu einer Offenbarung von Worten und zu einem toten Buchstaben zu machen; zu denken, daß die Inspiration nur von göttlichen Werken, nicht von Personen spricht und daß das für jeden einzelnen Wahrheit ist, was jeder für wahr hält, so daß der eine sagen kann, Christus sei Gott, ein anderer Seine Präexistenz leugnen kann, jeder jedoch die Wahrheit entsprechend der besonderen persönlichen Geistesverfassung aufgenommen hat, indes die Schriftlehre keine wirkliche, unabhängige und feststehende Bedeutung besitzt. Auf diese Weise führt das vorliegende System notwendig dazu, die großen Wahrheiten zu verwischen, die im Evangelium ans Licht gebracht wurden, – zu verdunkeln, was ich gestern das Auge des Glaubens genannt habe, – uns in das Ungewisse des Heidentums zurückzustoßen, in dem die Menschen nach der göttlichen Gegenwart nur blindlings tasteten, und so den Plan der Menschwerdung Christi, insofern sie eine Offenbarung des unsichtbaren Schöpfers ist, zu vereiteln.

2. Anderseits wird der zum Heil notwendige Gehorsam von den Vertretern dieses modernen Systems nicht weniger verstümmelt als die Artikel des Glaubensbekenntnisses. Sie bestehen darauf, und mit Recht, daß die Werke folgen müssen, wenn der Glaube lebendig ist; aber da sie die logische Folge mit der zeitlichen Folge verwechseln, kommen sie zu dem Schluß, daß der Glaube immer zuerst kommt und die Werke nachher; daß daher der Glaube zuerst gesichert werden muß und zwar durch gewisse Mittel, an denen die Werke keinen Anteil haben. Anstatt so die Werke als die gleichzeitige Entfaltung, als die Evidenz und die instrumentale Ursache wie auch die nachfolgende Frucht des Glaubens anzusehen, legen sie den ganzen Nachdruck darauf, daß in ihrer Seele Glauben und geistliche Gesinnung unmittelbar geschaffen werden, Werte, die nach ihrer Ansicht in gewissen Gefühlen und Wünschen bestehen, und zwar, weil sie sich in ihrem Geist keine bessere oder getreuere Vorstellung von jenen Eigenschaften bilden können. Dann, statt „sich zu befleißigen, guten Werken zu obliegen“ (Tit 3, 8), nehmen sie es mit der Zeit für ausgemacht an, daß die Werke ohne ihre Mühen als eine Selbstverständlichkeit folgen werden, da sie (wie sie meinen) zum Glauben gelangt sind. So werden die Weisen in ihrer eigenen Schlauheit gefangen; sie versuchen zu denken und lassen sich durch Trugschlüsse überwältigen. Hätten sie sich an den inspirierten Bericht gehalten anstatt zu grübeln, wäre ihr Weg klar gewesen. Wenn man vollends die ernsten Mahnungen betrachtet, die Gebote Gottes zu halten, von denen die ganze Schrift von der Genesis bis zur Geheimen Offenbarung übervoll ist, ist es dann nicht eine schwerwiegende Frage, die sich die nachsichtigsten Christen stellen müssen, ob diese ziellosen Ausleger des heiligen Evangeliums nicht Gefahr laufen, an dem Wehe Anteil zu haben, das ausgesprochen ist gegen jene, die eine andere Lehre außer der uns überlieferten predigen oder die „etwas von den Worten des Buches“ (Offb 22, 19) der geoffenbarten Wahrheit abziehen?

3. Aber noch offensichtlicher fallen sie in diese letztere Bezichtigung, wenn wir bedenken, wie sie das ganze heilige Buch mißhandeln müssen, um das System zu stützen, das sie sich zu eigen gemacht haben. Ist es zuviel behauptet, daß sie, anstatt zu versuchen, Schrift mit Schrift in Einklang zu bringen, und gar sie zu den Vätern, die ihnen dazu helfen können, in Beziehung zu setzen, entweder wichtige Teile der Bibel gänzlich fallenlassen oder sie wegerklären, und zwar gerade die heiligsten? Wie verträgt sich die Autorität der Psalmen mit ihren Ansichten außer im besten Fall durch eine erzwungene, bildliche Auslegung? Und die Reden unseres Herrn in den Evangelien, besonders die Bergpredigt, werden sie nicht als vor allem bedeutend angesehen für die Personen, an die sie unmittelbar gerichtet waren, und weniger lehrreich für uns, jetzt da der Geist gekommen ist (wie man in ehrfurchtsloser Weise sagt)? Kurz, ist nicht die reiche und mannigfaltige Offenbarung unseres gnädigen Herrn praktisch auf ein paar Kapitel der Paulusbriefe reduziert, die von ihnen (wie sie behaupten) richtig oder (wie wir sagen würden) verkehrt verstanden werden? Wenn nun die römischen Katholiken Zusätze zum Wort Gottes gemacht haben, ist es nicht unleugbar, daß unter uns eine Schule von Schwärmern besteht, die Abstriche von ihm gemacht haben?

