Toleranz gegen religiösen Irrtum

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23. Predigt, von Ende des Jahres 1834

Fest des heiligen Apostels Barnabas

„Er war ein guter Mann, und voll des Heiligen Geistes und des Glaubens“ (Apg 11, 24).

Als Christus kam, um Sich ein Volk zu bilden, das Sein Lob verkünden sollte, berief Er Menschen jeglicher Art. Landstraßen und Zäune, die Wege und Gassen der Stadt stellten ebenso Gäste für Sein Mahl wie die Wüste Judäa oder die Vorhöfe des Tempels. Seine ersten Anhänger sind eine Art Abbild der Gesamtkirche, in der viele und verschiedene Seelen geeint sind. Und in dieser Tatsache schon liegt ein Vorzug unserer Heiligenfeste, wenn wir ihn uns gebührend zunutze machen. Sie stellen uns Beispiele christlichen Lebens vor Augen, die dieselbe Verschiedenheit aufweisen hinsichtlich der äußeren Umstände, Vorteile und Anlagen, wie auch wir sie rings um uns wahrnehmen. Die beson­dere Gnade, die, charismatisch oder heiligend, über die Apostel und ihre Gefährten ausgegossen wurde, hatte nicht den Zweck, die jeweiligen Eigentümlichkeiten ihrer Anlagen und ihres Cha­rakters zu zerstören, sie mit einer unnachahmlichen Heiligkeit auszustatten oder Fehler und Verirrungen auszuschließen, die uns zur Warnung sein können. Sie blieben, was sie vorher waren – Menschen. Petrus und Johannes z. B., die einfachen Fi­scher vom See Genesareth, Simon der Eiferer, Mat­thäus der geschäftige Zöllner und der aszetische Täufer, wie verschieden sind diese – einmal unter sich – dann wieder von Apollo, dem beredten Alexandriner, von Paulus, dem gelehrten Phari­säer, von Lukas, dem Arzt, oder von den Weisen des Ostens, die wir am Fest der Erscheinung feiern; und wie verschieden sind diese Männer wiederum von der allerseligsten Jungfrau Maria oder von den Unschuldigen Kindern oder von Simeon und Anna, die uns am Fest Maria Reinigung vor Augen gestellt werden, oder von den Frauen, die dem Herrn dienten, wie Maria, das Weib des Kleophas, die Mutter des Jakobus und Johannes, Maria Mag­dalena, Martha und Maria, die Schwestern des La­zarus; oder ferner von der Witwe mit ihren zwei Scherflein, der Frau, deren Blutfluß gestillt wurde, von jener, die zu Seinen Füßen Tränen der Reue vergoß, und von der unwissenden Samariterin am Brunnen! Außerdem dienen die Bestimmtheit und offensichtliche Wahrheit vieler Szenen, die uns in den Evangelien gezeigt werden, dazu, uns die Ge­schichte zu vergegenwärtigen und unsern Glauben zu stützen, während sie zur selben Zeit uns über­reiche Belehrung gewähren. So z. B. der unüber­legte Eifer des Jakobus und Johannes, der plötz­liche Fall des Petrus, der Eigensinn des Thomas und die Feigheit des Markus. Der heilige Barnabas gibt uns eine Lehre auf seine Art, und ich möchte es nicht an Ehrfurcht gegen diesen heiligen Apostel fehlen lassen, wenn ich ihn euch heute vor Augen stelle, nicht nur mit den besonderen Vorzügen sei­nes Charakters, sondern auch mit dem, was an ihm uns zur Warnung wird, nicht zum Beispiel.

