Wachen

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„Habt acht; wachet und betet, denn ihr wisset nicht, wann es Zeit ist“ (Mk 13,33).

Unser Heiland gab diese Mahnung, als Er im Be­griffe stand, diese Welt zu verlassen, – zu verlas­sen nämlich, soweit es sich um Seine sichtbare Ge­genwart handelt. Er schaute auf die vielen Jahr­hunderte voraus, die bis zu Seiner Wiederkunft ver­gehen sollten. Er kannte Seine und Seines Vaters Absicht, die Welt mehr und mehr sich selbst zu überlassen, ihr allmählich die Zeichen Seiner gnä­digen Gegenwart zu entziehen. Er sah vor Sich, da Er auf alles sieht, die Gleichgültigkeit gegen Ihn, wie sie sich selbst unter Seinen ausgesprochenen Jüngern ausbreiten würde: den frechen Ungehor­sam und die laute Sprache, die viele von denen, die Er zum neuen Leben erweckt hatte, gegen Ihn und Seinen Vater zu führen sich erdreisten würden. Er sah auf die Kälte, auf die Feigheit, auf die Laxheit gegenüber dem Irrtum, die auch bei andern zutage treten würde, die sich nicht dazu hinreißen ließen, gegen Ihn zu reden oder aufzutreten. Er schaute die Lage der Welt und der Kirche voraus, wie wir sie heute sehen; Seine lange Abwesenheit ließ ja den Gedanken praktisch heranreifen, daß Er nie wie­derkommen werde in sichtbarer Gegenwart. Im Vorspruch jedoch flüstert Er uns gnädig ins Oh uns auf das Sichtbare nicht zu verlassen, uns an dem allgemeinen Unglauben nicht zu beteiligen, uns vor der Welt nicht forttreiben zu lassen, sondern „acht zu haben, zu wachen, zu beten“ und nach Seine Ankunft auszuschauen.

Fürwahr, diese gütige Mahnung sollte stets unser Gedankenleben beherrschen, ist sie doch so bestimmt, so feierlich, so ernst. Er hat Seine erst Ankunft vorausgesagt und doch überraschte Er Seine Kirche, als Er kam; noch viel unvermittelte wird Er zum zweitenmal kommen und die Mensche überraschen, jetzt, da Er die Zwischenzeit nicht wie damals abgegrenzt, sondern es unserer Wachsamkeit überlassen hat, Glaube und Liebe zu bewahre Wir wollen also diese äußerst ernste Frage übe legen, die jeden von uns so stark angeht. Was heiß es, Christus entgegen-wachen? Er sagte: „Wachet daher, denn ihr wisset nicht, wann der Herr d Hauses kommt; am Abend oder um Mitternacht oder zum Hahnenschrei oder am Morgen; damit E wenn Er plötzlich kommt, euch nicht schlafend finde. Und was Ich euch sage, das sage Ich allen: Wachet (Mk 13,3537). Und wiederum: „Wenn der Hausvater wüßte, zu welcher Stunde der Dieb kommt, würde er sicherlich wachen und nicht in sein Haus einbrechen lassen“ (Lk 12, 39) Eine ähnliche Warnung findet sich auch sonst, sowohl seitens unser Herrn wie auch Seiner Apostel. Da ist z. B. die Parabel von den zehn Jungfrauen, von denen fünf klug und fünf töricht waren; zu ihnen kam d Bräutigam nach einigem Verzug plötzlich, und fünf davon fanden sich ohne Öl. Daraufhin sagt uns Herr: „Wachet also, denn ihr wisset weder den Tag noch die Stunde, wann der Menschensohn komm“ (Mt 25, 13). Und nochmals sagt Er: „Hütet euch, daß eure Herzen nicht etwa belastet werden mit Völlerei, Trunkenheit und den Sorgen des Lebens und jener Tag euch nicht plötzlich überrasche; denn wie eine Schlinge wird er kommen über alle, die auf dem Erdboden wohnen. Darum wachet und betet allzeit, damit ihr würdig erachtet werdet, allem dem zu entgehen, was da kommen wird, und zu bestehen vor dem Menschensohne“ (Lk 21, 34-36). Auf ähnliche Weise tadelte Er Petrus: „Simon, du schläfst? Konntest du nicht eine Stunde mit Mir wachen?