4. Ich möchte hinzufügen, daß die unmittelbare Tendenz dieser Ansichten die ist, Einrichtungen so gut wie Lehren zu unterschätzen. Hier gilt offensichtlich die gleiche Beweisführung; denn wenn die Erneuerung des Herzens (wie angenommen wird) erreicht ist, was liegt daran, ob die Sakramente gespendet worden sind oder nicht? Der Begriff der unsichtbaren Gnade und der unsichtbaren Vorrechte ist bei dieser Annahme ganz und gar aufgehoben; jener der Vereinigung mit Christus ist auf die bloße Übung von Gefühlen in Gebet und Betrachtung beschränkt, – auf fühlbare Wirkungen; und wer wahrnimmt, daß er bereits diese eine wesentliche Gnadengabe (wie er sie nennt) erreicht hat, kann nach der Mode von heute billigerweise fragen, warum er Einrichtungen befolgen muß, die er in seinen religiösen Errungenschaften vorweggenommen hat, – Einrichtungen, die nur Mittel zu einem Ziel sind, die er nicht zu suchen braucht, selbst wenn sie nicht gänzlich äußere Formen sind. Ferner kann er fragen, ob Christus am Jüngsten Tag nicht alle, die glauben, anerkennen wird, ohne zu fragen, ob sie Glieder der Kirche waren oder gefirmt oder getauft wurden oder den Segen bloßer Menschen empfingen, die „irdene Gefäße“ sind (2 Kor 4, 7).

5. Die vorausgehenden Hinweise wollen den äußerst unchristlichen Charakter des in Frage kommenden Systems aufzeigen. Es ist unchristlich im vollen Sinn des Wortes, ob mit dem Evangelium das inspirierte Buch gemeint ist, oder die Lehren, die daraus gezogen werden, oder die sakramentalen Einrichtungen, die seine Gabe sind, oder die Theologie, die es auslegt, oder der Bund, auf dem es beruht. Ein paar Worte sollen hinzugefügt werden, um das dem System als solchem anhaftende Unheil darzutun. Ich denke, es liegt darin, daß es notgedrungen eine beständige Selbstbetrachtung und Beziehung zu sich selbst auf allen Gebieten der Lebensführung einschließt. Wer bestrebt ist, eine gesunde Lehre oder eine richtige Lebensführung zu erlangen, schaut mehr oder weniger über sich hinaus; dagegen bedeutet das Bemühen um eine bestimmte Geistesverfassung eine regelmäßige Selbstbetrachtung des Geistes. Daß diese wirklich in dem modernen System eingeschlossen ist, erhellt gerade aus der Lehre, auf die es hauptsächlich Nachdruck legt; denn als ob es einem Menschen nicht genügte, einfach mit dem Blick auf Christus nach Rettung auszuschauen, wird erklärt, es sei notwendig, daß man diese in sich selbst zu erkennen imstande sein sollte, daß man seinen eigenen Geisteszustand bestimmen sollte, daß man bekennen sollte, man sei durch den Glauben allein gerechtfertigt, und darlegen, was mit diesem Bekenntnis gemeint sei. Nun, der echteste Gehorsam ist unbestreitbar jener, der aus Liebe zu Gott geschieht, ohne kleinlich die Größe oder die Art des darin eingeschlossenen Opfers zu messen. Wer sich daran gewöhnt hat, von seinen Gedanken und Taten zu reden, sie wie eine Marktware zu bewerten, allen ihr geziemendes Maß von Empfehlung und Nützlichkeit beizulegen, wird bald unfreiwillig seine Beweggründe durch Stolz oder Selbstsucht verderben. Eine Art Selbstbeifall wird sich in seine Seele einnisten; so fein, daß er ihn nicht sofort erkennt, – eine dauernde, ruhige Selbstachtung, die ihn dazu führt, seine eigenen Ansichten denen anderer vorzuziehen, und eine geheime, wenn auch nicht eingestandene Überzeugung, daß er von der ihn umgebenden Allgemeinheit verschieden ist. Das ist ein beiläufiges, obwohl natürlich nicht ein notwendiges Übel religiöser Tagebücher; ja, solcher Aufzeichnungen, die die geistlichen Amtspflichten mit sich bringen. Sie führen ihre Schreiber in dieser oder jener Hinsicht zu einer Selbstbetrachtung. Außerdem glaube ich, was die religiösen Tagebücher angeht, so nützlich sie oft sind, daß Personen bei der Beschreibung ihrer Gefühle eine große Schwierigkeit darin finden werden, den Gedanken zu vertreiben, daß eines Tages diese guten Gefühle der Welt bekannt sein werden, und sie so unmerklich dazu kommen, ihre Sprache zu gestalten und herzurichten wie für eine Schaustellung. Tatsächlich findet sich selten einer, der seine besseren Gedanken und Taten zu betrachten pflegt, ohne dazu überzugehen, sie anderen vorzulegen; und daher ist es so leicht, einen eingebildeten Menschen zu erkennen. Wenn dieses Verhalten auf dem heiligen Gebiet der Religion ermutigt wird, schafft es eine gewisse unnatürliche Feierlichkeit des Benehmens, die von dem Verlangen herrührt, geistlich zu sein, vielmehr es zu scheinen. Diese Haltung ist den Zuschauern alsbald sehr peinlich und ist sicher ganz verschieden von der Vorschrift unseres Herrn, unser Haupt zu salben und unser Gesicht zu waschen, selbst wenn wir im Herzen überaus demütig sind. Ein anderer Übelstand, der aus dieser Selbstbetrachtung entspringt, ist die besondere Art der Selbstsucht (wenn ich einen so harten Ausdruck gebrauchen darf), die dadurch anscheinend genährt wird. Jene, die sich selbst an Stelle ihres Schöpfers zum großen Gegenstand ihrer Betrachtung machen, werden natürlich sich selbst erheben. Ohne zu leugnen, daß die Ehre Gottes das große Ziel ist, auf das alle Dinge bezogen werden müssen, werden sie dazu verleitet, Seine Ehre unlösbar mit ihrer eigenen Heilssicherheit zu verbinden. Das erklärt teilweise die Tatsache, daß es so alltäglich ist, in denselben Menschen starre Ansichten über die Vorherbestimmung und zugleich die ausschließliche Behauptung der Rechtfertigung durch den Glauben zu finden. Und aus dem nämlichen Grund wird die Schriftlehre über die Kirche und ihre Ämter solchen Leuten unschmackhaft sein; denn nichts ist so unvereinbar miteinander wie das System, das die Gedanken eines Menschen auf sich selbst richtet, und jenes, das sie zu einer Quelle der Gnade und Wahrheit weist, von der Gott ihn abhängig gemacht hat.