Im Vorspruch heißt es, daß „er ein guter Mann war, voll des Heiligen Geistes und des Glaubens“. Dieses Lob seiner Trefflichkeit wird durch seinen Namen selbst erläutert. Barnabas bedeutet „Sohn des Trostes“ (Apg 4, 36) und der Name wurde ihm offenbar gegeben, um seinen liebenswürdigen, sanften, rücksichtsvollen, warmherzigen, mitleids­vollen und freigebigen Charakter hervorzuheben. Seine Taten entsprechen diesem Bericht über ihn. Als erstes hören wir, daß er einen Acker, der sein war, verkaufte und den Erlös den Aposteln gab zur Verteilung an seine ärmeren Brüder. Die nächste Nachricht über ihn spricht von einer zweiten Liebes­tat, die ebenso gefällig war, wenn auch mehr pri­vater Natur. „Als Saulus nach Jerusalem gekom­men war, suchte er sich zu den Jüngern zu gesellen; aber alle fürchteten sich vor ihm und glaubten nicht, daß er ein Jünger sei. Barnabas aber nahm ihn, führte ihn zu den Aposteln und erzählte ihnen, wie er auf dem Weg den Herrn gesehen, daß Die­ser mit ihm geredet und wie er in Damaskus zuver­sichtlich im Namen Jesu gepredigt habe“ (Apg 9, 26, 27). Dann wird er in dem Vorspruch erwähnt, und immer noch mit dem gleichen Lob. Wie hat er gezeigt, daß „er ein guter Mann war?“ Dadurch, daß er auf eine Liebesmission zu den ersten Gläu­bigen in Antiochien ging. Barnabas wurde vor den übrigen von der Kirche mit diesem Werk beehrt, das zum Zweck hatte, diese keimende Frucht der göttlichen Gnade zu bestärken und in Einheit und Kraft zusammenzuhalten. „Als er hinkam und die Gnade Gottes sah, freute er sich“ (sicher ist dieser Umstand erwähnt, um seinen Charakter zu zeigen); „und er ermahnte alle, bei dem Vorsatz des Her­zens zu verharren im Herrn“ (Apg 11, 23). So kann er, unterstützt vom heiligen Paulus, sogar als der Begründer der Kirche von Antiochien betrachtet werden; war es ihm doch gelungen, jenen dort einzu­führen. Ferner ist er anläßlich einer nahenden Hun­gersnot zusammen mit dem heiligen Paulus der Überbringer der Liebesgaben der Heidenchristen an die armen Heiligen in Judäa. Als später die judaisierenden Christen die Neubekehrten aus den Heiden mit ihren mosaischen Vorschriften in Un­ruhe versetzten, wurde Barnabas mit dem nämlichen Apostel und anderen von der Gemeinde Jerusalems abgesandt, um ihre Verwirrung zu beheben. Es ent­spricht also der Bericht der Schrift über ihn nur seinem Namen, und ist kaum mehr als eine be­ständige Veranschaulichung des für ihn charakte­ristischen Vorzuges. Außerdem beachte man die besondere Bedeutung seines Namens. Der Heilige Geist wird unser Tröster genannt, da Er uns hilft, verteidigt, ermutigt und tröstet; wie um den Apo­stel mit der höchsten Ehre auszuzeichnen, wird der nämliche Ausdruck auf ihn angewandt. Er wird „der Sohn des Trostes“ oder der Tröster genannt; und in Übereinstimmung mit diesem ehrenvollen Titel wird uns gesagt, daß die Neubekehrten aus den Heiden in Antiochia „sich des Trostes freuten“ (Apg 15, 31), als sie aus seinen und des heiligen Paulus Händen die Entscheidung der Apostel gegen die Judaisierenden erhalten hatten.

Anderseits ist sein Benehmen bei zwei Anlässen kaum eines Apostels würdig, da es etwas von jener Schwäche aufweist, die unerleuchtete Menschen gerade seines Charakters oft an den Tag legen. Beidemal handelt es sich um Nachgiebigkeit gegen die Fehler anderer, jedoch auf verschiedene Weise; im einen Fall um allzugroße Nachgiebigkeit in einer Glaubenssache, im anderen in einer Sache des Verhaltens. Bei all seinem Zartgefühl für die Heiden konnte er doch bei einer Gelegenheit nicht Widerstand leisten, und war nachgiebig gegen die Vorurteile einiger judaisierender Brüder, die von Jerusalem nach Antiochien gekommen waren. Pe­trus ließ sich als erster dazu verleiten; bevor jene kamen, „aß er mit den Heidenchristen; als sie aber gekommen waren, zog er sich zurück und sonderte sich ab, aus Furcht vor denen, die aus der Beschnei­dung waren. Und es verstellten sich mit ihm auch die übrigen Juden; so daß auch Barnabas zu ihrer Verstellung verleitet wurde“ (Gal 2,12.13). Das andere Beispiel war sein lässiges Verhalten gegen­über Markus, seiner Schwester Sohn, das die Aus­einandersetzung zwischen ihm und dem heiligen Paulus herbeiführte. „Barnabas wollte“ auf ihrer apostolischen Reise „den Johannes mit sich nehmen, der den Zunamen Markus hat. Paulus aber hielt es nicht für gut, den mit sich zu nehmen, der aus Pamphylien von ihnen geschieden und mit ihnen nicht zum Werke gezogen war“ (Apg 15,37,38).