“ (Mk 14, 37). So schreibt der heilige Paulus in seinem Brief an die Römer: „Nun ist es hohe Zeit, vom Schlafe aufzuwachen. Die Nacht ist vorgerückt, der Tag hat sich genaht“ (Rom 13,11. 12). Nochmals: „Seid wachsam, stehet fest im Glauben, handelt männlich und seid stark“ (1 Kor 16,13). „Seid stark im Herrn und in der Macht Seiner Kraft ziehet an die Rü­stung Gottes, damit ihr bestehen könnet gegen die Nachstellungen des Teufels…, damit ihr am bösen Tage widerstehen könnet und dasteht völlig kampf­bereit“ (Eph 6, 1013). „So lasset uns denn nicht schlafen wie die übrigen, sondern wachen und nüch­tern sein“ (1 Thess 5, 6). So auch der heilige Petrus: „Das Ende aller Dinge ist nahe. So seid nüchtern und wachet, damit ihr beten könnt.“ „Seid nüchtern und wachet, denn euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge“ (1 Petr 4, 7; 5, 8). Und der hei­lige Johannes: „Siehe, Ich komme wie ein Dieb; selig, der da wacht und seine Kleider bewahrt“ (Offb l6,15).

Ich bin der Ansicht, daß dieses Wort vom Wachen, das zuerst von unserem Herrn gebraucht wurde, dann von seinem Lieblingsjünger, dann von beiden großen Aposteln Petrus und Paulus, ein bedeutsames Wort ist; bedeutsam, weil sein Sinn nicht so an der Oberfläche liegt, wie es auf den ersten Blick scheinen möchte, sodann, weil sie all so sehr darauf bestehen. Wir sollen nicht einfach glauben, sondern wachen; nicht einfach lieben, sondern wachen; nicht einfach gehorchen, sondern wachen; wachen wozu? Auf jenes große Ereignis hin: die Ankunft Christi. Mögen wir nun auf nächstliegende Bedeutung des Wortes achten, oder auf das Ziel, auf das es uns hinführt, man sieht offenbar, daß uns eine besondere Pflicht auferlegt ist, wie sie uns nicht von selber zum Bewußtsein kommt. Die meisten von uns haben eine allgemeine Vorstellung von dem, was es heißt: glauben, fürchten, lieben und gehorchen; aber wir überdenken oder begreifen kaum, was das heißt: wachen.

Ich glaube, dieses ist eines der Hauptmerkmale, erfahrungsgemäß auf ganz praktische Weise die wahren und vollkommenen Diener Gottes von der Masse der sogenannten Christen unterscheidet; denen, die, ich will nicht sagen falsch und verworfen, aber solcher Art sind, daß wir über sie nicht viel sagen, noch auch uns vorstellen können, was aus ihnen werden soll. Versteht meine Worte nicht so, als wollte ich sagen, was mir fern liegt, wir könnten sicher bestimmen, welches die vollkommenen Christen und welches die zwiespältigen und unvollkommenen sind; oder als wollte ich sagen, daß jene, die sich über diese Fragen unterhalten und sie betonen, notwendig auf der rechten Wegseite wandeln. Ich spreche nur von zwei Geistesverfassungen: von der wahren und folgerichtigen und von der unbeständigen; sie aber wird man, sage ich, in nicht geringem Maß unterschieden und ge­kennzeichnet finden durch dieses eine Merkmal: die wahren Christen wachen, wer immer sie sein mö­gen, und die unbeständigen tun es nicht. Was aber heißt wachen?