Und wie Selbstvertrauen und Geistesstolz die folgerichtigen Ergebnisse dieser Ansichten in einer Klasse von Menschen sind, so führen sie in einer anderen zu einer fieberhaften Ängstlichkeit über ihren religiösen Zustand und ihre religiösen Aussichten und zu der Furcht, sie seien von ihrem allbarmherzigen Erlöser verworfen. Es braucht kaum erwähnt zu werden, daß Selbstbetrachtung ein häufiger Begleiter und ein häufiger Vorläufer der Zerrüttung der geistigen Kräfte ist.

Kommen wir zum Schluß. Es muß aus den vorausgehenden Hinweisen nicht angenommen werden, daß ich all die aufgezählten Folgen jedem einzelnen beilege, der die Hauptpunkte festhält, aus dem sie sich natürlich ergeben. Viele Menschen halten voll Eifer an Grundsätzen fest, die sie in ihrem Inneren nie zu Ende denken oder nach einiger Zeit stillschweigend aufgeben und nur noch dem Wortlaut nach festhalten. Diese aber werden in der Geschichte irgendeiner Richtung oder einer Gruppe von Menschen, die sie sich zu eigen machen, die volle Entwicklung erleben. So betrachtet, als die Merkmale einer Richtung, sind die in Frage stehenden Grundsätze zweifellos widerchristlich; denn sie zerstören jede positive Lehre, alle Vorschriften, alle guten Werke; sie nähren den Stolz, ermutigen die Heuchelei, entmutigen die Schwachen und führen zur verhängnisvollen Täuschung, während sie vorgeben, sie seien die besonderen Mittel gegen die Selbsttäuschung. Wir haben diese ihre Wirkungen seit zwei Jahrhunderten in der Geschichte des englischen Zweiges der Kirche beobachtet; soweit wir erkennen, steht ihnen noch ein höchst grauenvoller Triumph bevor. Aber wie dem auch sein mag, die Wächter Jerusalems sollen es nicht unterlassen, zeitig vor dem anrückenden Feind zu warnen oder sich vor aller Feigheit oder Nachgiebigkeit in dieser Hinsicht zu hüten. Sie sollen dem alten Gebot, das von Anbeginn gegen alle Neuerungen der Menschen gegolten hat, den Vorzug geben, indem sie sich an Christi Worte erinnern: „Selig, der da wacht und seine Kleider bewahrt, daß er nicht nackt wandle und man seine Schande sehe“ (Offb 16, 15).

aus Deutsche Predigten (DP), Bd II, Schwabenverlag 1950, pp. 185-197.