Es ist nun ganz klar, welches Charakterbild und was für eine Belehrung uns in dem Leben dieses heiligen Apostels vor Augen gehalten werden. Hei­lig war er, voll des Heiligen Geistes und des Glau­bens; jedoch die Merkmale und die Schwächen eines Menschen blieben in ihm, und daher ist er „uns zur Warnung“ (1 Kor 10,11), soweit das vereinbar ist mit der Ehrerbietung, die wir gegen ihn als eine der Grundsäulen der christlichen Kirche hegen. Er ist ein Beispiel und eine Warnung für uns, nicht nur, weil er uns zeigt, was wir sein sollten, sondern weil er auch beweist, wie die höchsten Gaben und Gnaden in unserer sündigen Natur verdorben werden, wenn wir nicht darauf bedacht sind, Schritt für Schritt nach dem Licht der göttlichen Gebote zu wandeln. Mögen wir noch so himmlisch gesinnt sein, noch so liebevoll, noch so heilig, noch so eifrig, noch so tatkräftig, noch so friedlich, wenn wir je­doch für einen Augenblick von Ihm weg und auf uns selbst schauen, dann verfallen alsbald diese hervorragenden Eigenschaften in irgendein Zuviel oder Zuwenig. Liebe wird zu übergroßer Nach­giebigkeit, Frömmigkeit wird mit geistigem Stolz befleckt, Eifer artet in Ungestüm aus, Aktivität ver­schlingt den Gebetsgeist, Hoffnung versteigt sich zur Vermessenheit. Wir können uns selbst nicht füh­ren. Gottes geoffenbartes Wort ist unsere oberste Lebensnorm; und daher ist der Glaube unter an­derem eine so erstrangige Gnade, denn er ist die leitende Kraft, die die Gebote Christi aufnimmt und sie auf das Herz anwendet.

Es besteht heutzutage ein besonderer Grund, bei dem Charakter des heiligen Barnabas zu verweilen, weil er unter uns als der Typ der besseren Klasse von Menschen und der Geachtetsten angesehen werden kann. Die Welt in sich ist zwar, was sie immer gewesen ist, gottlos; aber in jedem Zeitalter wählt sie die eine oder andere Eigentümlichkeit des Evangeliums aus, die das besondere Wahrzeichen ihrer Zeitmode ist, und erhebt jene zum Gegen­stand der Bewunderung, die sie im Höchstmaß be­sitzen. Ohne daher zu fragen, wie weit die Men­schen aus christlichen Grundsätzen oder nur in Anpassung an dieselben oder aus einem rein welt­lichen oder selbstsüchtigen Beweggrund handeln, kann doch sicherlich dieser Zeit, soweit man sehen kann, in ihrer Eigenart eine Ähnlichkeit mit Bar­nabas nicht abgesprochen werden. Denn sie ist in allem, was den Verkehr von Mensch zu Mensch an­geht, rücksichtsvoll, feinfühlig, höflich und groß­zügig. Es gibt im gesellschaftlichen Leben sehr viel aufmerksame Freundlichkeit unter uns, Zugeständ­nisse in kleinen Dingen, gewissenhafte Anständig­keit in Worten und eine Art Kodex weitherzigen und ehrenwerten Benehmens. Es besteht eine stän­dige Rücksichtnahme auf die Rechte des Einzelmenschen, ja, wie man trotz eines gewissen Be­denkens gern hoffen möchte, auf das Interesse der ärmeren Klassen, der Fremden, der Waisen und der Witwen. In einem solchen Land wie dem un­seren muß es schließlich immer zahllose Fälle von Elend geben, jedoch ist die Besorgtheit, es zu be­heben, unter den besser begüterten Klassen unbe­streitbar vorhanden. Und sie ist so unbestreitbar, daß wir irgendwie geneigt sind, uns infolgedessen günstig zu beurteilen und inmitten unserer natio­nalen Prüfungen und Befürchtungen zu sagen (ja bisweilen mit wirklicher Demut und Fröm­migkeit zu sagen), daß wir das Vertrauen haben, diese charakteristischen Tugenden der heutigen Zeit möchten wie ein Erinnerungszeichen vor Gott kommen und für uns Fürbitte einlegen. Wenn wir an die Gebote denken, wissen wir, daß Liebe das erste und größte ist, und wir sind versucht, mit dem reichen Jüngling zu fragen: „Was fehlt uns noch?“ (Mt 19,20). Ich stelle also die Gegenfrage: artet nicht unsere Güte zu oft in Schwäche aus und wird sie nicht, statt zur christlichen Liebe, zum Mangel an Liebe, wenn man ihren Personenbereich ins Auge faßt. Achten wir genugsam darauf, eher zu tun, was billig und recht ist, als was uns angenehm ist? Verstehen wir klar unsere Grundsätze, die wir bekennen, und halten wir uns in der Versuchung daran?