Ich meine, es läßt sich auf folgende Weise erklären. Kennt ihr wohl aus der Erfahrung dieses Lebens das Gefühl, das ihr heget, wenn ihr auf einen Freund wartet, auf seine Ankunft, und er zögert? Wisset ihr, was es heißt, in unangenehmer Gesell­schaft sein und sich wünschen, die Zeit möge ver­fliegen, und es möchte die Stunde schlagen, da man sich freimachen kann? Wißt ihr, was es heißt, in Angst sein, es könnte etwas eintreten, das kommen kann oder nicht, oder in Spannung sein auf ein wichtiges Ereignis, das das Herz schon beim bloßen Gedanken daran schlagen läßt und das euer erster Gedanke am Morgen ist? Wißt ihr, was es heißt, einen Freund in einem fernen Land haben, von ihm Nachricht erwarten und Tag für Tag darauf gespannt sein, was er jetzt gerade tut oder ob es ihm gut geht? Wißt ihr, was das heißt, mit einem Menschen, den man um sich hat, so zusammen­leben, daß euer Auge dem seinigen folgt, daß ihr in seiner Seele lest, daß ihr jeden Wechsel in sei­nem Antlitz beobachtet, seine Wünsche erahnt, daß ihr lächelt, wenn er lächelt, trauert, wenn er trauert, gedrückt seid, wenn er bedrängt ist, und seiner Erfolge euch freuet? Für Christus wach sein ist ein Gefühl wie alle diese, soweit Gefühle dieser Welt imstande sind, die einer anderen Welt widerzu­spiegeln.

Der ist wach für Christus, der ein empfindendes, sehnsüchtiges und fühlendes Herz besitzt; der mit frischer Kraft, mit scharfsichtigem Eifer darauf bedacht ist, Ihn zu suchen und zu ehren; der in alle was geschieht, nach Ihm ausschaut und nicht über rascht, nicht allzu erregt oder überwältigt wäre, wenn er entdeckte, daß Er plötzlich käme. Und der wacht mit Christus, der in die Zukunft, zugleich aber auch in die Vergangenheit blickt, der bei der Betrachtung dessen, was sein Erlöser für ihn erwarb, nicht vergißt, was Er für ihn gelitten hat. Der wacht mit Christus, der den Gedanken Christi Kreuz und Todesangst stets in sich trägt und in seiner eigenen Person nacherfährt; der freudig den Leidensmantel aufhebt, den Christus hienieden trug und bei Seiner Himmelfahrt hinterließ. Wenn daher die heiligen Verfasser in ihren Briefen ihre Sehnsucht nach Seiner zweiten Ankunft ausdrücken, so bekunden sie jedesmal, daß sie sich auch an die erste erinnern, und angesichts Seiner Auferstehung verlieren sie nie Seine Kreuzigung aus dem Auge. Wenn daher der heilige Paulus die Römer daran erinnert, daß sie „auf die Erlösung des Leibes am Jüngsten Tage harren“, dann sagt er auch: „Wenn wir mit Ihm leiden, werden wir auch mit Ihm gleich verherrlicht werden“ (Röm 8, 17. 23). Spricht er zu den Korinthern von der „Erwartung Ankunft unseres Herrn Jesus Christus“, dann spricht er auch davon, daß sie „immer das Sterben des Herrn Jesu am Leib tragen, damit auch Leben Jesu an unserem Leibe sichtbar werde (1 Kor 1, 7; 2 Kor 4, 10). Predigt er den Philippern „die Kraft Seiner Auferstehung“, dann fügt er fort hinzu, „die Gemeinschaft Seiner Leiden, indem ich Ihm ähnlich werde im Tod“ (Phil 3,10). Tröstet er die Kolosser mit der Hoffnung: „Wenn Christus erscheinen wird, dann werdet auch ihr erscheinen mit Ihm in Herrlichkeit“ (Kol 3, 4), dann hat er schon erklärt, daß er „in seinem Fleische ersetze, was mangelt an den Leiden Christi für Seinen Leib, welcher die Kirche ist“ (Kol 1, 24). So darf der Gedanke an das, was Christus ist, uns nicht vergessen lassen den Gedanken an das, was Er war; und der Glaube ist allezeit mit Ihm betrübt, indes er sich freut. Die gleiche Einheit von gegen­sätzlichen Gedanken prägt sich uns ein in der hei­ligen Kommunion, bei der wir Christi Tod und Auferstehung zu ein und derselben Zeit beisammen sehen; wir gedenken des einen und freuen uns des andern; wir bringen ein Opfer dar und empfangen einen Segen.