Die Lebensgeschichte des heiligen Barnabas ist uns behilflich, diese Frage aufrichtig zu beantworten. Ich fürchte, wir alle lassen es an dem fehlen, wor­an er es bei gewissen Gelegenheiten fehlen ließ, an Festigkeit, Männlichkeit und gewissenhafter Strenge. Ich fürchte, daß man bekennen muß, un­sere Güte werde, anstatt von Grundsätzen sich lei­ten und anfachen zu lassen, allzu oft schlaff und nichtssagend; sie werde an unpassenden Objekten und zu unrechter Zeit ausgeübt und sei daher in zweifacher Weise lieblos, einmal, weil sie gegen jene nachgiebig ist, die zurechtgewiesen werden sollten, und dann, weil sie es vorzieht, letztere zu schonen, anstatt jene zu lieben, die es wirklich verdienen. Wir sind überfein in der Behandlung der Sünde und des Sünders. Wir lassen es fehlen an der eifrigen Behütung der geoffenbarten Wahr­heiten, die Christus uns hinterlassen hat. Wir las­sen Menschen gegen die Kirche, ihre Vorschriften oder ihre Lehren sprechen, ohne ihnen Vorstellun­gen zu machen. Wir sondern uns von Häretikern nicht ab, ja wir wenden ein, dieses Wort sei lieb­los, und, wenn solche Worte uns entgegengehalten werden wie das Geheiß des heiligen Johannes, keine Gastfreundschaft ihnen zu gewähren, sind wir schnell mit der Antwort zur Hand, sie gingen uns nichts an. Ich kann nun kaum annehmen, irgendjemand beabsichtige, es wirklich als sicher hinzu­stellen, daß diese Gebote in der Gegenwart abge­schafft sind, und sei ganz damit zufrieden; es kann eher der Fall sein, daß Leute, die so sprechen, nur die Frage von sich abwälzen möchten. Sie haben längst vergessen, daß es solche Gebote in der Schrift gibt; sie haben gelebt, als gäbe sie es nicht, und, da sie nicht in Umständen waren, die unmittelbar zu ihrer Betrachtung aufriefen, haben sie ihren Geist mit einer entgegengesetzten Ansicht über die Sachlage vertraut gemacht und ihre Überzeugun­gen darauf gebaut. An die Tatsache erinnert, tut es ihnen leid, sie erwägen zu müssen, wie sie vielleicht zugestehen. Sie nehmen wahr, daß sie ihrem an­gewohnten Lebensstil widerspricht. Sie sind pein­lich berührt, nicht weil sie zugeben müssen, daß sie sich irren, sondern weil sie sich dessen bewußt sind, daß (wenigstens) ein glaubwürdiges Argument ge­gen sie aufgestellt werden kann. Anstatt nun zu wagen, diesem Argument freien Spielraum zu ge­währen, wie sie in Ehrlichkeit tun sollten, befrie­digen sie sich schnell damit, daß Einwände dagegen zugelassen werden können, sie bedienen sich unbe­stimmter Ausdrücke von Mißbilligung gegen jene, die es gebrauchen, greifen zurück auf ihre eigene übliche Ansicht von dem wohlwollenden und nach­sichtigen Geist des Evangeliums, bleiben darauf bestehen und schieben schließlich die Frage gänzlich auf die Seite, als ob sie ihnen nie unter die Augen gekommen wäre.

Beachtet, wie sie sich diese vom Halse schaffen; sie tun es, indem sie dieser Ansicht über das Christen­tum andere gegenüberstellen, die nach ihrer Mei­nung unverträglich mit ihr sind. Das eigentliche Problem hingegen, das christliche Pflicht uns zu lösen heißt, ist die Versöhnung entgegengesetzter Tugenden in unserem Lebenswandel. Es ist nicht schwierig (vergleichsweise gesprochen) einzelne Tu­genden zu pflegen. Einer sieht seine Pflicht nur von einer Seite her, ob streng oder mild, tätig oder be­schaulich, er verlegt sich darauf mit all seiner Kraft, er öffnet sein Herz ihrem Einfluß und läßt sich auf ihrem Strom vorantreiben. Das ist nicht schwer, denn es liegt darin keine sorgfältige Wachsamkeit oder Selbstverleugnung. Im Gegenteil, es liegt darin oft eine Freude, so auf ein und demselben Weg dahinzuschlendern; und besonders, wenn es sich um Schenken und Zubilligen handelt. Frei­gebigkeit ist immer populär, wem sie auch gelten mag, und sie erzeugt im Geber einen warmen Hauch von Freude und Selbstanerkennung, obwohl sie in sich kein Opfer einschließt, ja mit dem Eigentum anderer ausgeübt wird. So lassen sich Menschen in dem heiligen Bereich der Religion dazu verleiten, nicht aus irgendeinem schlechten Grundsatz, nicht aus jener gänzlichen Mißbilligung oder Unkenntnis der Wahrheit oder jener Selbsttäuschung heraus, die heutigentages die Hauptwerkzeuge Satans sind, noch auch aus bloßer Feigheit oder Weltlichkeit, sondern aus Gedankenlosigkeit, aus sanguinischem Temperament, aus der Erregung des momentanen Dranges und aus der Liebe, andere glücklich zu machen, aus Empfänglichkeit für Schmeicheleien und aus der Gewohnheit, nur nach einer Richtung zu schauen – ich sage, sie lassen sich dazu ver­leiten, die Wahrheiten des Evangeliums aufzu­geben, den verschiedenen irrigen Religionsgemein­schaften, die unter uns im Überfluß vorhanden sind, in unserer Kirche Einlaß zu gewähren oder unseren Gottesdienst so zu ändern, daß er den Spöttern, den Lauen oder den Lasterhaften zusagt. Gütig zu sein ist ihr einziges Handlungsprinzip; und wenn sie entdecken, daß an dem Glaubensbekenntnis der Kirche Anstoß genommen wird, beginnen sie dar­über nachzusinnen, wie sie es mildern oder zurecht­stutzen könnten, und zwar aus dem gleichen Gefühl heraus, das sie auch veranlassen würde, in einem Geldgeschäft freigebig zu sein oder einem anderen eine Gefälligkeit zu erweisen auf Kosten persön­licher Unannehmlichkeit. Da sie nicht begreifen, daß ihre religiösen Vorrechte ein anvertrautes Gut sind, das der Nachwelt ausgehändigt werden muß, ein heiliger, ein der christlichen Familie ange­stammter Besitz, und ihnen eher zur Nutznießung zu eigen gegeben, als zum Besitz, spielen sie den Verschwender und verschenken die Güter anderer mit offenen Händen. So reden sie z. B. gegen die Verdammungsausdrücke des athanasianischen Glaubensbekenntnisses oder die Androhung des Bannes[1] oder gegen gewisse Psalmen, und möchten sie abschütteln.