Das also heißt wachen: vom Gegenwärtigen los­geschält sein und im Unsichtbaren leben; im Ge­danken an Christus leben, wie Er einstens kam und wie Er wieder – kommen wird; nach Seiner zwei­ten Ankunft verlangen in herzlichem und dank­barem Gedenken an Seine erste. Und gerade hierin finden wir, fehlen die Menschen gewöhnlich am meisten. Sie sind zwar auch ohne Glauben und ohne Liebe; nur geben sie wenigstens vor, sie hätten diese Tugenden, und es ist nicht leicht, sie davon zu überzeugen, daß sie sie nicht haben. Vermeinen sie doch schon Glauben zu haben, wenn sie zugeben, daß die Bibel von Gott ist oder daß sie sich für ihre Rettung ganz auf Christus verlassen. Und ver­meinen sie doch, Liebe zu haben, wenn sie einige der selbstverständlichsten Gebote halten. Liebe und Glauben vermeinen sie zu haben; aber sicher ist, sie bilden sich nicht einmal ein, daß sie wachen. Was wachen bedeutet und daß es eine Verpflichtung ist, davon haben sie keinen bestimmten Begriff; und so geschieht es ganz beiläufig, daß Wachen ein geeigneter Prüfstein für den Christen ist, weil es jene besondere Eigentümlichkeit von Glauben und Liebe darstellt, die die Menschen dieser Welt nicht für sich in Anspruch nehmen, obwohl sie etwas Wesenhaftes ist; jene besondere Eigentümlichkeit nämlich, die das Leben oder die Lebenskraft Glaubens und der Liebe ist, die in Ausdrucksform, in der Glaube und Liebe zutage treten, sofern sie echt sind.

Es ist leicht, meinen Gedanken am Beispiel der täglichen Lebenserfahrung, die wir alle haben, zu veranschaulichen. Es gibt zwar viele offene Verspötter der Religion oder wenigstens Verächter ihrer Gesetze; aber wir wollen jene ins Auge fassen, die von verständigerer und gewissenhafterer Sinnesart sind. Sie besitzen eine Anzahl guter Eigenschaften und sind in einem gewissen Sinn und bis zu einem gewissen Punkt religiös; aber sie wachen nicht. Ihr Begriff von Religion ist kurz dieser: Sie lieben zwar Gott, aber sie lieben auch die Welt. Sie tun nicht nur ihre Pflicht, sondern sie sehen ihr hauptsächlichstes und höchstes Gut in jener Lebensstellung, zu der Gott sie in seiner Güte berufen hat, beharren darin und sehen sie als ihr Los an. Sie dienen Gott und suchen Ihn; aber blicken auf die gegenwärtige Welt, als wäre der ewige, nicht lediglich der zeitliche Schauplatz ihrer Pflichten und Vorrechte, und bedenken nie das künftige Los, nämlich daß sie sich von ihr trennen müssen. Nicht daß sie Gott vergäßen oder grundlos lebten oder übersähen, daß die Güter dieser Erde Gottes Gaben sind: aber sie lieben sie mehr um ihrer selbst als um ihres Gebers willen und rechnen damit, daß sie bestehen bleiben, als hätten sie dieselbe Dauer, wie ihre religiösen Pflichten und Vorrechte sie haben. Sie begreifen nicht, daß es ihr Stand ist, Fremdlinge und Pilger auf Erden zu sein, und daß ihr weltlicher Anteil und ihre weltlichen Güter eine Art Zugabe zu ihrer Existenz sind und daß sie in Wahrheit kein Eigen­tum besitzen, auch wenn das menschliche Gesetz ihnen Eigentum zubilligt. Sie verschenken dem­gemäß ihr Herz an ihre Güter, große und kleine, nicht daß sie darum ohne religiöses Lebensgefühl wären, aber gleichwohl sind sie abgöttisch. Darin besteht ihr Fehler, daß sie Gott und Welt