Ohne Zweifel lassen es sogar die Mustergültigsten unter diesen fehlen an der gebührenden Wert­schätzung der christlichen Mysterien und ihrer eigenen Verantwortlichkeit, sie zu bewahren und weiterzugeben. Manche aus ihnen jedoch sind so wahrhaft „gute“ Menschen, so liebenswürdig und mitfühlend, so wohlwollend gegen die Armen und genießen ein solches Ansehen bei allen Klassen, kurz, erfüllen so ausgezeichnet die Aufgabe, wie Lichter in der Welt zu leuchten, und sind Zeugen Dessen, „der Gutes tuend umherzog“ (Apg 10,38), daß jene, die am meisten ihre Schwäche beklagen, doch am ehesten sie persönlich zu entschuldigen wünschen, während sie es als Pflicht empfinden, ihnen zu widerstehen. Bisweilen kann es vorkom­men, daß diese Personen es nicht fertigbringen, Schlechtes von anderen zu denken, und mit Män­nern von häretischen Ansichten und unsittlichem Leben aus der gleichen gutmütigen Haltung heraus umgehen, die sie in weltlichen Angelegenheiten zu passenden Opfern für die Umtriebe der Listigen und Selbstsüchtigen macht. Sie klammern sich manchmal an bestimmten günstigen Charakter­seiten einer Person fest, die sie mißbilligen sollten, und sie bringen es nicht über sich, irgendeine an­dere als diese zu beachten. Dabei bringen sie vor, daß es ja eine fromme und wohlmeinende Person ist und daß ihre Irrtümer ihr offenbar nicht schaden. Demgegenüber geht die Frage nicht um ihre Wir­kungen auf diesen oder jenen Einzelmenschen, son­dern einfach darum, ob es tatsächlich Irrtümer sind, und ferner, ob sie nicht sicher für die große Masse oder, wie man sagt, auf die Dauer schädlich sind. Oder sie können es nicht ertragen, einen anderen durch den Ausdruck ihrer Mißbilligung zu verletzen, obwohl dadurch „seine Seele gerettet werden kann am Tage des Herrn“ (1 Kor 5, 5). Oder ihr Geist erkennt nicht scharf genug das sittliche Übel ge­wisser Überzeugungen, die sie nur für spekulativ ansehen; und da sie ihre Unwissenheit nicht ge­nügend kennen, um sich des privaten Urteils zu enthalten, noch genug Glauben besitzen, um auf Gottes Wort zu bauen oder auf die Entscheidung Seiner Kirche, ziehen sie sich die Verantwortung für ernste Überzeugungswechsel zu. Oder sie flüch­ten sich unter Umständen hinter irgendeine un­klare, aufgelesene Vorstellung von dem besonderen Charakter unserer eigenen Kirche, indem sie an­geben, sie gehörten zu einer toleranten Kirche, es sei nur folgerichtig wie auch billig für sie, in ihren Gliedern tolerant zu sein, und sie veranschaulichten nur die Toleranz in ihrem eigenen Leben, wenn sie mit Nachsicht jene behandelten, die in Glaube oder Sitte lax sind. Wenn man unter Toleranz unserer Kirche nur versteht, daß sie nicht die Anwendung von Feuer und Schwert gegen solche billigt, die sich von ihr trennen, dann wird sie insofern mit Recht eine tolerante Kirche genannt. Sie ist aber nicht tolerant gegen den Irrtum, wie jene Formulare selbst bezeugen, die diese Leute zu beseitigen wün­schen. Und wenn sie in ihrem Schoß stolze Geister und kalte Herzen und unreine Hände birgt und ihre Segnungen jenen ausspendet, die nicht glauben und ihrer unwürdig sind, kommt dies von anderen Ursachen her, gewiß nicht von ihrem Prinzip; sonst wäre sie der Sünde Helis schuldig, was man sich aber nicht vorstellen kann. So sehen also die Bei­spiele seelischer Schwäche aus, die uns in dem Be­richt über den heiligen Barnabas nahegelegt wer­den. Man versteht das noch klarer, wenn man ihn dem heiligen Johannes gegenüberstellt. Wir kön­nen die Guten in ihren einzelnen Vorzügen nicht miteinander vergleichen; aber auf die Frage, ob der eine oder andere dieser beiden Apostel größeren Anteil am Geist der Liebe hatte, wissen wir alle zu antworten, daß auf jeden Fall der Liebes jünger ihn überreichlich hatte. Sein allgemeiner Brief ist voll von Ermahnungen, um jene gesegnete Seelen­haltung zu nähren, und sein Name ist in unserem Gedächtnis mit solch himmlischen Eigenschaften verknüpft, die ganz unmittelbar damit verbunden sind – nämlich Beschaulichkeit, Heiterkeit der Seele und Klarheit des Glaubens. Nun seht, worin er sich von Barnabas unterschied; in der Verbin­dung der Liebe mit einer starken Treue zu „der Wahrheit, die in Jesus ist“ (Eph 4, 21). So wenig widersprechen seine Liebesglut und Liebesfülle sei­nem Eifer für Gott, daß er im Gegenteil, je mehr er die Menschen liebte, um so mehr ihnen die gro­ßen, unveränderlichen Wahrheiten kundzumachen wünschte, denen sie sich unterwerfen müssen, wenn sie das Leben sehen möchten, und vor denen eine schwache Nachgiebigkeit sie ihre Augen schließen läßt. Er liebte die Brüder, aber er „liebte sie in der Wahrheit“ (3 Joh 1). Er liebte sie um der lebendigen Wahrheit willen, die sie erlöst hatte, um der Wahr­heit willen, die in ihnen war, um der Wahrheit willen, die das Maß für ihre übernatürliche Beloh­nung war. Er liebte die Kirche so aufrichtig, daß er gegen jene streng war, die sie beunruhigten. Er liebte die Welt so weise, daß er die Wahrheit in ihr verkündigte. Wenn jedoch die Menschen sie verwarfen, dann liebte er sie nicht so ungeordnet, daß er den Vorrang der Wahrheit als des Wortes Dessen, der über allem ist, vergaß. Nie sollen wir also übersehen, wenn wir uns von diesem heiligen Apostel, diesem überirdischen Propheten, ein Bild machen wollen, der sich von der Schau und den Stimmen der Geisterwelt nährte und Tag für Tag himmelwärts nach Dem ausschaute, den er einst im Fleisch gesehen hatte, daß gerade er es ist, der uns jenes Gebot gibt, die Häretiker zu meiden, das immerhin, ob heute in Kraft oder nicht, gewiß zu allen Zeiten ernsthaft verpflichtet (wie man heute sagt). Wir sollten auch nicht vergessen, daß dieses sein Gebot ganz übereinstimmt mit den furchtbaren Beschreibungen, die er in anderen Teilen seiner inspirierten Schriften von der Gegenwart, dem Ge­setz und den Gerichten des allmächtigen Gottes gibt. Wer kann bestreiten, daß die Geheime Offen­barung von Anfang bis zu Ende ein wirklich furcht­bares Buch ist; ich möchte sagen das furchtbarste Buch in der Schrift, voll von Schilderungen des gött­lichen Zornes? Und doch ist es geschrieben vom Apostel der Liebe. Es ist also möglich, zugleich gütig zu sein wie Barnabas und doch voll des Eifers

wie Paulus. Strenge und Milde führten keinen scharfen Kampf“ (Hebr 10, 32) in der Brust des Lieblingsjüngers; sie fanden trotz Verschiedenheit in der Ausübung ihre vollkommene Einheit in der Gnade der Liebe, die die Erfüllung des ganzen Gesetzes ist.