gleich­setzen und daher mit der Welt Götzendienst trei­ben; so haben sie sich der Mühe entledigt, Gott zu suchen, da sie glauben, Ihn in den Gütern dieser Welt gefunden zu haben. Während sie also wirk­lich in vielen Dingen ihres Verhaltens Lob ver­dienen, wohltätig, liebenswürdig, freundlich, nach­barlich und für ihr Geschlecht nützlich sind, ja sogar ihre gewöhnlichen religiösen Pflichten, wie der Brauch sie gebietet, regelmäßig verrichten; wäh­rend sie viel echtes und herzliches Mitgefühl zeigen, in ihren Anschauungen korrekt sind, ja selbst mit der Zeit in Charakter und Haltung sich empor­arbeiten, viel Mangelhaftes an sich verbessern, größere Herrschaft über sich gewinnen, im Urteil reif sind und infolgedessen viel Achtung genießen: so ist dennoch offenbar, daß sie diese Welt lieben, sie sehr ungern verlassen möchten und noch mehr von ihren Gütern zu besitzen wünschen. Sie lieben Reichtum, Ehre, Ansehen und Einfluß. Sie können sich in ihrer Lebensführung vervollkommnen, aber nie in ihren Zielen; sie kommen vorwärts auf nie­derer Ebene, aber ginge ihr Weg auch Jahrhun­derte lang, sie würden sich nie über die Atmosphäre dieser Erde erheben. „Auf meine Warte will ich mich stellen und meinen Fuß auf die Feste setzen; ich will umschauen, um zu sehen, was Er mir sage und was ich antworten soll, wenn ich getadelt werde“ (Hab 2,1). Diese Geisteshaltung fehlt ihnen. Und bedenken wir, wie selten auch unter ausprochenen Christen sie sich findet, dann erkennen wir, warum unser Herr sie mit solchem Nachdruck einschärft, als wollte Er sagen: „Ich warne e Meine Jünger, nicht vor dem offenen Abfall, das wird nicht geschehen -, aber Ich sehe voraus daß sehr wenige während Meiner Abwesenheit wach halten und wachsam bleiben werden. Selig Knechte, die dies tun; nur wenige öffnen Mir gleich, wenn ich klopfe. Zuerst müssen sie d tun: sie müssen sich bereit machen; sie müssen sich zuerst von den Schrecken und der Verwirrung holen, die bei der ersten Kunde Meines Kommens sie überfällt, und brauchen Zeit, sich zu sammeln zuerst müssen sie ihre besseren Gedanken Empfindungen wachrufen. Sie fühlen sich sehr wohl in dem, wie sie sind, und möchten Gott so die wie sie sind. Sie sind es zufrieden, auf Erden bleiben zu können, und haben kein Verlangen abzutreten; sie wünschen keine Veränderung.“ Ohne solchen Menschen das Lob zu versagen, dass sie viele religiöse Gewohnheiten und Übungen pflegen, möchte ich doch behaupten, daß ihnen zarte und empfindsame Herz fehlt, das mit seinem Denken Christus anhängt und in Seiner Liebe lebt. Der Atem der Welt hat eine besondere Kraft, die Seele sozusagen mit einer Kruste zu überziehen. Der Spiegel in ihnen, der den Sohn Gottes, ihren Heiland, widerspiegeln sollte, ist trüb und fleckig geworden; und obwohl sie (um mich eines gewöhnlichen Ausdruckes zu bedienen) viel Gutes in haben, so ist es eben nur in ihnen, es kommt nicht durch sie, ist nicht um sie und über ihnen. Eine üble Kruste lagert auf ihnen; sie denken mit der Welt und sind angefüllt mit weltlicher Begriffs­und Sprechweise; sie berufen sich auf die Welt und umgeben das Urteil der Welt mit einer Art von Ehrerbietung. Es fehlt ihnen die Natürlichkeit, Ein­falt und kindliche Gelehrigkeit. Es ist schwer, mit