Ich wünschte, ich sähe irgendeine Hoffnung für diese Art von Eifer und heiliger Strenge unter uns emporsprießen, um das schlaffe, nichtssagende Wohlwollen zu stählen und zu festigen, das wir fälschlich christliche Liebe nennen. Ich habe keine Hoffnung für mein Heimatland, bis ich das sehe. Es gibt unter uns viele religiöse und ethische Rich­tungen, und sie alle geben vor, auf die eine oder andere Art das anzupreisen, was sie als die Grund­lage der Liebe betrachten; aber was ihnen mangelt, ist ein starkes Festhalten an jenem Kennzeichen der göttlichen Natur, das in Herablassung zu unserer Schwachheit vom heiligen Johannes und seinen Brüdern der Zorn Gottes genannt wird. Man be­achte dies wohl. Es gibt Menschen, die Verteidiger des Nützlichkeitsstandpunktes sind; soweit diese überhaupt religiös sind, lösen sie das Gewissen in einen Instinkt reinen Wohlwollens auf und führen das ganze Vorgehen der Vorsehung gegenüber den Geschöpfen auf ein und dieselbe Eigenschaft zurück. Daher sehen sie jede Strafe als heilwirkend an, als Mittel zum Zweck, sie leugnen, daß das den Sün­dern angedrohte Wehe von ewiger Dauer ist, und sie erklären die Lehre von der Sünde hinweg. An­dere gibt es, die die Religion in die bloße Betä­tigung gehobener Gefühle verlegen; und auch diese schauen auf ihren Gott und Heiland, d. h. soweit es sie selbst betrifft, nur als auf einen Gott der Liebe. Sie reden sich ein, daß sie von der Sünde zur Gerechtigkeit bekehrt werden durch die bloße Offen­barung jener Liebe an ihrer Seele, mit der Gott sie an Sich zieht; und sie bilden sich ein, daß jene gleiche Liebe, unerschöpflich trotz aller möglichen Übertretungen ihrerseits, sicher jeden so Auser­wählten zum endgültigen Triumph führen werde. Da sie überdies damit rechnen, daß Christus bereits alles für ihre Rettung getan hat, fühlen sie nicht die Notwendigkeit einer sittlichen Änderung auf ihrer Seite oder sie nehmen vielmehr an, daß die Schau der geoffenbarten Liebe diese in ihnen spon­tan bewirkt. In beiden Fällen befreien sie sich von allen mühseligen Anstrengungen, von allem „Fürchten und Zittern“, aller Selbstverleugnung im „Wirken ihres Heiles“ (Phil 2,12), ja sie schauen mit Verdacht auf solche Bestimmungen, da sie zu einem eingebildeten Selbstvertrauen und zu geist­lichem Stolz führten. Weiterhin gibt es Anhänger einer mystischen Geistesrichtung, mit ungezähmter Vorstellungskraft und scharfsinnigem Verstand, die den Theorien der alten heidnischen Philosophen folgen. Auch diese pflegen die Liebe zu dem ein­zigen Prinzip des Lebens und der Vorsehung im Himmel und auf Erden zu machen, als ob sie ein durchdringender Geist der Welt wäre, der in jedem Herzen Mitgefühl findet, alle Dinge in sich aufsaugt und ein freudiges Entzücken in allen entzündet, die ihn schauen. Sie sitzen daheim und grübeln und trennen sittliche Vollkommenheit vom Handeln. Diese Leute nehmen entweder an oder sind auf dem Weg dazu anzunehmen, die menschliche Seele sei von Natur aus rein; die Sünde sei ein äußeres Prinzip, das sie verdirbt; das Böse sei bestimmt zur endgültigen Vernichtung; die Wahrheit werde er­worben mittels der Einbildungskraft; das Gewissen sei eine Geschmackssache; die Heiligkeit eine passive Schau Gottes; und der Gehorsam eine bloße Ver­gnügungssache. Es ist schwer, genau zwischen diesen drei Richtungen zu scheiden, ohne Worte von un­schicklicher Alltäglichkeit zu gebrauchen; ich habe jedoch genug gesagt für jene, die der Frage nach­gehen möchten. Man beachte also, daß diese drei Systeme, wie verschieden sie auch voneinander in ihren Prinzipien und in ihrem Geist sein mögen, doch alle in dieser einen Hinsicht übereinstimmen, nämlich: sie übersehen, daß der christliche Gott in der Schrift nicht nur als ein Gott der Liebe darge­stellt ist, sondern auch als „ein verzehrendes Feuer“ (Hebr 12, 29). Da sie das Zeugnis der Schrift ver­werfen, kein Wunder, daß sie auch das des Ge­wissens verwerfen, das unzweifelhaft dem Sünder Schlimmes prophezeit, aber, wie der engstirnige reli­giöse Schwärmer behauptet, keineswegs die Stimme Gottes ist – oder nach den Anhängern des Utilitarismus bloße Güte -, oder im Urteil der mehr mystischen Richtung eine Art Leidenschaft für das Schöne und Erhabene. Weil sie nur „die Güte“ und nicht „die Strenge Gottes“ sehen, ist es kein Wun­der, daß sie ihre Lenden entgürten und verweich­licht werden. Kein Wunder, daß ihre ideale Vor­stellung von einer vollkommenen Kirche eine Kirche ist, die jeden seinen Weg gehen läßt und auf jedes Recht verzichtet, eine Ansicht zu äußern, erst recht einen Urteilsspruch über religiösen Irr­tum zu verhängen.