ihnen in Kontakt zu kommen oder, wie man es nennen möchte, an sie heranzukommen und sie dazu zu bringen, im Religiösen den geraden Weg zu gehen. Sie biegen ab, wenn man es am wenigsten erwartete; sie haben ihre Vorbehalte, erfinden Unterscheidungen, gestatten sich Ausnahmen, er­gehen sich in Spitzfindigkeiten, wo es sich um Fra­gen handelt, die tatsächlich nur zwei Seiten haben, eine richtige und eine falsche. Ihre religiösen Emp­findungen brechen gerade dann nicht leicht durch, wenn sie durchbrechen sollten; entweder sind sie mißtrauisch und wissen nichts vorzubringen, oder sie sind im Gespräch gekünstelt und wortkarg. Und wie der Rost das Metall angreift und sich einfrißt, so dringt dieser Weltgeist immer tiefer in ihre Seele, hat sie ihm einmal Zutritt gewährt. Das aber ist, wie mir scheint, das eine große Ziel der Heimsuchungen, diese äußeren Unschönheiten ab­zuschleifen und wegzuwischen und die Seele wenig­stens in etwa in ihrer Taufreinheit und Taufherr­lichkeit zu erhalten.

Es ist sicherlich nicht zu bezweifeln, daß ganze Scharen innerhalb der Kirche die geschilderte Ver­fassung haben und daß sie unseren Herrn bei Sei­nem Kommen weder ohne weiteres begrüßen woll­ten, noch könnten. Freilich können wir das Gesagte nicht auf diesen oder jenen einzelnen .anwenden, aber auf das Ganze, auf die große Menge gesehen, ist eine Täuschung nicht möglich. Ausnahmen m es geben; aber bei allen erdenklichen Abzügen verbleibt gewiß ein großer Teil von solchen Zwittergestalten, die auf diese Weise das Unvereinbare vereinen suchen. Dessen können wir versichert se auch wenn unser Herr nichts davon gesagt hätte aber es ist ein bewegender und erhabener Gedanke, daß Er unsere Aufmerksamkeit tatsächlich gera auf diese Gefahr gelenkt hat, auf die Gefahr ein verweltlichten Religiosität, denn so darf man es nennen, wenngleich es Religiosität ist; auf die Mischung von Religion und Unglaube, die zwar Gott dient, aber die Mode, die Ehren, Freuden und Bequemlichkeiten dieses Lebens liebt; die Befriedigung darüber empfindet, in glücklichen Verhältnissen zu sein, die Pomp und Eitelkeit liebt, wählerisch ist in Speise, Kleidung, Wohnung, Einrichtung und Hausrat, die den Großen den Hof macht und nach hoher Stellung in der Gesellschaft strebt. Er warnt Seine Jünger vor der Gefahr, ihre Gedanken aus irgendwelcher Ursache Ihm entfremden zu lassen; Er warnt sie vor jeder Reizung, jeder Verlockung der Welt; Er macht sie ernstlich darauf aufmerksam, daß die Welt auf Seine Ankunft nicht werde vorbereitet sein, und beschwört sie in aller Liebe, sich mit der Welt nicht einzulassen. Er warnt sie durch das Beispiel des Reichen, dessen Seele angefordert wird, des Dieners, der aß und trank, wie auch der törichten Jungfrauen. Wenn Er kommt, dann wollen sie samt und sonders noch mehr Zeit; ihr Kopf ist verwirrt, ihre Augen tränen, ihre Zunge stockt, ihre Glieder schlottern, wie bei einem, der plötzlich aufschreckt. Sie vermögen ihre Sinne und Kräfte nicht sofort zu sammeln. Welch schrecklicher Gedanke! Der Brautzug bewegt sich vorüber: da sind die Engel, da sind die vollkommenen Gerechten, kleine Kinder und hei­lige Lehrer, Heilige in weißen Kleidern, Märtyrer, gewaschen in ihrem Blut; die Hochzeit des Lammes ist da, und Seine Braut hat sich bereitet. Schon steht sie in ihrem Schmuck; während wir schliefen, hat sie sich die Gewänder angetan; hat Juwel zu Juwel gefügt und Anmut zu Anmut; sie hat ihre Erwählten gesammelt, einen um den andern, und hat sie in Heiligkeit gebildet und für den Herrn gereinigt. Nun ist die Hochzeitsstunde gekommen. Hernieder steigt das heilige Jerusalem, und eine laute Stimme verkündet: „Seht, der Bräutigam kommt, auf, Ihm entgegen!“ [Mt 25, 6] Aber wir, ach wir sind nur vom Lichtglanz geblendet und begrüßen weder die Stimme, noch folgen wir ihr. Und wozu wird uns dies alles dienen? Was wird dann unser Gewinn sein? Was wird diese Welt dann für uns getan haben? Diese elende, trüge­rische Welt, die nun im Feuer untergehen wird, nicht imstande, weder uns zu helfen, noch sich selbst zu retten. Eine Stunde zum Erbarmen wird es dann sein, wenn das volle Bewußtsein davon über uns hereinbricht, was wir jetzt nicht glauben wollen, nämlich, daß wir jetzt tatsächlich nur der Welt dienen. Wir spielen jetzt mit unserem Gewissen, wir betrügen unser besseres Urteil; wir weisen zurück die Warnungen derer, die uns vorhalten, daß wir mit dieser vergänglichen Welt gemein­same Sache machen. Wir wollten gern etwas von ihren Freuden genießen und ihre Wege gehen und halten es für harmlos, wenn wir nur dabei die Religion nicht gänzlich außer acht lassen. Ich meine, wir gestatten uns zu begehren, was wir nicht haben, uns zu brüsten mit dem, was wir haben, herabzuschauen auf jene, die weniger haben; oder wir er­kühnen uns, offen auszusprechen, was wir nicht zu üben versuchen, Streitreden zu führen, um als Sie­ger dazustehen, und zu debattieren, wo wir gehor­chen sollten. Wir sind stolz auf unsere Verstan­deskraft, halten uns für aufgeklärt, verachten an­dere, die über sich selbst weniger vorzubringen wis­sen, und stellen unsere eigenen Theorien auf und verteidigen sie; oder wir sind überängstlich, ver­stimmt und abgehärmt wegen weltlicher Dinge gehässig, feindselig, eifersüchtig, unzufrieden und bösartig: auf diese oder jene Weise halten wir e mit dieser Welt und wollen es nicht wahr haben Wir weigern uns hartnäckig, es zuzugeben; wir wissen, daß wir nicht gänzlich unreligiös sind, und reden uns ein, wir seien religiös. Wir befreunden uns mit dem Gedanken, daß es möglich ist, über trieben religiös zu sein; wir haben uns eingeredet es gäbe in der Religion nichts Hohes und Niedriges keine große Betätigung unserer Liebe, keinen rechten Nährboden für unsere Gedanken und keine bedeutende Aufgabe für unser Schaffen. Wir wandeln dahin in Selbstgenügsamkeit und Selbstbetrug und schauen nicht über uns selbst hinaus; wir stehen nicht Wache wie Soldaten in dunkler Nacht, sondern zünden uns unser eigenes Feuer an und finden unser Ergötzen an dessen Funken. So oder ähnlich ist unser Zustand, und der Tag wird es offenkundig machen. Der Tag steht bevor und der Tag wir unser Herz erproben und uns zu der Überzeugung bringen, daß wir uns mit Worten betrogen haben, daß wir Christus nicht gedient haben, wie der Erlöser unserer Seelen es verlangt, sondern in einem kargen, geteilten, weltlichen Dienst, ohne in Wirklichkeit auf Ihn zu schauen, der über der Welt steht und von ihr geschieden ist.