Aber jene, die sich und andere in der Gefahr einer ewigen Verdammung glauben, wagen nicht so nach­giebig zu sein. Hier nun liegt unsere Not heutzu­tage, darum müssen wir beten, daß eine Erneuerung kommen möge in dem Geist und in der Kraft des Elias. Wir müssen Gott bitten, Er möge so „Sein Werk im Lauf der Jahre erneuern“ (Hab 3, 2); uns eine strenge Zucht senden, die Losung des heiligen Paulus und des heiligen Johannes, nämlich „die Wahrheit in Liebe zu künden“ (Eph 4,15) und „zu lieben in der Wahrheit“ (2 Joh 1; 3 Joh 1); Er möge senden einen Zeugen Christi, „der weiß, daß der Herr zu fürchten ist“ (2 Kor 5,11); unmittelbar aus der Gegenwart von Dem, „dessen Haupt und Haare weiß sind wie Wolle, so weiß wie Schnee und dessen Augen wie Feuerflammen sind … und aus dessen Mund ein scharfes Schwert ging“ (Offb 1,14.16); – einen Zeugen, der nicht davor zurückschreckt, Seinen Zorn zu verkünden als ein wirkliches Merk­mal Seiner herrlichen Natur, wenngleich dies nur ein Ausdruck in menschlicher Sprache ist um unseretwillen, der kundtut die Enge des Lebensweges, die Schwierigkeit, den Himmel zu erwerben, die Gefährlichkeit des Reichtums, die Notwendigkeit, unser Kreuz auf uns zu nehmen; die Erhabenheit und Schönheit der Selbstverleugnung und Strenge, die Gefahr, am katholischen Glauben zu zweifeln, und die Pflicht, voll Eifer dafür einzustehen. So nur kommt die Botschaft der Barmherzigkeit mit Ge­walt zu den Seelen der Menschen, mit einer zwin­genden Macht und einem bleibenden Eindruck, wenn Hoffnung und Furcht zusammengehen. Dann nur sind die Christen erfolgreich im Kampf, „wenn sie sich als Männer bewähren“, die Wut der Welt besiegen und zügeln und die Kirche in Reinheit und Kraft erhalten, und wenn sie ihre Gefühle durch strenge Zucht niederhalten und inmitten von Festig­keit, Strenge und Heiligkeit Liebe üben. Unter dem Segen und der Gnade Dessen, der sowohl der Geist der Liebe wie der Wahrheit ist, können wir nur dann gedeihen, wenn das Herz des Paulus uns ge­währt ist, so daß wir auch Petrus und Barnabas widerstehen, wenn sie je sich von rein menschlichen Gefühlen übermannen lassen, so daß wir „von nun an niemand dem Fleische nach kennen“ (2 Kor 5, 16), den Schwestersohn oder nähere Verwandte von uns fernhalten, ihren Anblick, die Hoffnung auf sie und das Verlangen nach ihnen aufgeben, wenn Er befiehlt, der auch den Einsamen Freunde erweckt, falls sie auf Ihn vertrauen. Und Er wird uns schließlich „in Seinen Mauern einen besseren Namen geben als den von Söhnen und Töchtern, einen ewigen Namen, der nicht untergehen soll“ (Is 56, 5).

Newman John Henry, Pfarr- und Volkspredigten, DP II, 23, Schwabenverlag, Stuttgart 1950, 303-321.


[1] Gemeint ist ein Gebet im Prayer-Book. – A.d.Ü.