Jahr um Jahr gleitet lautlos dahin; Christi Ankunft nähert sich immer mehr. Daß wir uns doch, je näher Er der Erde kommt, um so mehr dem Him­mel näherten! Meine Brüder, bittet Ihn, euch ein Herz zu geben, das Ihn aufrichtig sucht. Bittet Ihn, daß Er euch Ernst verleihe. Ihr habt nur eines zu tun: euer Kreuz Ihm nachzutragen. Fasset den Vor­satz, es in Seiner Kraft zu tun. Fasset den Vorsatz, euch nicht mehr täuschen zu lassen durch „Schatten von Religion“, durch Worte, Redegefechte, Be­griffe, hochtrabende Beteuerungen, Entschuldigun­gen oder durch die Verheißungen oder Drohungen dieser Welt. Bittet Ihn, Er möge euch, wie die Schrift sagt, ein „ehrliches und gutes Herz“ oder ein „vollkommenes Herz“ geben, und beginnet un­verzüglich, Ihm aufs Wort zu gehorchen mit dem besten Herzen, das ihr habt. Der kleinste Gehorsam ist besser als keiner, – jedes Bekenntnis, das sich vom Gehorsam löst, ist nichts als Vorwand und Betrug. Jede Religion, die euch Gott nicht näher bringt, ist von der Welt. Ihr müßt Sein Antlitz suchen; der Gehorsam ist der einzige Weg, Ihn zu suchen. Alle eure Pflichterfüllung ist Gehorsam. Wenn ihr geoffenbarten Wahrheiten glauben sollt, euch durch Seine Gebote in Ordnung halten sollt, Seine Gnadenmittel fleißig ausnützen sollt, Seiner Kirche und Seinem Volke anhangen sollt: warum das? Weil Er es euch geheißen hat. Und tun, was Er sagt, heißt Ihm gehorchen, und Ihm gehorchen heißt sich Ihm nähern. Jeder Akt des Gehorsams ist eine Annäherung – eine Annäherung an Ihn, der nicht weit weg ist, auch wenn es so scheint, der vielmehr dicht hinter der sichtbaren Wand der Dinge ist, die Ihn uns verbirgt. Er wohnt hinter dieser stofflichen Hülle; Erde und Himmel sind nur wie ein Vorhang, der zwischen Ihm und uns zogen ist; es kommt der Tag, da Er den Vorhang zerreißt und Sich uns zeigt. Und dann wird Er uns belohnen entsprechend unserem Harren. Haben wir Ihn vergessen, dann wird Er uns nicht kennen. Aber „Selig jene Knechte, die der Herr wachend findet, wenn Er kommt… Er wird Sich gürten und sie Platz nehmen heißen und umhergehen, sie zu dienen. Und wenn Er in der zweiten Nachtwache kommt oder in der dritten und sie so findet, sind jene Knechte“ (Lk 12, 37. 38). Möge dies Anteil eines jeden von uns sein! Hart ist es, ihn zu erlangen; aber voll Weh, ihn zu verfehlen. Leben ist kurz; der Tod gewiß; aber die künftige Welt ist ewig.

aus: Deutsche Predigten IV, 22 – Schwabenverlag Stuttgart, 1952, pp. 356-371.